30

Aidan

Die ganze letzte Woche hatte ich mich kaum von Beverly's Seite wegbewegt. Schon gar nicht, wenn sie von irgendjemandem außer Chase oder Trish besucht worden war. Die Vorfälle hatten mich misstrauischer gemacht, als ich es je gegenüber einer Sache gewesen war. Doch Finley hatte mir vor einer knappen Stunde erzählt, dass Thomas heute abreisen würde, und da ich nicht unbedingt die Möglichkeiten hatte, ihn eben Mal in Estland zu besuchen, musste ich heute mit ihm reden, wenn ich meine Chance auf Informationen über Vaya nicht verlieren wollte. Und da Finley aus unerfindlichen Gründen plötzlich darauf aus war, sich mit mir gut zu stellen, hatte sie praktisch ein Treffen zwischen mir und Thomas engagiert. Entweder wollte sie nicht unter die paar Verdächtigen fallen, die Beverly etwas angetan haben könnten, oder Chase hatte bei ihr einen Schalter umgelegt, denn als ich Bev's Zimmer verlassen hatte, hatten die beiden am Couchtisch gesessen und Schach gespielt. Ich hatte nicht genau mitbekommen, was zwischen ihnen passiert war, aber vor vier Tagen hatte Finley im Thronsaal erst gegen Erin, dann Thomas und schließlich Canna gespielt. Chase und ich hatten vor dem Kamin gesessen und leise darüber diskutiert, an welche Personen wir uns aus der Schlange vor dem Labyrinth erinnern konnten. Von einigen kannten wir nicht einmal den Namen. Trish hatte in dieser Zeit auf unsere Patientin aufgepasst und sichergestellt, dass ihr keiner etwas anhaben konnte.

„Es kann doch nicht so schwer sein, gegen eine Frau im Schach zu gewinnen", hatte Chase nur kopfschüttelnd gemeint und Finley aus der Ferne beobachtet, wie sie ihre Geschwister triumphierend angegrinst hatte. Sie hatte ihn gehört und sich zu uns umgedreht.

„Warum versuchst du es nicht?" Ein undefinierbarer Ausdruck hatte in ihren Augen geglänzt.

Chase hatte sie herausfordernd angegrinst. „Okay. Darf ich mir was wünschen, wenn ich gewinne?"

Canna hatte aufgelacht und Finley's Mann war bereits in Begriff gewesen, Chase in eine Kröte zu verhexen. Oder Schlimmeres.

„Keine Sorge", hatte sie nur gemeint, ihn besänftigend angesehen und am Handgelenk zurückgehalten, bevor sie sich wieder an Chase gewandt hatte. „Ich gewinne immer."

Und sie hatte nicht gelogen. Denn bis jetzt hatte sie Chase jedes Mal geschlagen. Sein Ego war vermutlich schon so klein wie eine Erbse, aber er gab nicht auf und Finley nahm ihm die Revanchen auch nicht weg, was mir mehr als suspekt vorkam.

Durch die täglichen Schachschlachten war Finley jedoch auch öfter in Beverly's Zimmer, was ich erst so gar nicht bewilligen wollte, aber es hatte sich als Vorteil entpuppt, denn nun saß ich dank ihr seit einigen Minuten mit Thomas zusammen in der Bibliothek und versuchte mögliche Gaben zu erörtern, die Vaya mir verliehen haben könnte.

„Was ist mit dem Kerl, über den du geschrieben hast?", fragte ich. „Der, dessen schlimmste Vorstellungen immer wahr geworden sind?"

Draußen war es wieder bewölkt und in der Bibliothek war es ziemlich duster und grau. Alles kam mir in den letzten Tagen farbloser vor als sonst.

„Bei all den Dingen, die passiert sind, wäre es doch möglich, dass mein Gabe in eine ähnliche Richtung geht, oder nicht?"

Thomas schüttelte den Kopf. „Unwahrscheinlich. Ich kenne zwar deine Lebensgeschichte nicht, aber eines weiß ich: Du bist Vaya's Kind. So grausam Dämonen auch sind, ihren Kindern wollen sie nur Gutes. Er hat dir bestimmt eine Gabe verliehen, die nicht gegen dich arbeitet." Seit er wusste, dass Vaya's Blut in meinen Adern floss, hatte ich das Gefühl, von ihm nahezu studiert zu werden. Sollte mir recht sein, solange er mir weiterhelfen konnte.

„Nicht gegen mich heißt nicht unbedingt für mich."

„Leider nicht, nein." Er ließ seinen Blick nachdenklich über die Regalreihen schweifen. „Finley hat mir erzählt, was in dem Labyrinth passiert ist."

„Okay?"

„Sie hat eine Vermutung geäußert, die mir nicht aus dem Kopf geht, aber sie ist... ziemlich beschissen."

„Das ist mein Leben auch", entgegnete ich trocken.

Thomas stand auf und sah aus dem Fenster. „Finley hat gemeint, dass sie denkt, deine Gabe gibt dir immer genau das, was du dir wünschst."

Ich blinzelte Thomas an. „Und was soll daran beschissen sein? Das wäre doch toll."

„Nein", er schüttelte zögerlich den Kopf. „Wenn man es genau betrachtet, wäre es sogar schrecklich."

„Warum?" Ich konnte mir beim besten Willen nichts Schöneres vorstellen, als jeden Wunsch erfüllt zu bekommen. Nur war das bestimmt nicht meine Gabe, denn dann hätte mein Leben ganz anders ausgesehen. Ich dachte da an eine riesige Villa am Strand mit Beverly, James, meiner Schwester und meinen Freunden in der Nähe, einen Berg Kohle und vielleicht einen dieser farbwechselnden Luftbefeuchter.

Thomas drehte sich wieder zu mir und ich sah ihn verständnislos an. „Ich denke nicht, dass deine Gabe differenziert. Sie gibt dir vermutlich manchmal das, was du willst, manchmal das, was du brauchst."

Ich kniff irritiert die Augenbrauen zusammen. „Wie meinst du das?"

Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Ich denke, deine Gabe wird dir immer geben, was du dir wünschst. Sie wird dir immer geben, was du brauchst. Du kannst den Ausgang bestimmter Situationen beeinflussen, denke ich. Allerdings, wird es bestimmt immer Konsequenzen mit sich ziehen. Schlimme Konsequenzen." Er sah mich an. „Magie ist hinterlistig. Kaum ein Zauber kommt ohne Retourkutsche, und so verhält es sich auch bei Dämonenmagie. Wenn dir etwas Gutes passiert, dann widerfährt jemand anderem etwas Schlechtes, zu deinen Gunsten."

„Also...", begann ich verwirrt und fuchtelte mit den Händen herum. „Angenommen ich habe einen richtig fiesen Matheprofessor, der mich hasst und absichtlich durchfliegen lässt. Dann könnte es sein, dass er von der Schule suspendiert wird, weil auf magische Weise Alkohol in seiner Aktentasche gefunden wird?" Es war ein dämliches Beispiel, aber ein besseres fiel mir nicht ein.

Thomas neigte den Kopf hin und her. „Wenn er Glück hat. Vaya ist ein Todesdämon." Ich wusste, worauf Thomas hinaus wollte. Mir wäre lieber gewesen, er hätte seine Gedanken nicht ausgesprochen. „Es ist wahrscheinlicher, dass der Professor in deinem Beispiel von einem Bus überfahren wird." Mir fuhr ein kalter Schauer über den Rücken, aber Thomas zuckte nur mit den Schultern. „Aber in den meisten Fällen würden dir diese Auswirkungen gar nicht auffallen. Oft sind es unbedeutende Personen, die Schaden davon tragen, aber in einer Reihe von Begünstigungen für dich eine mehr oder weniger große Rolle spielen. Schmetterlingseffekt? Ist dir doch wohl ein Begriff, oder?"

„Okay, Moment, Moment!" Ich schüttelte abwehrend den Kopf und stand ebenfalls auf. „Bevor du mir Angst machst: Wie wahrscheinlich ist es, dass ich diese Gabe besitze? Auf einer Skala von eins bis zehn."

Thomas zögerte. „Hör zu, ich kenne dich nicht sonderlich gut. Um wirklich mit Sicherheit sagen zu können, wie deine Gabe aufgebaut ist und wie sie für dich spielt, müsste ich dich und dein Leben viel genauer und länger unter die Lupe nehmen, als nur fünfzehn Minuten. Lass dir die Dinge, die passiert sind nochmal im Kopf umher gehen und überlege selbst, ob es auf meine Vermutung zutrifft." Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Ich muss mich langsam auf den Weg machen, sonst fahren Acacia und Laine noch ohne mich."

Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Acacia geht auch?" Es kam mir beinahe so vor, als wollten plötzlich alle flüchten. Einerseits machte es mich misstrauisch, andererseits beruhigte es mich. Je weniger Leute hier waren, umso weniger Leute mussten Chase, Trish und ich uns kümmern, in Bezug auf Beverly's Sicherheit. Natürlich war es möglich, dass einer der drei sie angegriffen hatte, aber wenn sie das Schloss und die Insel verließen, dann waren sie wenigstens weg.

„Ja, Acacia hat..." Er brach ab. „Nicht so wichtig. Ich bin sicher, wir werden uns noch einmal begegnen", meinte er, bewegte sich langsam auf die offene Flügeltüre zu und sah mich mit unruhigem Blick an. „Aber ich hoffe sehr für dich, dass ich mit meiner Theorie falsch liege. Andernfalls wäre jeder um dich herum konstant in Gefahr."

~~ ~~

Auf dem Weg zurück zu Beverly's Zimmer wollte ich eigentlich Addie anrufen und mir von ihr ein paar aufmunternde Wort holen. Oder eine inspirierende Rede, wie sie es schaffte, mit ihrer Gabe umzugehen, ohne sich täglich von einem Hochhaus stürzen zu wollen.

Aber als ich am Eingang zum Schloss ankam, ließ ich mein Handy sinken.

„Ich hab gehört, du verschwindest auch?"

Acacia drehte sich zu mir und ich betrachtete die drei Koffer, die sie um sich geschart hatte. Da sie so viel Gepäck dabei hatte, aber kaum zehn Tage hier gewesen war, nahm ich nicht an, dass die Abreise geplant gewesen war.

„Ja", lächelte sie, beinahe entschuldigend. „Ich gehe mit Thomas und Laine nach Estland."

„Wieso?"

Sie wollte etwas sagen, aber kein Wort verließ ihre Lippen. Stattdessen lächelte sie. „Nicht so wichtig."

„Das hat Thomas auch gesagt", entgegnete ich. „Ich habe also den leichten Verdacht, dass es sehr wichtig ist."

Sie ließ von ihrem Gepäck ab und kam auf mich zu. „Es ist ein Fluch."

Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Was?"

„Manche Flüche sind so stark, dass sie sich nicht brechen, sondern nur hinauszögern lassen." Sie zog die Ärmel ihres Pullovers hoch. Ich musste schlucken, und versuchte, nicht allzu erschrocken auf die dunklen Brandwunden zu sehen.

„Wann ist das passiert?", fragte ich reflexartig und Acacia musste lächeln.

„Vor fast zwanzig Jahren." Die Wunden sahen alle frisch aus, als hätten sie sich erst vor wenigen Minuten in ihr Fleisch gegraben. „Ich verbrenne von innen", erklärte sie, als sie meinen verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte. „Sehr, sehr, sehr langsam."

„Tut das nicht weh?", fragte ich automatisch, bevor mir bewusst wurde, wie dämlich diese Frage war. „Ich meine-" Schnell schüttelte ich den Kopf. „Kann man nichts dagegen machen?"

Sie schob die Ärmel vorsichtig wieder über die Wunden. „Nicht viel... Die meisten Flüche lassen sich durch Rituale brechen. Aber Todesflüche lassen sich nur brechen, wenn die Person, die ihn gesprochen hat, stirbt. Der Trank, den Arlen für mich hergestellt hat und Beverly verabreicht hat, hilft gegen alle möglichen Gifte und Flüche. Und es ist das einzige Mittel, das die Ausbreitung der Verbrennungen seit fast zwanzig Jahren eindämmt. Aber..." Sie sah mich an und überlegte augenscheinlich, ob sie weitersprechen sollte. „Die Schmerzen kann er nicht nehmen, nein."

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich beschwerte mich darüber, dass mir immer noch die Knöchel wehtaten, weil ich Chase einen Schlag verpasst hatte, und Acacia verbrannte seit zwei Jahrzehnten. Armselig beschrieb nicht, wie ich mich fühlte.

„Wie ist das passiert?"

Sie atmete tief ein. „Kannst du dir das nicht denken?" Doch, das konnte ich. Denn ich konnte mir vorstellen, was Arthur mit einer Person gemacht hätte, die Acacia verflucht hatte. Er hatte ja Arlen, seinen eigenen Bruder, fast schon erwürgen wollen. Und mir fiel nur eine Person ein, die er nicht umbringen konnte.

Acacia nickte, als sie an meinem Gesichtsausdruck erkannte, dass ich an Cillian dachte. „Ich denke nicht, dass es beabsichtigt war. Ich denke auch nicht, dass er überhaupt wusste, wer ich bin, oder dass ich etwas mit den Brooklynn's und Galbraith's zu tun habe... Vermutlich war ich einfach zur falschen Zeit am falschen Ort."

„Manchmal hasse ich dich", sagte jemand hinter mir und ich drehte mich um. „Du bringst dem Arschloch, das dich verflucht hat Verständnis entgegen?", hakte Arthur ungläubig nach und legte einen Arm um ihre Taille. Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, ich hasse diesen Mistkerl." Beinahe hätte ich auflachen können. Diese Worte hatten ganz und gar nicht hasserfüllt geklungen. Ich war mir nicht sicher, ob irgendetwas aus ihrem Mund hasserfüllt klingen konnte. Dafür sah sie einfach viel zu verträumt und unschuldig aus. „Aber warum soll ich die letzten Jahre meines Lebens zornerfüllt durchleben? Es ändert nichts an der Tatsache, dass ich bald sterben werde. Ich kann den Fluch nicht brechen. Seit Theodoric's Tod gibt es vermutlich nur noch eine Person, die das kann." Ich hasste den eindringlichen Blick, den sie mir zuwarf. Als würde sie auch an mich Erwartungen stellen, weil Beverly und ich zusammen waren. Und auch Arthur folgte ihrem Beispiel, nur wirkte er bedrohlich anstatt zuversichtlich. „Und ich für meinen Teil glaube, dass Beverly genau das tun wird."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top