40
Aidan
Ich hatte eine knappe Stunde versucht, Trev zur Vernunft zu bringen, aber er wollte Addie nicht gehen lassen und ohne seine Zustimmung wollte meine Schwester nicht hier her kommen.
„Deine Prioritäten haben sich verschoben", hatte ich zu meiner Schwester gesagt, als Trev keine Lust mehr gehabt hatte, mit mir zu diskutieren.
„Nein. Trev ist nach wie vor der wichtigste Mensch in meinem Leben. Aber ich muss gleichzeitig auf zwei Menschenwesen aufpassen." Das verstand ich natürlich. Und mir war auch klar, dass sie, nach allem, was sie Trev angetan hatte, nun übermäßig auf das achtete, was er wollte. „Wenn es nur um mich ginge, hätte ich euch geholfen. Das weißt du."
Jetzt irrte ich wieder orientierungslos durchs Schloss, in der Hoffnung, etwas zu finden, das mir bekannt vorkam, damit ich zurück finden würde. Tatsächlich war es auch nicht sonderlich schwer, denn ich fand den Haupteingang und musste von dort aus nur in den zweiten Stock, zu Trish's Zimmer, um ihr zu sagen, dass sie Addie morgen eher nicht für Pyjamapartys herholen würde.
Doch als ich in ihren Flur einbog, kam es mir nicht allzu abwegig vor, Brikeena in demselben Zimmer vorzufinden.
Meine Vermutung bestätigte sich, als ich die -unverkennbaren und nicht gerade leisen- Stimmen vernehmen konnte. Doch als ich vor Trish's Türe zum Stehen kam, fiel mir auf, dass ich auch das laute Atmen und leise Schnarchen aus den anderen Zimmern hören konnte.
Na toll!
„Du hast deine eigene Mutter umgebracht?", fragte Brikeena schockiert.
Am liebsten wäre ich jetzt weggelaufen, aber ich wusste, dass ich die beiden im ganzen Schloss würde hören können. Dämliches, dämonisches Supergehör! Ich wollte bereits meine Faust heben, um anzuklopfen, doch gleichzeitig wollte ich dieses sensible Gespräch nicht unterbrechen. Trish sprach nie über ihre Mutter.
„Ja", sagte sie kleinlaut.
„Alle Achtung. Ich wünschte, ich hätte die Nerven, das durchzuziehen."
Bei näherer Betrachtung war Brikeena vielleicht doch nicht unbedingt die Person, mit der Trish darüber sprechen sollte.
„Meinst du das ernst?"
„Was glaubst du denn?"
„Dass dein Leben noch lange nicht mies genug war, um sowas zu sagen."
„Glaubst du, ja?" Brikeena klang nicht verärgert.
Gott, es ist so unmoralisch, die zwei zu belauschen. Klopf an!
Aber meine Faust hing reglos in der Luft.
„Jeder", begann Brikeena. „Den ich jemals geliebt habe, ist entweder gestorben oder wurde ermordet oder hat mich hintergangen. Und das ist Großteils meiner Mutter zuzuschreiben. Sie hat viele schlimme Dinge getan, Gingermädchen."
Das hatte sie bestimmt. Ich war mir sicher, dass mehr als die Hälfte dieser Familie Dreck am Stecken hatte. Aber Iona hatte vermutlich (buchstäblich) mehr Leichen im Keller als alle zusammen. Sie schien sehr viel Einfluss zu haben und mächtige Menschen waren nicht unschuldig.
„Ich würde dich nie hintergehen", murmelte Trish und meine Faust zog sich wie von selbst zurück.
Okay, stopp. Was zur Hölle hab ich verpasst?
„Nimm's mir nicht übel, Gingermädchen, aber das Wort einer Person, die ihre eigene Mutter umgebracht hat, ist nicht unbedingt sehr glaubwürdig", schmunzelte Brikeena.
„Das ist unfair. Meine Mom war nicht..."
„So umwerfend wie ich?"
Trish lachte. „Klar." Dann verstummte sie. „Ich würde dich wirklich nie hintergehen. Wir sind doch Freundinnen, oder nicht? Und ich betrüge meine Freunde nicht, niemals."
„Auch nicht, wenn dein eigenes Leben auf dem Spiel steht?" In mir zog sich alles zusammen.
„Nein, auch dann nicht."
Trish klang so ehrlich, dass es schon fast wehtat. Manchmal vergas ich, dass ich mich unfassbar glücklich schätzen konnte, so treue Freunde an meiner Seite zu haben.
Dazu zählte ich auch Trev, denn obwohl er vorhin ziemlich verletzende Dinge gesagt hatte, war ich mir nicht sicher, ob er mir zwangsläufig in den Rücken fiel, nur weil er Addie beschützen wollte. Es sollte doch auch in meinem Interesse liegen, meine kleine Schwester aus dieser Sache heraus zu halten, oder nicht?
„Ich hab Angst", sagte Brikeena plötzlich. „Wenn du das ernst meinst -und ich fürchte, das tust du-, dann habe ich Angst, dass dir etwas passiert."
„Es passiert immer etwas", gab Trish zurück. „Es kann nicht nichts passieren."
„Es ist nur... die loyalsten Menschen bekommen nie ihr Happy End, verstehst du? Sie kehren nicht unbeschadet aus dem Kampf zurück. Und ich habe es satt, dass Leute vor mir sterben." Mir war klar, dass ich jetzt bestimmt nicht mehr den gut erzogenen Jungen spielen und ihr Gespräch unterbrechen würde, um nicht weiter lauschen zu können.
„Die Leute werden immer vor dir sterben", meinte Trish. „Du bist unsterblich. Ich werde auch vor dir sterben."
„Nein. Nein, das wirst du nicht. Ich hab es dir schon mal gesagt, ich lass dich nicht vor mir sterben, Gingermädchen."
„Wovon redest du?"
Ja, wovon zum Teufel redest du?
Brikeena ging umher. „Wenn das alles vorbei ist, werde ich zu altern aufhören. Ich werde keinem mehr die Lebenszeit stehlen, um jung zu bleiben, und dann..." Sie lachte leise und seufzte theatralisch. „Dann werden wir zusammen alt und ich sterbe vor dir. Das heißt, vorausgesetzt, du gibst endlich zu, dass ich dein Herz höher schlagen lasse."
„Träum weiter." Ich konnte das Lächeln in ihren Worten hören.
Brikeena schwieg einen Augenblick lang. „Ich habe es satt, hinter Särgen nachzugehen."
Das glaubte ich ihr aufs Wort. Auch wenn sie nicht so aussah, war sie schon verdammt lange auf dieser Erde.
Es ist schrecklich, Menschen zu überleben, die man liebt.
„Wenn das alles vorbei ist, kann ich-"
„Wenn das alles vorbei ist, bin ich schon zehn Mal an Altersschwäche gestorben, denkst du nicht auch?", unterbrach Trish sie. „Berverly ist zwar meine beste Freundin, aber sogar ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so schnell auf einen Zauber kommt, der Cillian töten kann. Das heißt, ich werde fünfzig oder älter oder tot sein, wenn das alles vorbei ist."
„Gut, dann fange ich ab jetzt an zu altern." Sie klang bestimmt.
„Brikeena-"
„Ich meine es ernst, Gingermädchen. Seit Lowell's Tod hat mich keiner mehr so... glücklich gemacht. Wirklich, wenn ich dich ansehe, bin ich einfach glücklich und zufrieden. Und ich bin alt genug, um meine Gefühle einschätzen zu können. Du kannst es vielleicht noch nicht, aber, hey -wofür bin ich unsterblich? Ich kann warten. Ich habe Zeit." Trish schnaubte. „Wenn du eine Hexe wärst, dann würde ich mit dir die Ewigkeit bestreiten wollen, aber du bist keine, also muss ein normales Menschenleben mit dir lange genug sein."
Oh mein...
„Du meinst das wirklich ernst, oder?", hakte Trish überrascht nach.
„Du meintest doch, ich kann dich nicht anlügen, oder?"
Ich hätte mir gegen die Stirn hauen können.
Sie hatte es Brikeena erzählt! Sauer verdrehte ich die Augen. Wir hatten doch abgesprochen, es geheim zu halten, um einen Vorteil daraus ziehen zu können, verdammt!
„Warum nennst du mich eigentlich immer Gringermädchen?", fragte Trish dann.
„Weil Trish nicht passt."
„Das ist gemein."
„Hast du einen Zweitnamen?"
„Trish ist mein Zweitname. Patricia."
„Und wie heißt du wirklich?"
Trish sträubte sich, sonst hätte sie ohne zu zögern geantwortet. „Cayleen."
„Ha!", rief Brikeena und ich zuckte zusammen, weil ich glaubte, mein Trommelfell würde zerbersten. „Ich wusste es doch! Cay-leen." Sie sprach es aus, als wäre Trish's Name Honig auf ihrer Zunge. „Ein wunderschöner Name. Der passt zu dir! Deine Eltern wussten schon, was sie getan haben. Warum verwendest du ihn nie?"
„Ich hasse diesen Namen", murmelte Trish.
„Wieso?"
„Ich weiß nicht..." Sie seufzte. „Ich habe das Gefühl, er steht für all das, was in meinem Leben schief gelaufen ist, seit ich klein bin. Ich wollte einfach immer jemand anderes sein und dachte, wenn ich mich anders nenne, dann haben die Leute ein anderes Bild von mir."
Das Trish es weder in der Schule noch Zuhause jemals leicht gehabt hatte, wusste ich. Als Kind unter solchen Umständen jemand anderes sein zu wollen, war nur verständlich. Nur war mir nie klar gewesen, dass sie deshalb ihren Erstnamen so sehr verabscheute.
„Cayleen ist der Name eines scheinbar perfekten Mädchens, mit einem scheinbar perfekten Leben."
„Cayleen ist der Name eines wunderschönen, witzigen, intelligenten Mädchens", sagte Brikeena und ich konnte ihr Lächeln beinahe sehen.
„Cayleen ist auch der Name eines Mädchens, das an einen Dämon gebunden ist, dessen Vater ein Jäger ist und seine Familie deshalb verlassen hat, dessen Mutter alkoholkrank war und dessen Stiefväter aggressive, pädophile Schweinehunde waren. Cayleen ist der Name eines Mädchens, das seine Mutter umgebracht und seinen kleinen Bruder in dem Glauben zurückgelassen hat, entführt worden zu sein. Ich wollte nie Cayleen sein."
„Keiner ist, wer er sein möchte", meinte Brikeena. „Sonst wäre die Welt ein friedlicher Ort, oder nicht? Und wer weiß, vielleicht schaffe ich es ja, ein paar positive Empfindungen zu deinem richtigen Namen zu knüpfen. Cayleen."
Trish räusperte sich verlegen. „Bleiben wir doch lieber bei Gingermädchen."
„Okay", lachte Brikeena. Schweigen folgte. „Versprich mir, dass du nicht vor mir stirbst, Gingermädchen. Versprich es mir. Bitte."
Es war ziemlich selbstsüchtig, von Brikeena zu verlangen, dass Trish sie überleben sollte. Das hieß, dass Trish Brikeena's Tod miterleben würde. War das etwas, das man jemandem wünschte, den man liebte?
Ich würde für Beverly sterben, keine Frage, aber es war doch wohl ziemlich gemein, denjenigen dann mit gebrochenem Herzen und Schuldgefühlen zurückzulassen, oder nicht?
„Das kann ich nicht versprechen." Trish klang entschuldigend. „Wenn jemand meine Freunde mit einer Pistole bedrohen würde, wäre ich die erste, die sich davor wirft, um die Kugel abzufangen."
Brikeena sagte nichts mehr darauf.
Mir fehlten die Worte.
Ich mochte mein Supergehör irgendwie. Aber jetzt verstand ich, wie Addie sich gefühlt haben musste, als sie mich beim Sex mit Fabiana unwillkürlich belauscht hatte. Nur fühlte sich das hier viel schlimmer an.
Da hört man wirklich Dinge, die man nicht hören will.
Und vermutlich hätte ich auch jetzt nicht mehr anklopfen sollen, aber ich wusste nicht, wann genau die beiden vorgehabt hatten, aufzubrechen, und ich wollte nicht riskieren, sie morgen Früh in dem riesigen Schloss nicht zu erwischen. Ich wollte sie nicht unnötig durch die ganze Welt schicken.
Also klopfte ich zaghaft an.
Beide verstummten.
„Ja?", fragte Trish nach kurzem verwirrt.
„Ich bin's. Naja, das hast du sicher gemerkt, weil... Mephistopheles und so. Du merkst eigentlich immer, wenn jemand in deiner Nähe ist. Ich ja auch... Seit kurzem." Ich biss mir auf die Zunge, um nicht weiter zu reden.
„Was?", sie klang höchst verwirrt.
Mein Versuch, normal zu klingen, war nach hinten losgegangen. Aber ich war noch zu abgelenkt von den Dingen, die ich gehört hatte.
„Kann ich rein kommen, oder stör ich?"
„Äh... nein, du... Sekunde!"
Ich konnte hören, wie Trish die Türen ihres Kleiderschrankes öffnete und Brikeena reinstieß.
„Was soll das?", zischte diese.
„Shh!"
Fünf Sekunden später öffnete Trish die Türe.
„Ja?", fragte sie uns räusperte sich kurz. „Es ist mitten in der Nacht, ist was passiert?"
Ihre gingerroten Haare hatte sie in einem Pferdeschwanz zusammengebunden, aber einige Strähnen hatten sich gelöst. Sie sah total fertig aus und trug ihre ältesten Schlabberklamotten.
„Ich hab mit Trev gesprochen."
Sie verschränkte die Arme abwartend vor der Brust.
„Er will nicht, dass Addie geht."
„Und seit wann besitzt Trev sie wieder?", knurrte sie. „Seit wann ist sie wieder sein Eigentum? Seit wann nimmt er sich wieder das Recht heraus, ihr Dinge zu verbieten?!"
Innerlich seufzte ich. Dass Trish auf diese Neuigkeit gar nicht gut reagieren würde, war mir klar gewesen.
„Addie will nicht gehen, wenn er dagegen ist."
„Gott, dieser egoistische... Kotzbrocken", presste sie hervor und stampfte wütend in ihr Zimmer. Ich folgte ihr und schloss die Türe hinter mir. „Ich würde ihn am liebsten erwürgen!" Sie fuhr zu mir herum und ihr Pferdeschwanz flog durch die Luft. „Deren Beziehung ist doch lächerlich. Das wird nie funktionieren!", schimpfte sie, während ich versuchte, mein Supergehör irgendwie zu regulieren, damit mir ihre laute Stimme nicht die Ohren zerfetzte. Es fühlte sich an, wie eine kaputte Stereoanlage, die die Musik mal lauter, mal leiser stellte.
„Addie liebt ihn so sehr, dass sie immer alles für ihn tun würde, nicht wahr? Das kann doch nicht gesund sein! Und er kann sich nicht entscheiden, ob er denn nun für immer bei ihr bleiben will, oder nur bis zu ihrer nächsten dummen Entscheidung!"
Während Trish sich aufregte, versuchte ich krampfhaft, nicht zu dem Kleiderschrank hinüber zu sehen, in dem die arme Brikeena vermutlich gerade halb erstickte.
Die böse Seite von mir wollte wissen, was passieren würde, wenn ich mich weigern würde, zu gehen. Ich konnte Brikeena bereits Luft schnappend aus dem Kleiderschrank stolpern sehen, vielleicht mit einer Socke oder einem BH am Kopf, wie in einer billigen Sitcom. Aber ich wollte nicht so gemein sein und das Zimmer so schnell wie möglich wieder verlassen.
„Addie und Trev müssen das unter sich ausmachen", erklärte ich diplomatisch. „Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ihr morgen nicht nach Fresno müsst. Du und... Du und Brikeena." Ich konnte nicht verhindern, dass ein amüsierter Unterton in meinen Worten mitschwang. Die Schrankvorstellung ließ sich einfach nicht verdrängen.
Trish hielt in ihrem Marsch des Zorns inne und sah mich misstrauisch aus ihren taubengrauen Augen an. „Ja... danke. Aidan. Dann werden Brikeena und ich die Zeit anders nutzen."
„Da bin ich mir ganz sicher", kicherte ich und Trish riss die Augen auf und sog empört die Luft ein.
„Du... Du hast gelauscht! Du... anstandsloser... Wurm, hast gelauscht!"
„Hab ich nicht", lachte ich.
„Ich kann hören, dass du lügst!"
Die Schranktüre öffnete sie und Brikeena trat heraus. Ohne BH oder Socke am Kopf, aber im Gegensatz zu Trish waren ihre Haare ordentlich zusammengebunden und ihr Make-up war genauso dunkel und verführerisch angehaucht wie immer. „Diese Lächerlichkeit hätte ich mir also ersparen können?"
„Ja, aber ich bin froh, dass du es nicht getan hast", kicherte ich.
Sie stemmte die Hände in die Hüften und Trish warf ihr kopfschüttelnd einen ungläubigen Blick zu.
„Ich wollte ja gar nicht lauschen!", verteidigte ich mich. „Ich bin ein Halbdämon. Supergehör! Ich kann es noch nicht kontrollieren, es tut mir leid."
„Da bin ich sicher", erwiderte Brikeena sarkastisch und nickte übertrieben.
„Ich bin schon weg", meinte ich beschwichtigend. „Viel Spaß noch!"
„Aidan Campbell, das hat ein Nachspiel!", rief Trish wütend und griff nach einem Sofakissen.
„Ich freu mich drauf!", grinste ich, bevor ich die Türe hinter mir zuzog und das Kissen daran abprallte.
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