39

Beverly

Ich fragte mich wirklich, wie Trish daran glauben konnte, dass Gott uns nie mehr gab, als wir ertragen konnten.

Ich fragte mich, ob da oben überhaupt jemand war.

Ob jemand auf mich herunter sah, den Kopf schüttelte und sich wünschte, mir ein stärkeres Rückgrat gegeben zu haben.

Gott hatte einen Fehler gemacht, ganz einfach. Soll vorkommen. Er hätte dieses beschissene Leben jemandem geben sollen, der damit auch umgehen konnte.

Wahrscheinlich hatte Gott ein riesiges Glücksrad in seiner weißen Halle stehen und drehte es für jeden Menschen ein paar Mal.

Hochzeit, Schulabschluss, Haustier, Kinder...

Bei mir war das Rad bei Entführung, an-Dämon-gebunden, stirbt-ach-nein-doch-nicht und muss-Hexenfamilie-und-Freunde-nach-Wiederauferstehung-vor-bösem-Phönix-Zauberer-beschützen stehen geblieben. Und auf Katze. Auf Katze war das Rad auch stehen geblieben.

Ich wollte mich wirklich nicht selbst bemitleiden, aber meine Frustrationsgrenze war erreicht.

Ich konnte nicht zaubern.

Ich wusste nicht, wer mich angegriffen hatte.

Ich wusste nicht, wer auf meiner Seite stand und wem ich vertrauen konnte.

Ich wusste nicht, wer mir gefährlich werden würde.

Ich wusste nicht, wie ich Addie's Vision aufhalten sollte.

Ich wusste nicht, wie ich aus dieser ganzen Sache herauskommen sollte. Lebend. Was ich, je länger ich darüber nachdachte, vermutlich auch nicht schaffen würde.

Ich saß irgendwo im Ostflügel des Schlosses auf den Wendeltreppen in einem kleinen Türmchen und starrte aus dem Fenster. Es war eine klare Nacht. Die Sterne bedeckten den schwarzen Himmel wie tausende kleine Edelsteinchen. Der Mond schien hell und warf meinen Schatten auf die Steinstufen. In der Ferne konnte ich das Meer glitzern sehen. Die Kälte kroch mir die Wirbelsäule hoch, aber ich wollte nicht zurück in mein Zimmer. Wie hätte ich bei allem, was los war, schlafen sollen?

„Du bist wohl auch eine Nachteule."

Ich fuhr erschrocken herum und sprang auf, bereit mich zu verteidigen. Mit... meinen Händen, schätze ich, denn eine Waffe hatte ich nicht bei mir.

Ich konnte nicht erkennen, wer der Mann war, der sich im Schatten von oben an mich herangeschlichen hatte, aber als er ans Fenster trat, erhellte der Mond sein Gesicht.

„Du hast mich zu Tode erschreckt!", fauchte ich Lorcan an.

„Entschuldige", grinste er und schwang sich die restlichen Treppen zu mir herunter. „Kannst du nicht schlafen?"

„Wie sollte ich?"

„Du weißt nicht wie das geht?" Er zog die Augenbrauen zusammen. „Also, ich lege mich meistens auf die Couch oder mein Bett, schließe meine Augen und dann-"

„Du bist ein Klugscheißer."

Er lachte. „Liegt in der Familie. Noch nicht bemerkt?"

Ich ließ mich wieder auf die eiskalten Treppen fallen und lehnte meinen Kopf gegen den rauen Stein, während ich die gelben Lichter zu zählen begann, die am Hafen in der Dunkelheit brannten. Lorcan ließ sich neben mir nieder.

„Was ist los?"

„Was soll los sein?"

„Ich kenne dich nicht, aber ich hab von meinen Geschwistern gehört, dass du dich nicht unbedingt gut an die neue Situation anpasst."

„Lass mich raten: Das hast du von Corona und Arthur gehört. Oder Finley. Oder dem Mädchen mit der Narbe über der Augenbraue."

„Ivera."

„Oder Canna zum Beispiel. Oder Erin."

„Also, um genau zu sein, hab ich es von Brikeena gehört", gab er zu. „Und von Arlen."

Ich zog schnaufend die Knie an und legte mein Kinn darauf.

„Ich krieg das alles einfach nicht auf die Reihe."

„Dann lass dir doch helfen." Er klang vollkommen ernst. Ich drehte den Kopf und sah ihn wütend an.

„Von wem denn? Mir kann keiner helfen. Ich muss alles selber lernen und einen Zauberspruch schreiben, der einen Phönix-Hexer umbringt. Und während ich es sage, fällt mir auf, wie bescheuert das alles ist." Kopfschüttelnd wandte ich wieder den Blick ab.

„Ich hab gehört, dass du dir nicht unbedingt helfen lassen willst. Und bevor du fragst: Ja. Das hab ich von Corona."

„Von ihr will ich mir auch nicht helfen lassen!"

„Immer langsam", meinte er. „Zaubern lernen geht nicht von heute auf morgen. Manche haben den Dreh schneller raus, manche brauchen eben länger. Nimm Erin als Beispiel. Er hat, bis er neunzehn war, keinen einzigen Zauber wirken können. Wir dachten schon, er wäre ein ganz normaler Mensch."

„Wirklich?" Ich war überrascht. Eigentlich hatte ich gedacht, dass alle Hexen und Zauberer das mit der Magie schon als Baby's drauf hatten.

„Ja, und sieh ihn dir heute an. Er ist wirklich gut bei Transferzaubern und frisst wie ein Scheunendrescher." Ich musste lachen und Lorcan lächelte. „Hast du das mit dem Zaubern schon jemals wirklich versucht?"

Ich musste den Kopf schütteln. „Nicht wirklich. Ich hab aber viel darüber gelesen."

„Theorie und Praxis sind zwei Paar Schuhe."

„Mir sind beide zu groß. Ich hab mal versucht, Gegenstände zu bewegen. Hat nicht geklappt."

Er seufzte tief. „Vielleicht bist du zu unausgeglichen."

„Oh Gott, du klingst wie Acacia."

Er lachte und beugte sich zu mir. „Hat sie dir auch eingeredet, dass du das Balancieren von Steinen ausprobieren sollst?"

„Dir auch?"

„Andauernd! Ich hab es einmal mit ihr zusammen vor Jahrzehnten versucht, aber meine Steintürme sind immer zusammengebrochen und ich hab nicht die Geduld, die sie hat. Aber gut, wer es schafft, so lange mit Arthur zusammen zu sein, muss eine verdammt lange Zündschnur haben."

Lachend nickte ich und mochte das Gefühl, verstanden zu werden. Außerdem mochte ich seine lockere Art. Lorcan gab mir weder das Gefühl, ein unerwünschtes Insekt zu sein, noch, dass das Schicksal aller Zauberer und Hexen auf meinen Schultern lastete.

„Aber sie hat nicht unrecht", fuhr er dann fort. „Wer ausgeglichen ist, zaubert am besten." Er zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. „Vielleicht ist sie deshalb so verdammt talentiert."

„Also, was? Soll ich in den Wald gehen und ein paar Steine aufeinander stapelt, um meine innere Ruhe zu finden? Damit ich zaubern kann?" Meiner inneren Ruhe würde ich höchstens dann ein Stückchen näher kommen, wenn ich Corona den Schädel mit einem Stein hätte einschlagen können.

Er schüttelte lachend den Kopf. „Nein, so meinte ich das nicht. Aber starke Gefühle, wie Angst, Trauer, Stress, nicht verarbeitete Ereignisse, das alles kann eine Hexe oder einen Zauberer vom Hexen abhalten. Es ist wie eine Wand, die unterbewusst verhindert, dass alle Energien in deinem Körper fließen können."

„Oh Gott", murmelte ich. „Fang jetzt bloß nicht mit Chakren an."

„Werd ich nicht, aber du verstehst, worauf ich hinaus will?"

„Ja, sowas ähnliches hat Brikeena auch mal gesagt", erinnerte ich mich. „Sie hat gesagt, dass Canna starke Gefühle beim Zaubern helfen. Brikeena blockieren sie."

Lorcan nickte. „Ja, Canna verwendet Emotionsmagie. Aber du bestimmt nicht. Du verwendest wahrscheinlich eher rationale Magie. Oder Imaginationsmagie für die ersten Schritte. Dabei können Gefühle ganz schön im Weg stehen."

Es war einleuchtend und würde erklären, warum ich in den letzten Wochen noch keinen einzigen Zauber zustande gebracht hatte.

Ich hatte Angst.

Ich war gestresst.

Und von meiner unverarbeiteten Vergangenheit will ich gar nicht erst anfangen.

Ich werde nie zaubern.

Lorcan stieß mich mit der Schulter an. „Rede doch mal mit jemandem drüber. Das hilft oft schon. Egal, was es ist, irgendwo kommt die Blockade sicher her, sonst hättest du es längst geschafft, einen Zauber zu wirken. Deine Magie ist zu stark, um schwach zu sein."

„Wie poetisch", zog ich ihn auf, aber er blieb ernst.

„Du steckst nicht alleine in dieser Sache, Beverly." Pluspunkt! „Das magst du vielleicht denken, aber so ist es nicht. Wir brauchen dich, ja. Du bist ein wesentlicher Teil unseres Plans, Cillian loszuwerden. Aber das heißt nicht, dass du den Plan alleine durchziehen musst."

Ich blinzelte ihn an. „Das ist wahrscheinlich das erste Mal, dass mir jemand nicht das Gefühl gibt, dass das Schicksal des Universums auf meinen Schultern ruht."

Er lächelte. „Eins nach dem anderen. Du lernst erst einmal, wie du auf deine Magie zugreifen kannst. Dann lernst du die grundliegenden Zauber und wenn du das hinkriegst, dann kommt alles andere." Ich schluckte, denn das alles andere machte mir Angst. „Keiner erwartet von dir, dass du in einem Jahr einen Zauber parat hast, der Cillian umbringt."

„Kommt mir aber so vor."

„Sie sind nur aufgeregt. Dadurch, dass du auf der Bildfläche erschienen bist, sind wir unserem Ziel ein gewaltiges Stück näher. Keiner kann es abwarten, bis du die ersten Fortschritte machst."

„Ich kann es auch nicht abwarten, glaub mir", murmelte ich.

„Hör zu, ich kann dir nur anbieten, ein paar Zauber mit mir zu üben. Ich kann dir Techniken beibringen, wenn es so weit ist. Wenn du das möchtest."

Ich zögerte. „Nimm's mir nicht übel, aber nach dem, was auf Finley's Hochzeit passiert ist, bin ich ganz gerne Einzelgängerin."

Er nickte verstehend. „Ja, ich war dabei, als Finley die glorreiche Idee hatte, alle mit Canna's Vermutung, dass einer von uns dich angegriffen hat, in Angst und Schrecken zu versetzen."

„Denkst du nicht, dass es jemand war, der bereits im Schloss war?"

Er zuckte mit den Schultern und blickte nachdenklich auf seinen Schatten. „Weißt du, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass einer von uns so etwas getan haben soll... Sie sind meine Brüder und Schwestern, ich kann einfach nicht... Ich kann niemanden verdächtigen oder jemandem unterstellen, auf Cillian's Seite zu stehen. Das liegt abseits meiner Vorstellungskraft."

„Okay, aber kein Angestellter hat am Labyrinthlauf mitgemacht und die anderen Gäste haben laut Finley-"

„Ihr Blut in den Chailis tropfen lassen, der böse Absichten enttarnt hätte, jaja, mit der Theorie ist sie mir auch schon auf die Nerven gegangen, aber sie hat einen entscheidenden Punkt ausgelassen."

„Ach ja?"

„Was, wenn der Angreifer gar nicht wusste, dass du existierst, bevor er dich gesehen hat? Du bist doch erst recht spät zu der Feier gestoßen. Wenn jemand deine Magiespur gesehen hat, als er bereits durch den Prozess gegangen ist-"

„Corona hat meine Magiespur abgedeckt."

„Gut, aber ein unbekanntes Gesicht macht alle misstrauisch, oder nicht? Ich, für meinen Teil, wurde mehrmals gefragt, ob ich dich kenne." Erschrocken setzte ich mich auf.

„Was hast du geantwortet?"

„Dass ich dich noch nie gesehen habe. Ich bin davon ausgegangen, dass unsere Mutter dir einen anderen Namen aufgedrückt hat, ich wusste nur nicht, welchen."

„Iona?", verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. „Warum sie?"

Er sah mich irritiert an. „Sie wollte, dass du bei der Hochzeit dabei bist. Wusstest du das nicht?"

Ich schüttelte den Kopf. Das hatte sie mir verschwiegen. Ich fragte mich, warum Corona mir das nicht gesagt hatte.

„Okay, also..." Ich schloss die Augen für einen Moment. „Ich will dir deine Illusionen ja nicht nehmen, aber keiner, den ich kenne, würde bei einem unbekannten Gesicht, auf einer Hochzeit mit über fünfhundert Hexen und Zauberer, darauf kommen, dass sich dahinter eine Schreiberin verbirgt, die ihr Leben lang geheim gehalten wurde." Entschuldigend sah ich Lorcan an, als ich seine Hoffnungen zerschlug, dass es eben nicht seine Geschwister gewesen sein konnten. Aber genau danach sah es aus. „Ich bin sicher, dass -wer auch immer mich angegriffen hat- ganz genau wusste, wer ich war."

Lorcan wandte den Blick ab. „Ich kann es mir dennoch nicht vorstellen."

Ich fühlte mich schlecht. Einfach, weil Lorcan hier saß und versucht hatte, mich aufzubauen und mir Mut zu machen. Was hatte ich ihm zurückgegeben? Die Sicherheit, dass einer seiner Geschwister versucht hatte, mich umzubringen, weil er oder sie auf Cillian's Seite stand.

„Was für ein Dämon?", fragte ich daher zusammenhangslos. Er sah wieder auf. „An was für einen Dämon warst du gebunden?"

„Alocer."

„Das sagt mir tatsächlich nichts."

„Er hat mich die Vergangenheit sehen lassen."

„So wie Brikeena's Dämon?"

„Nicht ganz", erwiderte er und ich war froh, ihn wieder auf andere Gedanken gebracht zu haben. „Brikeena's Dämon hat sie Fährten lesen lassen. Sie konnte sehen, was eine Person wo und wann getan hat."

„Wie kann sowas ein Fluch sein?"

Er zuckte mit den Schultern. „Würdest du gerne immer und überall wissen, was Leute getan haben? Was sie gesagt haben? Vielleicht über dich?"

Langsam schüttelte ich den Kopf. „Mein Dämon hat mich die Gedanken von Menschen lesen lassen. Das reicht mir." Addie schoss mir in den Kopf. „Ich kenne trotzdem schlimmere Gaben. Der Dämon einer Freundin von mir lässt sie die Tode von Menschen vorhersehen."

Lorcan atmete überrascht auf. „Dann ist ihr Dämon der Zwilling meines Dämons."

„Wie bitte?" Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. Ich hatte schon einmal davon gehört, dass sich manche Dämonenseelen in der Hölle so lange ineinander verwoben, bis sie praktisch Zwillinge waren. Aber was es genau damit auf sich hatte, hatte ich vergessen.

„Naja, Dämonenzwillinge können gespiegelte Gaben verschenken. Gegenteilige Gaben."

Ich nickte langsam. „Also konnte dein Dämon... den Tod von... bereits verstorbenen Personen sehen?"

Er nickte. „Überall. An jedem Ort konnte ich sehen, wer gestorben ist. Meine Gabe hat sich eingeschaltet, sobald ich an einen neuen Ort gelangt bin. Das war der Grund, warum ich mich irgendwann von Alocer getrennt habe. Ich wollte nicht ständig die grausamsten Tode mitansehen, die ich nicht verhindern konnte. Ich konnte nicht eingreifen, denn es war schon passiert." Er atmete tief ein. „Man fühlt sich schnell machtlos."

„Konntest du das nicht kontrollieren?", fragte ich mitfühlend. Lorcan schüttelte den Kopf.

„Ich habe Menschen sterben sehen, die... die mir sehr nahe standen." Mir wurde schlecht. „Das mitanzusehen, ohne etwas tun zu können... für mich gibt es kein schlimmeres Gefühl. Ich hätte lieber die Gabe deiner Freundin gehabt. Dann hätte ich zumindest die Chance gehabt, es zu verhindern."

„Addie hätte bestimmt auch lieber deine Gabe..."

Er lächelte traurig. „Dämonen wissen eben ganz genau, wen sie durch ihr Folterkabinett schicken können." Ja, das wussten sie. Allerdings.

Ich hatte mich nie sonderlich mit Dämonenbeschwörungen auseinandersetzen müssen -Dentalion war ja schon da gewesen. Aber ich erinnerte mich dunkel daran, dass Rose einmal erzählt hatte, dass Dämonen jenen Menschen, denen sie antworteten, untergeben waren. Zumindest solange, bis der Besitzer den Dämon freigab oder verstarb.

In seltenen Fällen, waren Dämonen stark genug, um sich von ihren Besitzern zu lösen und an einen anderen Menschen zu binden (sofern sie alleine auf der Erde umherschwirren konnten).

Doch solange waren sie für gewöhnlich gehorsam und folgten dem Menschen. Eine riskante Angelegenheit, mit Dämonen zu arbeiten, denn es gab Dämonen, die ihre Besitzer umgebracht, um sich frei auf der Erde von Mensch zu Mensch bewegen zu können. Das passierte nicht oft, aber ich hatte davon gehört.

Und plötzlich fügte sich das Puzzle vor meinen Augen wie von selbst zusammen.

Iona hatte deshalb gemeint, Dentalion zu meinem Schutz auf mich angesetzt zu haben, weil sie geglaubt hatte, ihn kontrollieren zu können. Sie hatte nicht damit rechnen können, dass Dentalion keine Lust mehr haben würde, mich zu schützen, sobald er mich gefunden hatte, sondern sich an mich binden würde. Weil ich so jung und unschuldig gewesen war und man mich prima hatte zerstören können.

Seine Gabe hatte perfekt zu mir gepasst.

Hätte ein anderer Dämon auf Iona's Ruf geantwortet, wäre ihr Plan nicht nach hinten losgegangen. Der Dämon hätte auf sie gehört und mir wäre einiges erspart geblieben.

„Ich werde jetzt schlafen gehen." Lorcan stemmte sich von der Treppe hoch und riss mich aus meinen Gedanken. „Es ist schon nach zwölf. Wenn du weiter auf den kalten Treppen sitzen bleibst, dann holst du dir eine Blasenentzündung."

Ich lächelte müde. „Eine Blasenentzündung... das klingt so..."

„Unangenehm?", bot er grinsend an.

Ich schüttelte den Kopf. „Normal. Es klingt nach einem menschlichen, normalen Problem."

Er betrachtete mich. „Soll das heißen, du bleibst hier sitzen?"

Ich überlegte, ob ich etwas darauf sagen sollte, aber dann fand ich, dass es Antwort genug sein musste, dass ich meinen Kopf wieder gegen die Steinmauer legte und aus dem Fenster sah.

Ich war eine Masochistin. Eindeutig.

~~ ~~

Und eine Idiotin. Eine absolute Idiotin. Falls das nicht schon lange klar war.

Sonst wäre ich nicht knappe dreißig Minuten später auf dem Weg zu Chase' Zimmer gewesen.

Ich hatte den Entschluss gefasst, ihm etwas erzählen, das ich noch nie irgendjemandem erzählt hatte. Etwas, das mir im Kopf herumschwirrte, seit ich mich wieder daran erinnern konnte. Seit ich davon geträumt hatte. Nur hatte ich es wieder un wieder von mir weggedrückt.

Vielleicht hatte Lorcan recht.

Vielleicht war genau das mein Problem.

Nur mit Trish wollte ich nicht darüber reden und mit Aidan konnte ich nicht darüber reden.

Also klopfte ich an Chase' Türe. Nach ein paar Sekunden öffnete ein Mädchen sie. Es war das Mädchen vom gestrigen Mittagessen... Savinah?

Sie trug jedenfalls nur ein langes, graues Shirt, das der Größe nach zu urteilen Chase gehörte. Ihre Ohren wurden rot und sie zog den Stoff noch weiter über die Beine, obwohl er ohnehin schon alles bedeckt war, was ich nicht sehen wollte. Sie drehte sich um.

„Maeve", ließ sie Chase wissen und ich gab mir gar nicht die Mühe, sie zu korrigieren.

Ich war überrascht, als Chase es tat.

„Beverly." Dann stöhnte er genervt auf und die Bettdecke raschelte. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass mir seit langem nichts Unangenehmeres passiert war. Sogar in einem Zauberlabyrinth abgestochen zu werden, war weniger nervaufreibend.

Aber es war nachts und das war die einzige Zeit, in der ich schlechte, unangenehme Pläne tatsächlich in die Tat umsetzte. Würde ich heute nicht mit Chase reden, würde ich es nie tun.

Chase erschien ohne Shirt im Türrahmen und Savinah drückte sich verhalten an ihm vorbei und verschwand bestimmt wieder unter seinen Bettdecken.

„Musst du mir wirklich alles kaputt machen?", knurrte er.

Gut, das war's mit dem Plan.

In jeder anderen Situation hätte ich meine Schwester vermutlich rausgeschmissen und mit Chase geredet. Aber eben bei diesem sensiblen Thema, das ich ansprechen wollte, fuhr mir jegliche Abweisung unter die Haut wie Nadeln.

Die Tatsache, dass ich ihm eben mitten in der Nacht etwas so intimes erzählen wollte, und er so desinteressiert und wütend über mein Auftauchen reagierte, verletzte mich. Auch, wenn er natürlich nicht wissen konnte, worüber ich mit ihm reden wollte.

Ich entfernte mich zwei Schritte von der Türe. „Entschuldige...", murmelte ich verlegen, was Chase augenscheinlich mehr als überraschte, denn er sah nicht mehr wütend aus, sondern musterte mich besorgt. „Ich dachte... Ich dachte, du wärst allein..." Was rückblickend ein sehr naiver Gedanke war. Chase war nie alleine.

Ich schlug den Blick nieder, drehte mich um und wollte weggehen.

„Bevy, warte!" Ich blieb stehen. Er sah mich unentschlossen an. Dann verschwand er in seinem Zimmer.

„Du musst gehen."

Eine kurze Pause folgte und ich näherte mich seinem Raum wieder. „Du schmeißt mich raus?", fragte Savinah verwirrt.

„Ja, das hier... ist wichtig. Sorry."

Chase stellt dich über Sex. Jetzt musst du es ihm erzählen. Keine Ausreden mehr!

Während ich draußen wartete, dass sie sich anzog, wappnete ich mich auf Todesblicke von Savinah, die sie mir auch zu Genüge zuwarf, als sie Chase' Zimmer verließ.

Wir würden nie Freundinnen werden.

Chase winkte mich herein.

„Das hättest du nicht machen müssen", sagte ich, vergrub meine Fäuste in den Taschen meiner Weste und blieb noch einen Augenblick am Flur stehen.

„Jaja, ich bin ein Engelchen, was auch immer. Komm jetzt rein, bevor ich es mir anders überlege."

„Ist denn keiner von denen verheiratet oder hat einen Freund?", fragte ich, während ich Chase' Zimmer betrat und er die Türe hinter mir schloss.

„Doch schon, nur das interessiert die meisten nicht. Viele sind nur wegen der... Allianzen, Vorteile, was auch immer, verheiratet. Du weißt schon. Ihre Männer haben andere Sachen zu tun und sind fast nie da, also wollen sie-" Er unterbrach sich selbst, als er meinen ungläubigen Blick bemerkte. Dann begann er zu grinsen. „Aufmerksamkeit. Ich bin ein Held, Bevy."

„Da bin ich sicher."

„Also, was gibt's?"

„Können wir reden?"

„Naja, ich bin nicht davon ausgegangen, dass du mit mir schläfst, also..." Auf seiner Kommode standen einige Karaffen und Flaschen mit Alkohol, die er bestimmt wegen Savinah besorgt hatte -woher auch immer. Vielleicht hatte sie den Alkohol besorgt. „Das mit dem Sex hab ich für heute Abend abgehakt. Also, ja, reden wir. Worüber? Dein miserables Leben?"

„Meine Entführung."

Chase wollte mir eben ein Glas Alkohol einschenken, hielt aber mitten in der Bewegung inne und starrte mich an. Ich zuckte mit den Schultern und warf ihm einen gleichgültigen Blick zu, obwohl mir heiß und kalt gleichzeitig wurde.

„Kommt also auf dasselbe raus."

„Ist das dein Ernst?"

Ich nickte. Er stellte die Karaffe zurück, ohne etwas ins Glas gegossen zu haben und kam irritiert auf mich zu. „Und warum willst du mit mir darüber reden?"

Ich grub meinen Daumennagel in die Kuppe meines Zeigefingers. „Weil ich nicht weiß, mit wem ich sonst darüber reden soll... weil... ich denke, dass du es verstehen wirst."

Er zog eine Augenbraue hoch. „Ach ja?"

„Ja." Ich holte Luft. „Du hast nämlich dasselbe getan."

Er sah mich unsicher an, ging zurück zu seiner Minibar und goss nun doch zwei Gläser ein. „Okay. Schieß los!"

Ich ging zu ihm, nahm ihm ein Glas aus der Hand und trank die Hälfte herunter. Chase sah mich halb überrascht, halb beeindruckt an. Das Getränk brannte wie Feuer und breitete sich in meinen Brustkorb und Magen aus.

Ich stellte das Glas weg, warf mich auf sein Bett und Chase setzte sich mit ausgestreckten Beinen und seinem Glas neben mich.

Mir stieg die Hitze ins Gesicht. Panik und Aufregung schossen mir in die Gliedmaßen.

Will ich ihm wirklich davon erzählen?

Ja, ich muss.

Aber wie wird er reagieren?

Ich knetete meine Hände, starrte an die Decke und schwieg. Chase sagte auch nichts, sondern wartete, bis ich bereit war, zu reden. Die Gedanken formten sich bereits zu Worten und diese Worte zu Sätzen, die ausgesprochen werden wollten.

Er wird mich verstehen.

Wird er das?

Er hatte sein Glas ausgetrunken, als ich endlich zu sprechen begann.

„Ich weiß nicht, wie lange er... er mich nicht angerührt hat. Es war bestimmt ein Jahr. Und das... das hatte seinen Grund."

„Und welchen?"

Ich drehte meinen Kopf zu Chase, der mich ausdruckslos ansah. Zumindest gab er sein bestes, keine Emotionen in seinem Gesicht widerspiegeln zu lassen.

„Du denkst, du weißt über alles Bescheid, was damals passiert ist, weil du die Polizeiberichte gelesen hast. Weil du meine Aussagen und das, was in all den Therapiesitzungen herausgekommen ist, gelesen hast. Aber das tust du nicht, weil ich nie irgendjemandem davon erzählt habe."

„Okay. Ich höre."

Ich schluckte, drehte das Gesicht wieder Richtung Decke und schloss die Augen, bevor ich mit zitternder Stimme sagte: „Ich war nicht alleine mit ihm dort."

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