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Aidan

Beverly kam nicht zu unserem Tisch zurück, als das Gespräch zwischen ihr und Arthur beendet war. Stattdessen ging sie die Treppen nach oben, vermutlich, um sich wieder mal in ihrem Zimmer einzusperren. Oder vielleicht wollte sie sich umziehen, denn sie war immer noch pitschnass.

„Du solltest mit ihr reden." Trish nickte zu den Treppen.

„Sie will bestimmt nicht reden", sagte ich kopfschüttelnd.

„Versuch es. Bist du nicht neugierig, was sie erfahren hat?"

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus, fand aber, dass sie recht hatte, also stemmte ich mich hoch und folgte meiner Freundin. Vorsichtig klopfte ich an ihre Türe. Als sie keine Antwort gab, nahm ich mir das Recht, in ihr Zimmer zu gehen. Ich konnte mir nicht helfen, aber jeder Raum in diesem Hotel roch irgendwie muffig.

Beverly lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett, in trockenen Klamotten, und hatte die rechte Faust gegen die Stirn gepresst.

„Ich glaub nicht, dass ich das überlebe."

„Was meinst du?" Ich schloss die Türe wieder, und sie öffnete die Augen, um an die Decke starren zu können.

„Das alles. Ich hab das dumpfe Gefühl, dass ich dabei draufgehen werde." Ich blieb stehen, um abzuwägen, ob sie noch sauer auf mich war, oder ob die Umstände sie vergessen ließen, dass wir uns gestritten hatten. „Ich meine, ich hab schon immer gewusst, dass ich aus der ganzen Scheiße nicht lebend rauskommen werde. Das wusste ich schon, als ich in Modoc gelandet bin. Und damals hatte ich ja recht. Irgendwie. Ich hab's nicht lebend rausgeschafft."

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und ließ meinen Blick durch ihr recht leeres Zimmer schweifen. Ein Fenster, eine Kommode mit Spiegel und Stuhl und der Kleiderschrank. „Tja, wie würde Addie sagen? Das Leben ist eine harte Nuss, und bis jetzt hat es noch keiner überlebt."

Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und sie linste zu mir. „Mit dem Unterschied, dass die meisten Leute an Autounfällen, Gewehrschüssen oder Krebs sterben", erwiderte sie. „Ich werde wahrscheinlich bei einem Attentat auf mein Leben draufgehen. Oder bei einem fehlgeschlagenen Zauberspruch."

„Alles andere würde mich auch zutiefst enttäuschen." Ich gab mir größte Mühe, ernst auszusehen, aber es gelang mir nicht. Langsam bewegte ich mich auf ihr Bett zu. „Was hat der Typ denn gesagt?"

Gegen meine Erwartungen berichtete sie ausführlich, worüber sie geredet hatten und rückte damit alles in ein ganz anderes Licht. „Ich weiß nicht, ob ich Felicity oder Arthur vertrauen soll...", sagte sie schließlich und spielte an der Halskette herum, die meine Großmutter ihr geschenkt hatte.

„Scheiße!", entfuhr es mir, als es mir einfiel. Sie blinzelte mich verwirrt an. „Es ist der siebzehnte Januar", erläuterte ich. „Du hast Geburtstag."

Sie sah mich an, als hätte ich nichts Dümmeres von mir geben können. „Ich weiß."

Ich hätte mir eine runterhauen können. Ich hatte auf ihren Geburtstag vergessen. Ohne den Adleranhänger mit den Smaragdaugen, um Beverly's Hals hätte ich mich nie daran erinnert. Rose hatte ihr diesen Anhänger vor genau einem Jahr zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt.

Ich setzte mich neben ihr Bett und legte mein Kinn auf die Matratze. Sie rollte sich auf die Seite und unsere Nasenspitzen berührten sich beinahe.

„Happy Birthday", flüsterte ich.

„Halt die Klappe, ich hasse meinen Geburtstag." Ich musste lächeln. „Hilf mir lieber zu entscheiden, ob ich Felicity oder Arthur vertrauen soll."

„Was sagt dir dein Bauch?"

„Dass ich noch was essen sollte. Vorzugsweise einen Geburtstagskuchen." Wieder konnte ich ein kleines Lachen nicht unterdrücken.

„Ich dachte du magst deinen Geburtstag nicht."

„Aber ich mag Kuchen und Torte. Schokokuchen. Apfelkuchen. Erdbeertorte. Kokosnusscremetorte. Zitronentorte." Dann wurde sie wieder ernst. „Arthur hat mir in den letzten Minuten mehr gegeben, als Felicity in einem Jahr... Vielleicht sollte ich... doch auf ihn hören."

Es war waghalsig, aber das war alles, was wir taten.

„Du weißt, ich stehe hinter deinen Entscheidungen."

„Mir wäre lieber, wenn du das nicht tätest." Sie blinzelte mich an. „Ich will nicht dafür verantwortlich sein, wenn-"

„Ja, ich weiß, aber es ist meine Entscheidung, hinter deinen zu stehen. Also bist du nicht schuld, wenn irgendwas schief geht." Das sah sie eindeutig anders, aber das überraschte mich auch nicht. Sie sah sich als wandelnden Magneten für Unglück, und wenn ich ehrlich war, traf das sogar zu, denn mein Leben war irgendwie beschissen, seit ich sie kannte. Aber gleichzeitig war es um so vieles besser.

„Es tut mir leid", sagte sie schließlich. „Ich hab mich zu sehr drüber aufgeregt, dass Trish dir von der Panikattacke erzählt hat. Ich hab mich wie ein Kleinkind benommen. Ich weiß nicht, was..." Sie blickte an mir vorbei zum Fenster und wieder hatte ich das Gefühl, dass sie etwas bedrückte. Etwas anderes, als die offensichtlichen Dinge.

„Hey." Ich griff sanft nach ihrer Hand, und sie richtete ihren Blick wieder auf mich. „Wenn ich dich frage, was los ist, sagst du mir dann die Wahrheit?"

Einen Augenblick lang schwieg sie. „Es ist nichts... nur..." Zweifelnd sah sie mich an. „Was machen wir hier eigentlich?"

„Na, herausfinden, was wir hier eigentlich machen."

„Das ist dämlich."

„Dann ist es dämlich. Dann haben wir unseren Kindern später Mal was zu erzählen." Damit konnte ich ihr zumindest ein kleines Lächeln entlocken.

„Unseren Kindern?"

„Na klar. Willst du nicht auch so viele Kinder, wie deine richtige Mutter?"

Sie lachte. „Das schlag dir mal schön aus dem Strubbelköpfchen." Wieder wurde ihr Blick trüb. „Ich fühl mich so... ausgelaugt. Und dabei hat die ganze Hexensache noch gar nicht richtig angefangen."

„Das sind nur die Nachwirkungen der Grippe", behauptete ich, obwohl mir natürlich klar war, dass das bestimmt nicht der Fall war.

„Ich weiß nicht, ob ich das... kann." In ihren Augen lagen Sorge und Angst. Unsicherheit. „Ich glaube, alle erwarten, dass ich... was mache, was ich nicht machen kann. Ich glaube, sie stellen Erwartungen an mich, die ich nicht erfüllen kann."

„Wieso denkst du das?" Sie erzählte mir von ihrem vielleicht-aus-einem-Fiebertraum-vielleicht-aus-der-Realität entsprungenem Gespräch mit Iona. Davon, dass sie fürchtete, als Waffe eingesetzt zu werden und nicht zu funktionieren.

„Hast du Arthur gefragt, ob das stimmt?" Sie schüttelte den Kopf.

„Ich will-... Ich brauche noch ein bisschen Zeit. Wenn es so ist, dann will ich es nicht wissen, verstehst du?" Nein. Ich hätte es auf der Stelle wissen wollen, damit ich mich in einem Pappkarton hätte verstecken können.

Ich strich ihr sanft eine Strähne hinters Ohr und streichelte über ihre Wange. „Finden wir erst einmal heraus, was deine Rolle in dieser ganzen Hexengeschichte ist", sagte ich leise. „Du kannst dich jederzeit dagegen entscheiden, und dann fahren wir nach Hause. Okay?"

Sie nickte. „Okay."

~~ ~~

Ihre Wahl fiel auf Schottland und darauf, dem Fremden zu vertrauen, der behauptete, ihr Bruder zu sein. Ob ich diese Entscheidung guthieß? Hieß ich denn irgendetwas gut, was wir hier machten? Ich war einzig und allein hier, um sicher zu stellen, dass sie nicht umgebracht wurde. Oder sich selbst umbrachte. Weil ich sie nicht schon wieder verlieren wollte. Klar hätte ich lieber mit ihr am Strand gelegen und Margarita getrunken oder aus Kokosnüssen geschlürft. Rochen gefüttert und kitschige Herzchen in den nassen Sand gemalt, die von den Wellen wieder davon gespült worden wären. Und wenn es in ein paar Jahren immer noch gut gelaufen wäre, hätte ich ihr auf einem Steg bei Sonnenuntergang einen Antrag gemacht, weil ich genau wusste, dass ich sie mit einer so kitschigen Aktion geärgert hätte.

Aber ich glaubte, dass dieses Rätsel um sich und ihre Familie für immer an ihr nagen würde. Außerdem hatte ich die leise Vermutung, dass sie ohnehin nicht entkommen konnte. Ich meine... sie hatte sich umgebracht, und die Hexen hatten sie zurückgeholt. Wenn ich auch nur eine Sekunde geglaubt hätte, sie hätte einfach weglaufen können, dann wäre ich nicht mehr nur naiv, sondern schlicht und ergreifend dumm gewesen.

Und vermutlich war es genau dieser Gedanke, der ihr eine Scheißangst einjagte. Ihr wurde keine Wahl gelassen.

„Okay, ich fasse zusammen", beschloss Trish am Abend, als wir uns alle in Beverly's Zimmer befanden und die Lage diskutierten. Sie drehte ihre gingerroten Haare zusammen und befestigte sie mit einem Haargummi, das sie immer am Handgelenk trug. „Das Mädchen, wegen dem wir hier sind, weil du ihm vertraut hast, ist vielleicht gar nicht deine Schwester, und jetzt hat sich unser Kurs geändert, und wir hören auf einen Kerl, der behauptet dein Bruder zu sein."

Beverly seufzte und ließ sich auf den Rücken fallen. „Egal, wie wir es drehen, es fühlt sich verkehrt an. Was meint ihr dazu?"

„Ich würde bei dem alten Plan bleiben", meinte Chase vom Fenster aus. Draußen hatte es wieder zu regnen begonnen und die Tropen klatschten schwer gegen die Scheibe. „Felicity ist zwar verlogen, aber sie ist deine Schwester. Das hat Iona damals bestätigt, als sie dich zurückgeholt hat."

„Gut, aber sie hat auch gesagt, dass nur drei meiner Geschwister von mir wissen", warf Beverly ein. „Sofern mich meine Fieberträume nicht verarscht haben. Und wenn Arthur bei dem Transferzauber mit von der Partie war-"

Wenn er die Wahrheit sagt", erinnerte Chase. „Ich trau ihm nicht."

„Das sagst du nur, weil er deine Drohungen als niedlich abgestempelt hat", meinte Trish, die im Schneidersitz auf dem Teppich saß.

„Mag schon sein, aber wie kannst du einem Fremden mehr trauen, als einem Mädchen, von dem ich bestätigen kann, dass sie Bevy's Schwester ist?"

„Tu ich nicht", lenkte Trish ein. „Aber warum sollte Arthur behaupten, Bev's Bruder zu sein, ohne zu wissen, welche Geschwister sie hat? Ihm muss doch bewusst gewesen sein, dass er damit sofort auffliegt..."

„Naja...", begann Chase. „Um fair zu sein, Iona hat nie gesagt, dass Felicity ihre Tochter ist, sondern, dass das kleine, schwarzhaarige Mädchen ihre Tochter ist."

„Und?", fragte ich irritiert, und auch Beverly setzte sich auf, weil sie nicht verstand, worauf er hinaus wollte. Er sah uns nach einander ungläubig an.

„Leute, seid ihr mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen?" Er zog die Augenbrauen zusammen. „Habt ihr euch mal die Namen von Iona's Kindern angesehen? Fast alle ausnahmslos irischer oder schottischer Abstammung und ganz bestimmt nicht neuzeitig. Felicity ist sicher wesentlich älter, als wir denken. Sie hat bestimmt ihren Namen geändert, als sie nach Modoc kam, damit nicht gleich jeder weiß, dass sie eine Brooklynn ist."

„Die sind alle so gerissen", meinte Beverly und kniff die Augen zusammen. „Das finde ich unfair. Ich komme mir so dumm vor."

„Du bist auch dumm, mein Schatz", erwiderte Chase. „Und weißt du, woher ich das weiß? Weil du trotz aller Argumente, die dagegen sprechen, Arthur zu vertrauen, mit ihm nach Schottland willst, hab ich recht?"

Beverly antwortete nicht, was Antwort genug war. Daraufhin schüttelte Chase den Kopf. „Muss ich es erst buchstabieren? Felicity wusste von Anfang an, wer du bist. Sie hat sich absichtlich nach Modoc bringen lassen, um dich zu finden."

„Und warum?", hakte Trish nach und drehte sich zu Chase. „Woher willst du wissen, dass ihre Absichten gut waren?"

„Weil sie Beverly nicht umgebracht hat?", gab er zurück, als sei es offensichtlich. War es auch irgendwie.

„Du bist freiwillig hier", knurrte Beverly und funkelte Chase böse an. „Ich hab dich nicht gezwungen, keinen von euch. Wenn dir meine Entscheidung nicht passt, kannst du gerne jederzeit gehen."

„Darum geht es nicht", erwiderte er und versuchte seine Strategie zu ändern. „Lassen wir die Felicity-Sache mal außen vor. In Irland ist deine Mutter. Sie kann dich beschützen. Wir haben keine Ahnung, wer oder was uns in Schottland erwartet. Und -nimm das nicht persönlich- aber momentan bist du die miserabelste Hexe aller Zeiten. Sprich: Selbstverteidigung ist eher weniger drin."

„Kannst du deinen widerlichen Sarkasmus mal sein lassen?"

„Ich bin nicht sarkastisch, ich meine es absolut ernst. Stell dir vor, Arthur ist nicht auf deiner Seite und führt dich schnurstracks zu Cillian. Dann bist du schneller tot, als du Scheiße, Chase, du hattest recht sagen kannst."

„Okay, stopp!", ging Trish dazwischen, bevor die beiden sich wieder in die Haare kriegen konnten. „Wir kommen hier nicht weiter. Und es ist immer noch Bev's Entscheidung."

Chase lachte auf. „Toll, also werden wir alle drauf gehen."

Konstruktive Kritik, Chase", erinnerte Trish und sah ihn wie ein Kleinkind mahnend an. „Nicht destruktiv."

„Das war konstruktiv", murrte er.

„Wir sollten eine Nacht drüber schlafen", ging nun ich dazwischen, bevor die zwei auch noch zu streiten beginnen konnten. Momentan waren wir alle ein bisschen gereizt, wegen der neuen und alten Umstände. Das war nicht die beste Voraussetzung für eine kluge Entscheidung.

Trish rappelte sich vom Boden auf und verließ mit Chase das Zimmer. Als ich mich ebenfalls auf den Weg machen wollte, schlossen sich Beverly's Finger um mein Handgelenk.

„Glaubst du, wir kriegen das hin?", fragte sie.

„Was?"

„Das. Alles." Ihre braunen Augen erwarteten ein paar aufbauende Worte.

Nie hätte ich ihr Dinge versprochen, von denen ich sicher war, sie nicht einhalten zu können. Und ich war auch niemand, der Dinge schön redete. Ich hätte ihr nicht gesagt, dass ich glaubte, dass am Ende alles gut werden würde, so wie Addie es getan hätte. Also drehte ich mich zu ihr, nahm ihr Gesicht in meine Hände und küsste sie.

„Du solltest schlafen", flüsterte ich, und sie drückte ihre Stirn gegen meine. Dann schlüpfte sie unter die Decke und ich schaltete das Licht aus, als ich den Raum verließ.

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