37
Beverly
Es musste wohl die angenehmste Reise gewesen sein, die ich bis jetzt mit einem Ataria auf mich genommen hatte. Trish hatte mich in der Früh gezwungen, zumindest eine Banane zu essen, damit ich nicht umkippen würde. Vielleicht lag es daran. Oder aber an der Tatsache, dass das Reisen mit einem losen Portal generell ein bisschen sanfter von statten ging.
Die Luft fühlte sich weich an und Aidan und ich glitten einfach so dahin, bis uns das Portal direkt vor dem Haus meiner Tante ausspuckte. Diesmal fiel auch keiner von uns auf die Knie. Wir taumelten lediglich ein wenig und klammerten uns aneinander fest, aber das störte mich nicht.
„Wow", stieß ich überrascht hervor. „Das war ja fast lustig."
Aidan sah sich bereits neugierig um. Wir waren an einem Hügel angekommen, vor uns eine große Holzhütte. Im Tal hinter uns konnte man das Dorf erkennen, an dessen Pensionen ich mich noch dunkel erinnern konnte. Hier gab es definitiv die beste heiße Schokolade der Welt und die nettesten Leute. Vermutlich hatte Addie genau in einer dieser Pensionen ihr Geld verdient, als sie hier gewohnt hatte. Weit ins Dorf war es nicht, aber Shae wohnte dennoch ziemlich abgeschnitten.
Ich war Gott froh, dass meine Tante nicht gerade im Garten gearbeitet hatte, als Aidan und ich aus dem Portal getaumelt waren, kurz bevor es wieder verschwunden war. Aber fürs Unkrautjäten war es vermutlich noch ein bisschen zu kalt.
Obwohl die weißen Vorhänge vorgezogen waren, erkannte ich, dass in der Wohnküche Licht brannte.
„Hier wohnt sie? Es ist fast so, wie Addie es beschrieben hat." Aidan deutete auf den kleinen Schuppen. „Da drinnen findet sich ein Sammelsurium an dicken, schwarzen Spinnen." Ich musste kichern. „Und die Gartenzwerge da wechseln in der Nacht Positionen und haben sie immer angestarrt, wenn sie morgens zur Arbeit gegangen ist. Warum wohnt Shae so abgeschnitten von der Welt?"
„Hab ich dir nie erzählt, dass sie damals ihren Namen -praktisch ihre Identität- geändert hat? Ihr Ex-Mann war sehr gewalttätig und sie ist vor ihm geflohen. Und hier findet sie niemand. Sie hat nicht einmal mehr ein Auto. Kein angeschlossenes Telefon. Und ihr Nachname ist nicht mehr O'Briain, wie der meiner Mutter, bevor sie geheiratet hat, sondern Wilson."
„Wenn du mir davon erzählt hast, dann habe ich es wohl vergessen", gestand er.
Am liebsten hätte ich mich noch ein Weilchen davor gedrückt, hinein zu gehen, aber ich konnte die Erinnerungen, die ich mit diesem Ort verband, nicht unterdrücken und eine Welle warmer Gefühle überschwemmte mich. Es waren gar keine konkreten Erinnerungen, es war einfach... Geborgenheit. Sorglosigkeit. Freiheit.
Und genau diese Empfindungen schubsten meine Beine abwechselnd nach vorne, bis ich vor der Türe stand und anklopfte.
Jetzt gab es wirklich kein Zurück mehr.
An der Türe hing ein Kranz aus grünem Gestrüpp mit roten kleinen Beeren und goldenen angesprühten Sternen aus Stroh.
Nach wenigen Sekunden konnte ich Schritte auf der anderen Seite der Türe ausmachen und musste instinktiv an gestern Nachmittag denken. An den Schatten vor meiner Türe.
Daher zuckte ich zusammen, als Shae die Türe öffnete und trat automatisch zurück. Sie sah Aidan und mich neugierig an. „Kann ich helfen?"
Ich hätte heulen können. Es war zu lange her.
„Willst du mich beleidigen?", fragte ich. „Ich weiß, ich bin groß geworden, aber..."
Einen Augenblick sah Shae noch verwirrt aus, aber dann fiel es ihr augenscheinlich wie Schuppen von den Augen und sie schlug sich die Hand vor den Mund, bevor sie mich umarmte.
„Guter Gott, Beverly!" Gegen die Tränen kämpfend drückte ich sie an mich. „Wie lange ist es her, dass wir uns gesehen habe?"
„Zu lange."
„Du hast dich so lange nicht gemeldet, ich dachte schon beinahe, du bist gestorben." Sie meinte es nicht ernst, aber ich sollte die Situation wohl auch nicht unbedingt aufklären.
„Tut mir leid, ich hatte so unfassbar viel um die Ohren."
Sie ließ mich los und lächelte mich mit warmen, braunen Augen an. Sie hatte die eine oder andere graue Strähne in ihren blonden, dünnen Haaren bekommen und ein paar Falten mehr, aber ansonsten sah sie meiner Mutter immer noch verdammt ähnlich.
„Shae, ich möchte dir jemanden vorstellen. Das ist Aidan." Ich nickte zu meinem Begleiter und sie gab ihm lächelnd die Hand.
„Addie's Bruder", nickte sie. „Sonderlich ähnlich siehst du ihr aber nicht."
Aidan lachte. „Das höre ich oft."
„Freut mich wirklich sehr, kommt doch rein, ihr verkühlt euch noch. Kind, Beverly, du hast ja fast nichts an!"
Ich blinzelte sie aus meiner dicken Daunenjacke und der violetten Mütze, die ich mir von Trish geliehen hatte, an.
„Uns geht es gut", versicherte ich ihr, als wir das warme Haus betraten. Es sah noch genauso aus wie früher. Überall standen Porzellankatzen herum, und pastellfarbene Bilderrahmen mit simplen Blumengemälde säumten den Flur. Die Teppiche waren dünn und durchgetreten. Es roch nach süßem Gebäck und Holz.
Ich fühlte mich auf der Stelle wohl.
„Hängt eure Sachen einfach hier an den Kleiderhaken auf, ich mach schon mal Tee!" Sie verschwand in der Küche und Aidan sah sich abermals neugierig um.
„Und ich dachte, Addie scherzt, wegen der Katzenfiguren", flüsterte er und ich musste wieder lachen.
„Shae hatte mal eine. Eine rotweiß gestreifte, und die hat mich gehasst. Obwohl ich ein kleines Kind gewesen bin und ihr nie etwas getan habe, hat sie mich immer angefaucht und wollte mich kratzen. Ein paar Mal hat sie es auch geschafft." Ich sah mich um. „Aber ich schätze, das Mistvieh weilt nicht mehr unter uns."
Wir folgten Shae in die Küche, wo meine Tante bereits herumlief und Kekse, Kuchen und Tee auf den Ecktisch stellte. Aidan und ich glitten auf die Holzbank mit den hellen Kissen und Shae goss uns beiden Tee ein.
„Also, was verschlägt euch in diese abgelegene Gegend? Erzählt mal!" Ich wollte eben zu einer glaubwürdigen Erklärung ansetzen, als sie mir zuvor kam. „Du hast ja wirklich kaum etwas an. Du holst dir noch den Tod, wenn du weiterhin in diesen dünnen Fetzen herumläufst." Ich hatte ein langärmliges T-Shirt an, aber da meine Wangen wegen der fünf Minuten vor ihrem Haus rosig von der Kälte waren, stand Shae auf, holte eine Decke von der Couch und wickelte mich darin ein. Der Stoff war ganz weich. „Du bist hier in Irland, nicht Kalifornien", mahnte sie liebevoll. „Pullover und Decken sind dein bester Freund. Und jetzt erzählt."
„Naja, wir waren in der Nähe."
„Ich hab dich zwar seit Jahren nicht mehr gesehen, aber ich merke, wenn ich angeflunkert werde."
„Es ist keine Lüge. Nur eine lange, komplizierte Geschichte. Aber jetzt sind wir hier, zählt das nichts?"
„Und wie das was zählt!" Sie ließ sich gegenüber von mir auf einem Stuhl nieder. „Besonders wenn man bedenkt, dass ich momentan mehr von Addie höre, als von meiner eigenen Nichte." Den vorwurfsvollen Unterton bemerkte ich natürlich, aber sie klang nicht wütend. Nur besorgt.
„Entschuldige", wiederholte ich. „Wie gesagt, ich hab viel um die Ohren."
„Was tut sich so in deinem Leben? Erzähl mir alles, ich bin neugierig."
Mein Herz stolperte kurz, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. „Äh... naja..." Ich hatte zwei Optionen.
Nummer eins: Ich erzählte ihr die Wahrheit und hoffte, dass sie mich nicht für verrückt halten oder schreiend aus dem Haus rennen würde.
Nummer zwei: Ich erzählte ihr das Blaue vom Himmel und behauptete, ein wundervolles Leben an einer Privatuni mit vielen Freunden und genauem Zukunftswunsch zu haben.
Und genau zwischen diesen zwei Möglichkeiten hing ich fest, sodass ich im Endeffekt dasaß und kein Wort herausbrachte.
Shae sah mich amüsiert an, bevor sie sich an Aidan wandte, der sich bereits über den Apfelkuchen hermachte.
„Na gut, dann fangen wir eben auf der anderen Seite des Spektrums an", lächelte sie.
„Die andere Seite des Spektrums?", lächelte er amüsiert.
„Das hat Addie vor kurzem in einer ihrer Mails geschrieben. Dass ihr beide unterschiedlicher nicht sein könntet."
„Gar nicht wahr", stritt er ab, aber ihm fiel ganz offensichtlich nichts ein, das wir gemeinsam hatten. Hilfesuchend sah er zu mir.
Ich umschloss die Teetasse mit den aufgedruckten Katzen und sagte das erstbeste, das mir einfiel. „Wir beide hassen lesen. Dafür mögen wir beide Pizza." Ich sah zu Shae, die amüsiert grinste. „Siehst du? Zwei Gemeinsamkeiten."
Sie nickte amüsiert. „Da hast du recht. Es muss schwierig sein, eine Person in eurem Alter zu finden, die sich nicht fürs Lesen interessiert und Pizza liebt. Einzigartige Gemeinsamkeiten, das muss ich euch lassen."
Darauf antwortete keiner von uns beiden.
„Ich lass mich überraschen", lächelte Shae dann und wandte sich wieder an Aidan. „Studierst du?"
Er nickte ohne zu zögern.
„Mathematik und Neurowissenschaften."
Shae zog beeindruckt die Augenbrauen hoch. „Das sind anspruchsvolle Bereiche, oder nicht? Schon einen genauen Berufswunsch?"
„Ich will in den Forschungsbereich gehen, aber... wir werden sehen, was daraus wird." Er lächelte und ich war schockiert darüber, wie flüssig und glaubhaft ihm diese Lüge über die Lippen ging. „Vielleicht ändere ich meine Meinung noch."
Shae drehte sich wieder zu mir. „Und du? Hast du dir schon etwas überlegt?"
Sie wusste nicht, dass ich für über zwei Jahre in einer psychiatrischen Anstalt festgesessen hatte und noch nicht einmal meinen Schulabschluss hatte.
Ich hätte ihr davon erzählen können, sie hätte Verständnis gehabt.
Doch plötzlich sah ich ein ganz anderes Leben vor mir.
Eines, das meines hätte sein können.
Das meines hätte sein sollen.
Ein Leben, das nur in meiner Vorstellung existierte, aber bereit war, von mir erzählt zu werden.
Also setzte ich ein Lächeln auf.
„Was denkst du, wo Aidan und ich einander kennengelernt haben?", fragte ich und nahm mir ebenfalls ein Stück Apfelkuchen von der Platte. „In einer Irrenanstalt?" Shae lachte und Aidan warf mir einen kurzen, verstörten Seitenblick zu, aber ich redete bereits weiter. „Es war am Campus der Universität, an der ich studiere. Ich bin noch nicht so lange dort, weil ich ja erst letztes Jahr meinen Abschluss gemacht habe und nicht sofort wusste, ob ich studieren möchte."
„Und was studierst du?"
„Sprachwissenschaften und Völkerkunde. So hab ich Addie kennengelernt."
„Das hat sie mir verschwiegen", bemerkte sie beinahe misstrauisch.
„Addie und ich haben uns immer mal wieder im Hörsaal getroffen oder sind uns am Campus über den Weg gelaufen, und als wir für ein Projekt in dieselbe Gruppe gesteckt wurden, sind wir Freundinnen geworden. Wir haben uns ab und zu bei ihr getroffen und da sie mit Aidan zusammen lebt, haben wir uns kennengelernt."
Ich lächelte zu Aidan, als hätte ein so perfektes Aufeinandertreffen tatsächlich stattgefunden. Als hätte nicht alles damit begonnen, dass er mich in Modoc besucht und einige Tage später blutend und matschbeschmiert am Straßenrand aufgegabelt und zu sich nach Hause genommen hatte.
Anfangs tat es noch ziemlich weh, Shae mein perfektes Leben vorzulügen. Meine tollen Noten, meinen blauen Ferrari, das Haus am Strand, das ich natürlich immer noch besaß, und in dem ich mit Aidan seit einiger Zeit wohnte, zusammen mit unserer Katze, James, die wir als Baby hinter ein paar Mülltonnen gefunden hatten und einfach mitnehmen mussten. Die Grillparty's die wir mit unseren Unifreunden feierten...
Es war das Leben einer jungen Erwachsenen.
Aber nicht meines.
Doch je länger ich meine Tante belog, desto mehr verlor ich mich in dieser Welt und fühlte mich plötzlich wie ein Teil davon. Es fiel mir gar nicht mehr schwer, ihr ins Gesicht zu lügen und über Ereignisse zu plaudern, die nie stattgefunden hatten.
Ich dachte nicht mehr an Hexen, Magie, böse Zauberer. Ich dachte nur an mich, Aidan und das perfekte, sorglose Leben in Kalifornien, weit weg von der grauen, kalten Welt hier.
Es waren die schönsten Lügen, die ich je erzählen durfte.
„Ich bin so froh, dass es dir gut geht", lächelte Shae irgendwann, als ich von einer Bootstour berichtete, die ich mit Chase, Trish, Addie, Trev und Aidan in Angriff genommen hatte. Chase hatte ein Bierchen zu viel getrunken und wir hatten ihn zur Sicherheit in eine Schwimmweste gesteckt. Was gut war, denn als er sich über die Reling gebeugt hatte, um die Delfine zu beobachten, war er vom Boot ins Wasser gefallen. Addie hatte an dem Tag einen Sonnenbrand abbekommen. Aidan und Trev hatten auf dem kleinen Grill Burger gebraten. Und Trish hatte sich von mir das Steuern des Bootes beibringen lassen.
„Du hast schon viel zu viel durchmachen müssen, für dein Alter. Ich habe mir Sorgen gemacht und mich beinahe täglich gefragt, wie es dir geht. Es tut wirklich gut, zu hören, dass du dich davon nicht unterkriegen lässt und genau das Leben lebst, das du dir wünschst."
Ich nickte. „Es war nicht leicht, aber ich denke... ich denke ich habe es ganz gut hinbekommen."
„Das ist schön!" Sie lächelte mich an, dann nickte sie zu dem Apfelkuchen, von dem Aidan und ich fast die Hälfte weggegessen hatten. Er war einfach zu gut.
„Nimm doch noch ein Stück."
„Ich hatte doch schon drei", sagte ich. Seit langem hatte ich nicht mehr so zugeschlagen.
„Beim Essen wird nicht gezählt." Sie stand auf und schnitt mir noch ein Stück herunter. „An dir ist ohnehin kein Fleisch dran. Für dich auch noch ein Stück, Aidan?"
„Da sag ich nicht nein", gab er zurück und Sekunden später landete auch auf seinem Teller noch ein Stück.
„Und was habt ihr zwei noch vor?"
Mir fiel auf, dass Brikeena uns abholen und mich aus meiner wundervollen Welt reißen würde. Dass wir nach diesem Tag gar nicht in den Flieger steigen und das perfekte, lustige Leben in Kalifornien weiter leben würden.
„Wir bleiben momentan bei einer Freundin in Dublin", log ich.
„Wie praktisch, da fahren zwei Busse durch, da braucht ihr nur zwei Stunden."
Ich nickte, als wäre genau das unser Plan.
„Und wann fliegt ihr zurück nach Kalifornien?"
„In ungefähr neun Tagen. Wir sind nur für zwei Wochen hier. Kurzurlaub, sozusagen."
In diesem Moment erspähte ich Brikeena durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Shae konnte sie von ihrer Position aus nicht sehen. Brikeena stellte sicher, dass ich sie gesehen hatte und entfernte sich vom Fenster, um nicht doch noch von meiner Tante entdeckt zu werden.
Ich warf Aidan einen flüchtigen Blick zu und wusste, dass er sie auch bemerkt hatte.
„Wir müssen dann ohnehin langsam aufbrechen", sagte ich zu Shae. „Es ist schon fast dunkel draußen."
„Schade." Sie lachte. „Es war so schön, euch hier zu haben! Einmal wieder ein bisschen Gesellschaft in diesem ruhigen Haus." Sie begleitete uns in den Flur und wir zogen uns wieder Jacke und Schuhe an. Aidan bedankte sich für die Gastfreundschaft und Shae sagte, wie froh sie war, ihn kennengelernt zu haben, und dass er jederzeit wieder herzlich willkommen war.
„Ach, wollt ihr einen Kuchen und ein paar Kekse mitnehmen?"
„Gerne", lächelte ich und Shae verschwand wieder in der Küche, um nach Boxen zu kramen.
„Ich warte draußen", raunte Aidan, während ich den Reißverschluss hoch zog.
„Wieso?"
Aber anstatt einer Antwort erhielt ich nur einen auffordernden Blick, bevor er die Türe aufzog und in die Kälte marschierte. Ich wollte nicht mit ihr alleine sein, weil ich wusste, dass ich weinen würde. Und ich wollte nicht vor ihr weinen, denn dann würde meine perfekte, kleine Lüge in sich zusammenbrechen.
Zaghaft ging ich wieder zu Shae in die Küche, die gerade vier Tupperdosen aufeinanderstapelte, als hätte sie Angst, wir würden verhungern, würde sie uns nicht ihre gesamte Vorratskammer mit auf den Weg geben.
„So, da ist Apfelkuchen drinnen, ein Schokokuchen, den ich frisch gebacken habe, Lebkuchen, Spekulatius, Marmeladenkekse und Kokoskekse. Ach, und Schokokekse mit Glasur!"
„Danke", lachte ich. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals.
„Weißt du... damals, als meine Schwester gestorben ist und mein Schwager und deine Schwester..." Sie stopfte beides in ein Stoffsäckchen und drückte es mir in die Hand. Ganz schön schwer. „Da habe ich lange überlegt, dich zu mir zu holen."
Ich sah sie überrascht an. „Ist das dein ernst?"
„Natürlich! Ich hätte dich gerne hier gehabt."
„Das hast du mir nie erzählt."
„Weil du in Kalifornien doch alles hattest. Ein großes Haus am Strand, deine Freunde, du warst kurz davor, wieder in die Schule zu gehen... Ich wollte nicht noch mehr Verwüstung in deinem Leben anrichten, indem ich dich bitte, ans andere Ende der Welt zu mir zu ziehen." Mir schnürte sich die Kehle zu. Damals hätte ich vermutlich nichts lieber getan, als all das hinter mir zu lassen. Shae lächelte. „Aber wie ich sehe, bist du in sehr guten Händen." Sie warf einen verstohlenen Blick Richtung Fenster. „Er ist ein netter, junger Mann."
Sie streifte meine Haare nach hinten und zog den Reißverschluss meiner Jacke noch ein Stück weiter hoch.
„Aber... Geht es dir wirklich gut?", fragte sie nun doch besorgt.
Eigentlich hatte ich gedacht, meine euphorischen Lügen wären glaubhaft gewesen. Immerhin hatte ich sie selbst für eine kurze Zeit geglaubt. Aber plötzlich fiel es mir unfassbar schwer, diese Fassade aufrecht zu erhalten.
„Natürlich, wieso fragst du?"
Sie zögerte. „Ich wollte es nicht unbedingt vor deinem Freund sagen, aber du siehst nicht gut aus, Beverly." Kopfschüttelnd sah sie an mir herunter. „Du bist ganz dünn und blass. Dafür, dass du in Kalifornien lebst, ist das ziemlich ungewöhnlich und deine Kleidung ist ganz locker, obwohl du immer schon ein schlanker Mensch warst. Ich mach mir Sorgen um dich, das ist alles."
Mir gefiel, dass sie sich so um mich sorgte. Aber gerade jetzt, konnte ich es mir nicht leisten, bemuttert zu werden und in ein warmes Bett mit einer dampfenden Tasse Kakao gesteckt zu werden. Ich hatte wichtige Dinge zu meistern. Lebensrettende Dinge. Ich hätte es mir auch anders gewünscht, aber die Umstände ließen nicht zu, dass ich eine fürsorgliche, liebevolle, beschützende Mutterfigur in mein Leben ließ.
Ich lächelte und schüttelte den Kopf, als wüsste ich nicht, wovon sie sprach. „Mach dir keine Sorgen."
„Du hast schon so viel Schlimmes erlebt." Ihre Augen wurden glasig. „Du hast ein gutes Leben verdient, Beverly. Du wurdest entführt, dann sind Victoria und deine Eltern..." Tja, und das war nur die Spitze des Eisberges. Sie seufzte. „Ich will nur, dass es dir gut geht und du glücklich bist." Ihr trauriger Blick verpasste mir einen Schlag gegen die Brust.
Schnell drückte ich sie an mich, damit sie meine Tränen nicht sehen konnte.
„Das bin ich", flüsterte ich erstickt. „Es ist alles gut. Mir geht es gut. Und ich bin glücklich."
Shae entfuhr ein halb trauriges, halb glückliches Schluchzen.
„Versprochen."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top