29

Beverly

„Hey, Bevy." Evan setzte sich neben mich, lächelte mich mit seinem spitzbübischen Lächeln an und legte einen Arm um mich. Ich hasste es, wenn er mich „Bevy" nannte und mein ganzer Körper spannte sich an, als er mich berührte. Aber das bemerkte er nicht. Und mir wäre es viel zu unangenehm gewesen, seinen Arm von meinen Schultern zu nehmen. Ich umklammerte meine Colaflasche fester, als ich hätte sollen. Das Kondenswasser machte die Flasche rutschig.

„Warum sitzt du hier drinnen?", fragte er und rutschte noch näher an mich heran.

Durch die Fensterfront blickte ich in unseren Garten. Die laute Musik drang selbst durch die geschlossenen Türen, und das, obwohl diese aus fünf Schichten Panzerglas bestand. Hier drinnen war keiner. Alle waren im Garten, sonnten sich auf dem Gras oder auf den Liegen, genossen das kühle Wasser des Pools, oder saßen im Schatten eines Baumes und schlürften ihre Cocktails.

Die Frage, warum ich hier drinnen saß, war leicht zu beantworten. Ich hasste Menschen. Aber das konnte ich Evan nicht sagen. Ich galt auch so schon als durchgeknallt. Also zuckte ich nur mit den Schultern und trank einen Schluck Cola um meine Nervosität zu überbrücken.

Ich hielt nach Delilah und Vicky Ausschau, in der Hoffnung, dass sie mich hier drinnen mit Evan entdecken und retten würden. Aber die Chance, dass das passieren würde war sehr gering.

„Du sprichst wirklich nicht viel, oder?", fragte Evan und legte seine Hand auf meinen Oberschenkel. Jetzt hätte eigentlich der Zeitpunkt kommen sollen, an dem ich aufstehen und weggehen hätte sollen. Ihm dabei noch die Cola über die Hose kippen sollen oder so. Ihn von mir wegstoßen. Irgendetwas tun. Aber ich fühlte mich wie paralysiert.

Evan Nelson gehörte zu den beliebten Teenagern, das wusste ich. Er war nicht viel älter als ich, und ich wusste, wie viele Mädchen in meinem Alter sich ein lebenswichtiges Organ herausgeschnitten hätten, um Evan auch nur einmal so nahe zu sein. Warum konnte ich nicht auch zu den Mädchen gehören, die die Nähe eines Jungen genossen? Evan sah nicht zum Davonlaufen aus. Er hatte sogar große Ähnlichkeit mit Anthony und Anthony mochte ich. Alle sprachen von seiner sexy Stimme, die bei mir nur Unbehagen hervorrief. Oder seinen angeblich so tollen Muskeln, die mich nur denken ließen, dass ich mich unmöglich gegen irgendetwas hätte wehren können, weshalb ich es vielleicht auch gar nicht versuchen würde.

Dann erspähte ich meine Schwester im Garten. Sie ging von Gruppe zu Gruppe und unterhielt sich mit jedem für ein paar Sekunden. Sie wusste, wie sie ihre Gäste bei Laune halten konnte. Sonst wären heute wohl kaum über zweihundert Leute hier gewesen. Unsere Eltern waren nicht zu Hause und das war für meine Schwester natürlich die perfekte Gelegenheit, eine Party zum Schulstart zu schmeißen. Eigentlich ging mich diese Party nichts an, weil ich nach wie vor nicht in die Schule gehen würde. Es war nun schon fast drei Jahre her und trotzdem entschieden sich die Ärzte und Psychiater immer noch dafür, mich zu Hause unterrichten zu lassen. Ich hatte weniger als halb so viele Stunden, wie meine Schwester, die die Privatschule besuchte, an die auch ich hätte gehen sollen. Aber das störte mich nicht. So hatte ich mehr Zeit für andere Dinge.

Evan streifte meine Haare von meiner Schulter. Er kam näher an mein Ohr heran.

„Wie müssen nicht reden", flüsterte er. Er begann meinen Hals zu küssen. Ich unterdrückte den Drang zu weinen. Hätte ich das nicht eigentlich schön finden sollen? Alle Mädchen in meinem Alter fanden das schön. Aber ich musste aufpassen, um nicht am ganzen Körper zu zittern. Innerlich betete ich, dass irgendjemand herein kommen würde. Dass uns irgendjemand bemerken würde, dem die Situation komisch vorkam. Aber als Evan seine Hand unter mein Shirt schob, wurde mir bewusst, dass keiner kommen würde, weil keiner denken würde, dass ich wollte, dass jemand herein kam.

Als ich das begriff, legte sich ein Schalter in meinem Kopf um. Doch als ich endlich den Kopf drehte, um ihm zu sagen, dass er mich in Ruhe lassen sollte, lagen seine Lippen auf meinem Mund. Jetzt hätte ich wirklich kotzen können. Stattdessen stieß ich Evan reflexartig so fest ich konnte weg. Dabei ließ ich meine Cola fallen, die sich über die grauen Fliesen ergoss. Ich sprang auf und wollte einfach nur weg, aber Evan war schneller.

„Hey!", rief er wütend und griff nach meinem Unterarm. Ich bekam Panik und hätte am liebsten geschrien, doch kein Laut verließ meinen Mund.

„Lass sie los, Evan!"

Evan ließ mich wahrscheinlich mehr reflexartig als beabsichtigt los, aber er tat es und ich taumelte sofort die Treppen nach oben ins Badezimmer und schloss mich ein. Erst jetzt erlaubte ich mir zu weinen. Ich sank auf den Boden und lehnte meinen Kopf gegen die Türe. Ich presste eine Hand auf meinen Mund um das Schluchzen zu unterdrücken. Wann würde das wohl endlich aufhören? Wäre Anthony nicht zufällig ins Wohnzimmer gekommen, hätte Gott weiß was passieren können.

„Du bist okay!", schluchzte ich. „Du bist nicht dort, er kann dir nichts mehr tun!"

~~ ~~

Ich schlug die Augen auf.

Nur ein Traum, war mein erster Gedanke. Nur ein böser Traum.

Es war stockdunkel und ich kniff die Augen zusammen, um irgendetwas zu sehen. Erst langsam erkannte ich Umrisse.

Ich saß aufrecht auf einem Bett. Der Schatten einer einzelnen Glühbirne zog seine Aufmerksamkeit auf sich, denn ich wusste, dass ich in meinem Zimmer einen Lampenschirm hatte. Es roch modrig, nach nassem Holz. Meine Haut war verschwitzt und kalt. Als ich die schweren Schritte hörte, die die Holzdielen an der Decke zum Knarren brachten, als sich jemand im Oberstock hin und her bewegte, blieb mir das Herz stehen.

„Nein", hauchte ich. Ich war doch entkommen. Verdammt, ich war doch weggelaufen! Ich konnte doch gar nicht hier sein. Doch das Geräusch der knarzenden Treppen war unverkennbar. Ich versuchte zu hektisch aufzustehen und fiel dabei vom Bett, wobei ich mir den rechten Ellenbogen aufschlug. Ich kroch hastig in eine Ecke. Zusammengekauert und nach Luft schnappend beobachtete ich die Türe.

„Psst!" Mein Blick schnellte zur anderen Seite des Zimmers. Da stand ein Bett. Verwirrt betrachtete ich die Umrisse einer Person, die sich darin aufsetzte. „Hab keine Angst, dir wird nichts passieren, das verspreche ich dir", flüsterte die Stimme eines Mädchens, die mir unfassbar bekannt vorkam. Ich konnte sie nur nicht zuordnen. „Verhalte dich einfach unauffällig. Beweg' dich nicht. Tu am besten gar nichts."

Die Türe wurde aufgerissen und ich wagte nicht mehr zu atmen. Ich presste meine Hände gegen die Brust. Alles was ich erkennen konnte, war der Schatten eines Mannes, der sich mit einem Messer in der Hand näherte.

Er würde mich töten.

Das schleifende Geräusch seiner Schuhsolen auf dem rauen Boden war unerträglich. Ich wagte es nicht aufzusehen, daher sah ich nur seine Beine, die sich ganz plötzlich direkt vor mir befanden.

„Nicht!", rief das Mädchen. Es war aufgesprungen und stellte sich schützend vor mich. „Wenn du sie anrührst, dann..."

Ich hatte ihn selten reden hören. Aber jetzt lachte er. Es war ein tiefes, kehliges, amüsiertes Lachen.

„Dann was?"

„Dann bringe ich dich um, Mistkerl!" In diesem Moment wusste ich wieder, wer sie war. Ich schnappte nach Luft und wollte ihr zuschreien, dass sie weglaufen sollte. Dass sie mich nicht beschützen sollte. Dass sie sich selbst schützen sollte. Denn ich wusste, was gleich passieren würde.

Doch es war zu spät. Er packte sie an beiden Armen und obwohl sie sich wehrte, zog er sie aus dem Keller nach oben, schlug die Türe zu und verriegelte den einzigen Ausweg aus diesem Loch. Ich rappelte mich auf, stolperte im Dunkeln zu den Treppen und begann wie eine Wahnsinnige gegen die Türe zu hämmern. Es klang, als würden die beiden kämpfen, aber mir war klar, dass er gewinnen würde.

Er gewann immer.

Als ich sie schmerzvoll aufstöhnen hörte, entwich meiner Kehle nur ein einziges Wort.

„Nein!"

~~ ~~

„Nein!" Ich fuhr hoch und schnappte nach Luft. Der Stoff meines T-Shirts klebte an meiner Haut und ich spürte sogar einen Schweißtropfen über meine Schläfe laufen, den ich reflexartig wegwischte. Ich krallte meine Finger in die Decke und presste die Augen zusammen. Egal, in was für ein schreckliches Szenario ich jetzt wieder reingeraten war, ich wollte es nicht wissen.

„Bevy, alles okay?"

Erschrocken drückte ich mich gegen das Kopfende des Bettes und zog die Beine an. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich in meinem Zimmer, in dem Schloss in Schottland war. Langsam fügte sich alles wieder zusammen. Ich war neunzehn Jahre alt, hier in Schottland mit Aidan, Chase und Trish, weil ich eine Hexe war und wie immer in mächtigen Schwierigkeiten steckte.

Chase, der eben noch auf der Couch gesessen hatte, war jetzt aufgestanden und hinter ihm entdeckte ich Finley, die auf einem Stuhl vor dem Couchtisch saß und besorgt an ihm vorbei in meine Richtung blickte. 

„Du bist wach", bemerkte Chase mit unruhiger Miene. „Wie geht es dir, hast du-"

„Bist du echt?!", rief ich atemlos. Ich hatte so unsagbar viele, schlimme Dinge geträumt, dass mir ganz schwummrig war. Mein Kopf glich einem Luftballon, in den man mehr und mehr Luft hinein blies. In diesem Bett zu sitzen fühlte sich real an. Aber das hatten die Träume auch getan, die langsam verblassten.

„Willst du mich jetzt mit einer Nadel piksen?", fragte Chase. „Darauf hab ich nämlich so gar keine Lust." Er war real. Kein Traum-Chase hätte seine dummen Sprüche so perfekt nachahmen können.

„Idiot", brummte ich und wischte mir abermals den Schweiß von der Stirn.

„Ja, nenn mich einen Idioten", entgegnete er missmutig. „Ich bin nicht derjenige, der sich in dem Zauberlabyrinth beinahe hätte umbringen lassen."

Auf dem Nachttisch stand ein Glas Wasser nach dem ich griff und es in einem Zug leerte.

„Wie lange war ich weg?", fragte ich dann.

„Fast eine Woche", antwortete Finley.

Ich riss die Augen auf. „Eine Woche?" Neugierig sah ich mich um. Nein, nirgends standen Pralinen herum. Auch keine Blumen oder Gute Besserung's Karten, wie in Filmen. Vorwurfsvoll drehte ich mich wieder zu Chase. „Ihr wart euch sogar für ein Packung Schokolade zu geizig."

„Was hättest du von der gehabt? Du warst weggetreten."

„Naja, aber jetzt hätte ich gerne Schokolade."

Finley stand auf. Es war offensichtlich, dass sie sich nicht allzu wohl fühlte. Woran genau das lag, konnte ich jedoch nicht sagen. „Ich lass euch dann mal alleine. Ich hab das Gefühl, ihr habt da was zu klären." Sie lächelte mich halbherzig an und bewegte sich auf die Türe zu. „Vielleicht schau ich später nochmal vorbei. Ich sag unserer Mutter, dass du wach bist."

„Bring mir Schokolade mit, wenn du wieder kommst!", rief ich ihr noch hinterher, aber sie antwortete nicht mehr. Dann fiel mein Blick auf den Couchtisch. Es war ein Schachbrett darauf aufgestellt. Mit gerunzelter Stirn wandte ich mich an Chase.

„Ihr habt gespielt?" Sein Blick schnellte zum Brett. Dann zuckte er mit den Schultern.

„Kleiner Zeitvertreib. Sie ist gut."

Ich kletterte vom Bett, wackelte zu dem Schachbrett und betrachtete es genauer. „Besser als gut. Sie hat dich geschlagen." Er wollte etwas darauf sagen, hielt aber die Klappe. Ich betrachtete ihn misstrauisch. „Ich war eine Woche weg. Willst du mir etwas beichten?"

Er grinste mich boshaft an. „Nein." Einen Augenblick betrachtete ich ihn noch forschend, in der Hoffnung, dass ihn ein Blick verraten würde, aber Chase konnte man nicht in die Karten schauen, also ging ich wieder an ihm vorbei und setzte mich.

„Was weißt du noch?", fragte Chase nach ein paar Sekunden und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Gedanken an das, was im Labyrinth passiert war, ließen mich erschaudern.

„Ich weiß, dass mir jemand ein Messer in den Bauch gestoßen hat." Meine Stimme war rau und ich räusperte mich. „Und dass Aidan mich gefunden hat, das weiß ich auch noch. Aber dann war ich weg." Ich konnte mich nur noch schemenhaft an einzelne Bruchstücke erinnern, jedoch wusste ich nicht, ob diese Erinnerungen real waren. Ich glaubte, mich an Canna's Stimme zu erinnern. Und Arthurs, als er wütend herumgeschrien hatte, aber ich wusste nicht, wieso. 

Als ich mich daran erinnerte, dass Aidan Chase eine verpasst hatte, sah ich auf. Auf seinem linken Wangenknochen konnte ich tatsächlich noch eine leichte Schwellung und einen blauroten Umriss erkennen.

„Nett", ich deutete mit dem Finger darauf. „Warum war Aidan so wütend auf dich?"

Chase betrachtete mich einen Augenblick lang. Beinahe schuldbewusst. Schließlich brach er den Blickkontakt ab. „Das Messer war vergiftet."

„Deshalb war Aidan nicht wütend auf dich."

„Du wärst fast gestorben!" Wütend sah er wieder auf. „Du wärst fast gestorben, und alles was dich interessiert ist, warum-" Er brach ab. Ich sah, dass sich seine Kiefermuskeln anspannten.

„Ich werde es so oder so rauskriegen", erwiderte ich. „Wenn du es mir nicht sagst, wird Aidan es tun."

Chase schüttelte den Kopf. „Mein Gott, du bist so überheblich."

Ich bin überheblich? Was an mir ist überheblich?"

„Alles!", rief Chase. „Alles an dir ist überheblich! Du bist überheblich. Und unvorsichtig! Wie immer, überheblich und unvorsichtig! Und du wärst fast gestorben." Ich blinzelte ihn irritiert an. „Schon wieder!"

„Bist du wütend auf mich, weil jemand versucht hat, mich umzubringen?"

„Nein, ich bin wütend, weil du nie auf mich hörst!" Er war nur noch zwei Armlängen von mir entfernt und brüllte mich an. Ich musste daran denken, dass ich vor knapp einem Jahr zurückgewichen wäre und den Kopf eingezogen hätte, aber jetzt gerade fielen mir nur ein paar rotzfreche Antworten ein, von denen ich gerne Gebrauch gemacht hätte, wenn Chase nicht mit seiner Predigt fortgefahren wäre. „Addie hatte eine Vision davon, dass du sterben wirst und ich habe Aidan gesagt, dass er dir gegenüber die Klappe halten soll."

Wieso?", fragte ich ungläubig und wurde selbst wütend.

„Weil du nie auf mich hörst!", schrie er noch einmal. „Ich möchte, dass du Addie vor Vaya warnst und du redest ihr ein, dass Dämonen gar nicht so schlimm sind. Ich versuche dich von deinem Dämon zu befreien, und du bringst dich um, um ihn zu beschützen. Ich bitte dich, Aidan nicht zu sagen, dass du noch lebst, und du tauchst vor seiner Türe auf. Ich rate dir, nicht mit Arthur nach Schottland zu gehen, und du beschließt, dass es eine gute Idee ist, einem Fremden zu vertrauen. Ich sage dir, was du tun sollst, und du ziehst los und machst das Gegenteil! Und das endet ausnahmslos jedes Mal in einem absoluten Chaos!"

Ich hatte Chase schon oft wütend erlebt, aber ich hatte noch nie so viel Angst in seinen Augen gesehen, die sich einfach nur durch Zorn bemerkbar machen konnte.

„Du wolltest nichts mehr mit mir zu tun haben", erinnerte ich nach einigen Sekunden bitter. „Du hast mich beschimpft, beleidigt, ignoriert-"

„Denkst du, das hat mir Spaß gemacht?!", feuerte er zurück.

„Der Gedanke kam mir", nickte ich eifrig.

Er fuhr sich übers Gesicht und kam noch einen Schritt näher, bevor er mir fest in die Augen sah. „Weißt du, was für eine Scheißangst ich jedes Mal habe, wenn ich nicht weiß, wo du bist, oder was du machst, oder wer gerade bei dir ist? Weil du eine einzige Zielscheibe bist, Beverly. Und unvorsichtig! Erst wäre Trish fast gestorben und jetzt du! Was kommt als nächstes? Ich kann nicht ständig in deiner Nähe sein und sicherstellen, dass du dich ruhig verhältst, damit dir und anderen nichts passiert, das musst du langsam selber schaffen!"

„Was denkst du, was ich für eine Scheißangst habe?!", schrie ich sauer zurück und sprang so plötzlich vom Bett auf, dass Chase zurückwich. „Ich war nie wichtig! Für niemanden oder irgendetwas. Ich war unbedeutend! Ein kleines Nichts, das eben da war und ab und zu dumme Sachen angestellt und sich in Schwierigkeiten gebracht hat. Und jetzt?!" Mir stiegen die Tränen in die Augen, als ich daran dachte, dass ich absolut nirgends auf dieser Welt sicher war. Denn ich hatte eine Gabe, die sonst kaum jemand hatte und die konnte ich auch nicht einfach so abgeben oder auslöschen. „Jetzt bin ich plötzlich für das Überleben meiner ganzen beschissenen Familie und vielleicht noch viel mehr Menschen verantwortlich! Jetzt bin ich plötzlich so wichtig, dass Leute mich nicht mehr wegen meines Dämons umzubringen versuchen, sondern weil ich Zaubersprüche schreiben kann! Weil ich mit etwas geboren wurde, das unfassbar selten ist. Denkst du ich will das? Dass es mir Spaß macht? Dass ich es toll finde in dieser Situation zu stecken? Ich will diese beschissene Gabe nicht!" Meine Kehle war bereits ganz aufgescheuert, so laut hatte ich meine ganze Wut, Angst und den Frust herausgeschrien. Aber jetzt waren die Wut und der Frust weg und übrig blieb Verzweiflung, die sich zu Tränen formte, obwohl ich versuchte, sie zurückzuhalten, weil ich es hasste vor anderen zu weinen. Insbesondere vor Chase. Doch je mehr ich dagegen anzukämpfen versuchte, desto weniger gelang es und letztendlich brach der Damm.

„Ich will nicht mehr ständig Angst haben", schluchzte ich. „Ich will auch nicht mehr ständig um euch Angst haben! Ich will mich nicht mehr ständig mit dir streiten. Ich will euch nicht mehr belügen müssen, um euch zu beschützen. Und ich tu wirklich alles, was ich kann, damit euch und niemandem sonst etwas geschieht, aber jedes Mal, wenn ich versuche, euch oder mich zu beschützen, geht alles zum Teufel! Ich will einfach ein stinknormales Leben haben! Ich würde auch für den Rest meines Lebens in einer Wellblechhütte wohnen und mich nur von Orangen und trockenem Brot ernähren, wenn das der Preis ist, alles ist besser als das hier!"

Chase betrachtete mich einen Augenblick lang. Dann machte er zwei Schritte auf mich zu und nahm mich so fest in die Arme, dass ich kaum noch Luft bekam. Und zum ersten Mal seit Wochen fühlte ich mich halbwegs sicher und geborgen und nicht ganz so alleine.

„Keine Lügen, keine Geheimnisse und keine dummen, waghalsigen Aktionen mehr, egal wie harmlos sie dir vorkommen, versprochen?", fragte er in meine Haare. „Du trennst dich nicht mehr einfach so von uns, wie in diesem bescheuerten Labyrinth. Das musst du mir versprechen, sonst... Sonst kann ich das nicht mehr."

Er würde sich weiter und weiter von mir entfernen, weil er es nicht ertragen würde, wenn mir etwas passieren würde. Das wollte er wirklich sagen, aber er schluckte es hinunter. Ich drückte ihn so fest ich konnte.

„Versprochen. Aber nur, wenn du versprichst, mich nie wieder so zu behandeln, wie in den letzten Tagen. Das kann ich nämlich nicht mehr."

„Dafür machst du zu viele dumme Sachen, sowas kann ich nicht versprechen", erwiderte er, woraufhin mir ein amüsiertes Schnauben entfuhr und zwei weitere Tränen meine Wangen hinunter liefen. „Aber ich werd mir Mühe geben."

„Danke", lächelte ich und schloss die Augen, einfach, um das Gefühl seiner beschützenden Umarmung noch einen Moment lang auf mich wirken zu lassen. Einige Sekunden standen wir noch so da, bevor Chase sich von mir löste und schief lächelnd die Tränen von meinem Gesicht wischte.

„Das schreit doch nach Alkohol", meinte er dann.

Ich konnte nur schnaubend die Augen verdrehen, aber mir war kalt und ich zitterte, also war ein kleiner Drink sicher nicht verkehrt. Oder sehr verkehrt, als ich daran dachte, dass ich seit einer Woche nichts gegessen hatte. Aber andererseits hatte Chase mir gerade einen zehnminütigen Vortrag darüber gehalten, dass ich nie auf ihn hörte und mich ihm immer widersetzte.

„Ich weiß nicht, wer mich angegriffen hat", sagte ich nachdenklich, als Chase zu dem wagenähnlichen Gestell hinüber ging und seinen Zeigefinger wählerisch über den Karaffen hin und her bewegte.

„Wir auch nicht, aber es war vermutlich jemand, der bereits hier im Schloss war."

Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Wie bitte? Wie kommst du darauf?"

„Das war die Vermutung deiner Maulwurfgeschwister."

„Maulwurfgeschwister?"

Er entschied sich für ein dunkles, rotbraunes Getränk und goss es in zwei Gläser. „Da sich angeblich keiner deiner Geschwister verplappert hat und der Chailis jeden Gast mit bösen Absichten enttarnt hätte, glauben alle, dass der Angreifer bereits hier im Schloss war. Die meisten deiner Geschwister haben das Schloss schon seit Wochen nicht mehr verlassen und haben ihr Blut in den Kelch tropfen lassen, bevor sie wussten, dass du existierst."

„Oh mein Gott...", hauchte ich erschrocken. Chase drückte mir ein Glas in die Hand.

„Der Kelch kann nur böse Absichten filtern, die bereits bestehen. Aber vor wenigen Wochen wusste kaum jemand, dass es dich überhaupt gibt."

„Und dann bin ich plötzlich auf ihrer Türschwelle aufgetaucht." 

„Der Angriff auf dich hat sich vermutlich erst in jemandes Kopf aufgetan, als er oder sie wusste, wer du bist und was du mit deiner Magie anrichten kannst. Als wir hier angekommen sind."

„Dann kann es doch fast jeder sein, oder?"

„Es grenzt die Zahl ein bisschen ein. So um die hundert", erwiderte er amüsiert und trank einen Schluck.

Ich schüttelte den Kopf. „Warum träufelt nicht einfach jetzt jeder sein Blut in den bescheuerten Chailis? Dann wüssten wir, wer es ist, oder nicht?"

„Das ist nicht so leicht, Bevy."

„Warum ist es nicht einfach?", schimpfte ich. „Warum kann nicht einmal etwas einfach sein?"

Er seufzte. „Wer auch immer dich verletzt hat, hegt bestimmt keinen Hass gegen die ganze Brooklynn-Familie. Der Chailis kann nur Feinde enttarnen, aber wenn dich zu verletzen die einzig böse Absicht war, dann ist diese jetzt abgehakt und der Kelch kann keine feindliche Absicht mehr enttarnen, bis diese Person einen neuen... Anschlag auf dich plant."

Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Woher zum Teufel weißt du das alles?"

„Finnea." Er zuckte mit den Schultern. „Sie ist jetzt sowas wie meine geheime Informationsquelle."

„Finnea... oder Finley?", hakte ich nach und zog eine Augenbraue nach oben.

Finn-e-a", entgegnete Chase, hob sein Glas und führte meins mit seinem Zeigefinger an meinen Mund. „Und jetzt lass uns darauf trinken, dass wir bis zum Ende unserer Tage keinen Plan haben werden, was hier eigentlich abgeht. Cheers, Bevy!"

Ich verzog das Gesicht. Was auch immer es war, das Chase mir da einflößte, es war stark und nicht annähernd so gut, wie der andere Alkohol, den ich ab und an hier trank. Chase schien das nicht zu stören, aber wahrscheinlich hatte er jegliche Geschmacksnerven bereits abgetötet. Ich stellte mein Glas auf den Nachttisch.

Als ich mich wieder zu Chase wandte sah ich an der Türe jemanden stehen. Ganz plötzlich und vollkommen ruhig stand sie da und verpasste mir einen halben Herzinfarkt.

Meine leibliche Mutter.

Ich starrte sie so erschrocken an, dass Chase sich umdrehte, den Blick aber sofort wieder abwandte. Er schien beinahe genervt. Ich schluckte schwer und wartete darauf, dass sie etwas sagte. Iona hingegen fixierte mich eindringlich.

„Ich denke, es ist Zeit, dass wir uns unterhalten."

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