26
Aidan
Das Labyrinth machte mir zu schaffen. Die Magie in ihm machte mir zu schaffen.
Brikeena hatte Beverly zwar vorgewarnt und gemeint, dass die bestehenden Magiespuren heftig waren, aber ich hätte nie gedacht, dass ich sie in einem solchen Ausmaß wahrnehmen würde. Ich glaubte jedenfalls nicht, dass ich mich in meinem ganzen Leben jemals so lebendig und präsent gefühlt hatte, wie in diesem Augenblick.
Doch, einmal vielleicht. Als ich mit fünfzehn mit meinen Eltern und Addie zwei Wochen in Norwegen gewesen war, um einen entfernten Verwandten zu besuchen und Addie die glorreiche Idee gehabt hatte, im Wald spazieren zu gehen. Und da die Erwachsenen unter sich hatten bleiben wollen, hatte ich sie begleiten müssen. Die Wälder und Landschaften in Norwegen waren wunderschön, besonders im Winter mit all dem Schnee, und ihr bloßer Anblick hätte mir gereicht, aber wir waren an einem nicht vollständig zugefrorenem See angekommen, und meine Schwester hatte mich zu einer kleinen Wette herausgefordert: Wer es länger in dem kalten Wasser aushalten würde. Einsatz war lediglich das letzte Stück Kuchen gewesen, das Zuhause im Kühlschrank gestanden hatte, aber es war ein verdammt guter Kuchen gewesen. Also hatten wir uns bis auf die Unterwäsche ausgezogen und waren in das Wasser gestiegen. Es war grauenvoll und fantastisch zur selben Zeit gewesen. Das Wasser hatte sich wie tausende Nadelstiche angefühlt. Mein Blut war durch meine Adern gerauscht, und mein Herzschlag hatte sich beschleunigt und alles dafür getan, mich warm zu halten. Natürlich hatte ich damals noch nicht gewusst, dass es Dämonenblut gewesen war, das mich bestimmt nicht hätte draufgehen lassen. Nur war zu der Zeit alles noch so normal gewesen.
Das war der Moment gewesen, in dem mir klar geworden war, dass ich mich zum ersten Mal lebendig gefühlt hatte. Wirklich lebendig. Ich hatte alles um mich herum klarer wahrgenommen, als je zuvor. Ich hatte erkannt, dass ich mich niemals auf der Couch vor dem Fernseher, gemütlich in eine Decke eingewickelt, mit einer Tasse Kaffee, lebendig fühlen würde.
Addie hatte verloren. Sie hatte es keine Minute in dem Wasser ausgehalten, wohingegen ich, überwältigt von diesem Klarheitsgefühl, wesentlich länger im Wasser geblieben war. So lange, bis ich die Kälte gar nicht mehr gespürt und gewusst hatte, dass ich den See verlassen musste, wenn ich keine körperlichen Schäden davon tragen wollte. Unsere Mutter war natürlich ausgerastet und hatte uns beiden eine ordentliche Erkältung und Blasenentzündung gewünscht, als wir in den halbnassen Sachen zitternd wieder nach Hause gekommen waren. Mir jedoch war nichts passiert, was dem Dämonenblut zuzuschreiben war, und Addie hatte nach diesem Tag lediglich einen Schnupfen abbekommen.
Die Magie in diesem Irrgarten fühlte sich genauso wachrüttelnd an. Vielleicht noch viel wachmachender. Denn zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, meine eigene Magie zu spüren, die mir von meinem Dämon verliehen wurde. Ich war mir nicht sicher, ob ich darauf zugreifen konnte, aber dass sie da war, wusste ich. Es fühlte sich beinahe so an, als wäre sie in einer Kiste eingesperrt und mir fehlte der richtige Schlüssel, um sie zu befreien. Aber sie tobte in mir und wollte unbedingt raus, soviel stand fest.
Ich fragte mich, ob es Beverly ähnlich ging.
Die ganze Zeit konzentrierte ich mich nur darauf, meine Freundin zu finden. Es war so ziemlich das Einzige in meinem Kopf. Und an jeder Abzweigung hatte ich das unumstreitbare Gefühl, in eine bestimmte Richtung gezogen zu werden. Es war kaum zu beschreiben. Ich konnte es nur mit der Empfindung vergleichen, sich nicht sicher zu sein, die Haustüre abgeschlossen zu haben. Man muss einfach zurück und nachsehen. Dieser innere Zwang, dem man hilflos ausgeliefert ist und sich am besten einfach widerstandlos ergibt. Mit jedem Schritt fühlte es sich so an, als würde ich Beverly gleich um die nächste Ecke herum stehen sehen.
Als das Gefühl in mir zu brodeln begann, traute ich mich schon fast nicht mehr, um die Ecke zu schauen, weil ich befürchtete, sie wieder nicht gefunden zu haben. Und ich sollte recht behalten. Beverly fand ich nicht.
Dafür ihren Schuh.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen ging ich langsam darauf zu und fragte mich, ob ich im falschen Film spielte. Da stand er, mitten in der Kreuzung vierer Wege. Und es war eindeutig Bev's Schuh, denn der Absatz war bis zur Hälfte mit Schmutz und nasser Erde bedeckt, so als hätte die damit in der Wiese herumgestochert.
Ich sah mich um und fragte mich, was sie mit dem abgestellten Teil wohl hatte bezwecken wollen.
Wenigstens schien das Labyrinth zu denken, dass Beverly und ich zusammen gehörten, wenn es mir schon ihren Schuh wie einen Brotkrumen auf dem Silbertablett servierte, oder?
Also hob ich den Schuh auf und folgte weiter dem drückenden Gefühl, das mich nach rechts trieb. Ich fragte mich, wie lange ich schon zwischen den hohen Hecken herumirrte. Ich fragte mich, ob Chase sich auch von einem Mädchen hatte breitschlagen lassen, und ob das Labyrinth für ihn die Würfel gerollt und ihm seine Traumfrau zugeschoben hätte. Ich fragte mich, ob Trish schon wieder draußen war. Und ich fragte mich, warum Beverly an eine Hecke gelehnt, blutend auf dem Boden saß.
Mir rutschte das Herz in die Hose.
Mein erster Impuls war zu schreien, was unter genauerer Betrachtung natürlich ziemlich sinnlos und dämlich war. Sofort fühlte ich mich an den Tag zurückkatapultiert, an dem Addie sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, weil sie mit all den schrecklichen Dingen, die ihr geschehen waren, nicht mehr klargekommen war. Der einzige Unterschied war nur, dass ich Beverly wohl einige Minuten schneller als Addie gefunden hatte, denn sie war nicht bewusstlos. Sie sah einfach nur wasserleichenblass aus und zitterte am ganzen Körper, obwohl es in diesem Labyrinth vergleichsweise warm war.
„Bev!" Anstatt nach Hilfe zu schreien, rief ich reflexartig ihren Namen aus, ließ den Schuh fallen und stürzte zu ihr.
Mir war egal, dass sie blutete.
Mir war egal, dass sie verletzt war.
Mir war egal, wie das hatte passieren können.
Mir war nur wichtig, dass sie lebte.
Sie lebte und atmete und Addie's Vision war nicht eingetreten. Das würde ich nicht zulassen.
„Du hast mich gefunden." Sie lächelte mich schwach an und ich konnte gar nicht anders, als einen Witz zu reißen.
„Du hast deinen Schuh verloren, Cinderella."
Sie musste lachen, verzog aber sofort schmerzvoll das Gesicht und sog scharf die Luft ein, was mich wieder an den Ernst der Lage erinnerte.
Sie lebt.
„Kannst du laufen?", fragte ich und versuchte sie irgendwie zu stützen. „Wir müssen dich so schnell wie möglich hier rausbringen."
Sie biss die Zähne zusammen und nickte. Ich wollte das Blut, das die rechte Seite ihres Kleides tränkte, nicht allzu erschrocken anstarren, um ihr nicht noch mehr Angst zu machen.
Sie lebt.
„Wie kommen wir hier raus?", krächzte sie und legte einen Arm um meine Schulter.
„Keine Ahnung", gab ich zu. „Aber wir haben einander gefunden. Lange kann es nicht mehr dauern, bis wir am Ausgang sind, oder?"
An diese Stelle würde ich gerne eine Notiz für mein zukünftiges Ich verfassen: Fordere niemals das Universum mit rhetorischen Fragen heraus. Danke!
Denn natürlich lag der Ausgang nicht hinter der nächsten Ecke. Auch nicht hinter der Übernächsten. Und dahinter auch nicht. Nach der sechsten Abzweigung konnte Beverly sich nicht mehr auf den Beinen halten und fiel keuchend zu Boden.
„Es war doch klar, dass irgend so eine Scheiße passiert, oder?", fragte sie mit flachem Atem.
„Sonst wäre es doch auch langweilig, oder?" Vorsichtig löste ich für einen Augenblick ihre Hände von der Wunde, in der Hoffnung, zu erkennen, was passiert war, aber es blutete zu sehr und ich drückte ihre Hände rasch wieder dagegen. Ich musste meine Frage nicht aussprechen.
„Ich weiß nicht was passiert ist", wisperte sie erschöpft. „Es ist so schnell geschehen, ich habe nicht einmal eine Person wahrgenommen."
Ich versuchte zu ignorieren, dass ihr die Lider deutlich schwerer wurden. Dass ihre Haut kühler wurde, sie zu zittern aufgehört hatte und ihre Stimme nur noch ein Flüstern war.
Sie lebt. Sie lebt. Beverly lebt.
Ich sah mich um. Nutzlos, denn natürlich war niemand hier.
„Hey, wach bleiben!", mahnte ich, als ich merkte, dass ihr die Augen zufielen.
„Es fühlt sich genau gleich an", wisperte sie. „Wie damals, als..."...ich mich umgebracht habe. Mir lief es ganz kalt den Rücken hinunter. Und auf einmal brüllte ich doch wie ein Wahnsinniger nach Hilfe. Hilfe, die natürlich nicht kam. Je mehr ich das realisierte, desto größer wuchs meine Angst. Normalerweise war ich die Ruhe in Person, wenn schreckliche Dinge passierten. Ich war der rational denkende Pol. Jemand, der anderen sagte, was sie in solchen Situationen zu tun hatten. Das war bei Addie so gewesen, es war bei Trish so gewesen. Aber in diesem Moment fühlte ich mich einfach nur hilflos und von der ganzen Welt im Stich gelassen.
„Gott!", knurrte ich und fuhr mir verzweifelt durch die Haare. „Du hast es gar nicht verdient, dass Trish so sehr an dich glaubt!", rief ich gen Himmel. „Du bist scheiße! Ich hasse dich, hörst du?!"
Beverly tastete erschöpft nach meiner Hand. „Wenigstens", brachte sie leise hervor. „Hast du keinen Grund... jetzt mit mir Schluss zu machen." Sie brachte gerade noch so ein Lächeln zu Stande.
„Bitte nicht sterben und gleichzeitig dumme Witze reißen, ja?", bat ich sie.
„Wo ist Chase, wenn man ihn mal braucht?" Gute Frage. Der Vollidiot wäre vielleicht wirklich ein bisschen nützlicher gewesen als ich, denn ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. „Seine Witze sind immer... besser." Sie klang atemlos. Ihr fielen die Lider zu. Mir zog es die Brust zusammen und meine Augen begannen zu brennen.
„Bitte!", flehte ich. Zu Gott. Zum Universum. Zur karmischen Gerechtigkeit. „Bitte. Alles, was ich will, ist ein verdammter Ausgang aus diesem Labyrinth, bitte! Das kann doch nicht zu viel verlangt sein!" Am liebsten hätte ich mich jetzt neben Beverly zusammengerollt und darauf gehofft, dass sie auf magische Weise geheilt würde. Auch wenn mir nur allzu schmerzlich bewusst war, dass das nicht passieren würde.
Ich zuckte zusammen.
Da war jemand.
Ich sah mich um.
Da war jemand, der redete.
Zumindest hörte ich eine dumpfe Stimme.
Nein. Zwei dumpfe Stimmen.
Zwei dumpfe Stimmen, die sich durch das Labyrinth schlängelten und sich näherten. Ich hatte jedoch das Gefühl, dass diese Geräusche ziemlich weit entfernt waren. Fast so, als würde mich eine unsichtbare Plexiglasscheibe von den Stimmen trennen.
Hatte sich gerade mein Supergehört aktiviert? Ich versuchte mich auf das dumpfe Gemurmel zu konzentrieren, und nach nur wenigen Sekunden fühlte es sich so an, als würde ich mich durch eine wattige, dicke Wand kämpfen. Die Stimmen waren für mich deutlich hörbar und jedes Wort so klar, als stünden Chase und Finley direkt neben mir.
„Es ist nicht meine Schuld, wenn das Labyrinth erkennt, dass du dich unsterblich in mich verliebt hast, Prinzesschen", hörte ich Chase sagen. Finley begann boshaft zu lachen.
„Natürlich. Ich bin die hoffnungslos verliebte von uns beiden."
„Ich bin es nicht", erwiderte Chase und ich konnte sein Schmunzeln in seinen Worten hören. „Und im Gegensatz zu dir habe ich auch nicht die Möglichkeiten, ein magisches Labyrinth zu verhexen, damit es mich zu dir führt."
Finley schnappte ungläubig nach Luft. „Du unterstellst mir, das Spiel sabotiert zu haben?" Chase gab nichts darauf, aber ich konnte mir vorstellen, dass er sie nur angrinste. „Erstens, kann ich das Labyrinth nicht verzaubern. Der bereits bestehende Zauber ist zu stark, da müsste schon ein wahrer Künstler ans Werk, um den Zauber meines Vaters zu übertrumpfen, und jemanden zu finden, den man eigentlich gar nicht finden soll. Und zweitens würde mich interessieren, wen du in diesem Labyrinth erwartet hast, zu finden."
„Deine Schwester."
„Ich habe viele Schwestern."
„Die Blonde."
Finley seufzte angestrengt und ich war mir sicher, dass sie die Augen verdrehte. „Canna, Brikeena, Finnea, Innis-"
„Finnea", unterbrach Chase.
„Aha", machte Finley nur belustigt. Aber es hatte noch ein anderer Ton in ihrer Stimme gelegen. Einen, den ich nicht so recht identifizieren konnte. Es war entweder Desinteresse oder Gekränktheit gewesen.
Ich wollte unbedingt versuchen, die beiden auf magisch, telepathische Weise zu erreichen, nur wusste ich nicht, ob ich das konnte. Und wenn ich es gekonnt hätte, hätte ich mir erst einmal eine Anleitung für diese Fähigkeit besorgen müssen.
„Ja, ich hab gehört, dass sie auch auf mich steht", fuhr Chase fort. „Wärst du nicht glücklich, wenn ich in deine Familie einheiraten würde, Prizesschen?"
„Chase, ich könnte mein Glück kaum fassen", meinte sie sarkastisch. „Und hör auf, mich Prinzesschen zu nennen."
Einen Augenblick lang war es still und ich bekam Angst, dass ich die beiden verloren hatte.
„Warum siehst du dich eigentlich die ganze Zeit um?", hakte Chase dann nach.
„Ich halte nach Myron Ausschau. Das Labyrinth hat sich eindeutig vertan."
„Du suchst nach deinem Waschlappen von Mann? Niedlich."
„Ist dein Ego wirklich so klein, dass du auf allen Menschen herumhacken musst, um dich besser zu fühlen?"
„Lieber ein zu kleines Ego, als ein zu kleiner-"
„Stopp!", schnitt Finley ihm das Wort ab. „Ich weiß, was du sagen willst, vielen Dank."
„Bedank dich doch lieber erst, wenn du wirklich weißt, wovon ich rede."
Sie seufzte angestrengt. „Ein Wort noch, und ich verwandle deinen Ach-so-tollen-Wunderpenis in eine Stecknadel." Gerade als Chase noch etwas darauf erwidern konnte, sog Finley scharf die Luft ein. „Oh mein Gott!"
„Aidan!", hörte ich Chase erschrocken aufatmen und öffnete die Augen. Ich hatte nicht bemerkt, dass die beiden hier waren. Und auch wenn ich mir zu Beverly's Rettung bestimmt jemand anderes als Finley erhofft hatte, so war sie immer noch besser, als gar nichts.
Doch als ich Chase sah, legte sich ein Schalter in meinem Kopf um und ich spürte nur noch Wut. So sehr ich mir vorhin auch gewünscht hatte, jemanden bei mir zu haben...
„Das ist deine Schuld!", knurrte ich, wollte aufspringen und ihm eine reindonnern.
„Meine?!", rief er ungläubig aus. „Du solltest doch auf sie Acht geben! Du solltest auf sie aufpassen!" In seinen Augen spiegelte sich Ärger.
„Das hast du mir zugeschoben, damit du dich nicht drum kümmern musst! Du hast gesagt, wir sollen ihr nichts sagen, du hast gesagt, ich soll ihr nichts sagen! Und was ist passiert?"
„Wer hat sie denn in dieses beschissene Labyrinth geschleift?"
„Hey!", schrie Finley sauer dazwischen, die zu Beverly gegangen war und neben ihr auf dem Boden saß. „Beruhigt euch gefälligst, für Schuldzuweisungen haben wir später noch Zeit! Ich kann ihr nicht helfen, meine Heilzauber funktionieren nicht."
„Warum? Bist du eine so miserable Hexe?", fragte Chase.
„Stecknadel", mahnte sie und wandte sich wieder zu Beverly. „Ich weiß nicht, warum ich nichts ausrichten kann. Meine Heilzauber waren nie die besten, aber so eine kleine Wunde sollte mir eigentlich keine Probleme bereiten. Irgendwas stimmt hier nicht."
„Toll, haben wir auch einen Plan B?", fragte ich barsch.
„Wir müssen sie zu Arlen bringen, bevor sie verblutet", erwiderte sie schlicht.
„Gute Idee, und wie kommen wir hier raus?", knurrte ich aufgebracht. Finley sah mich nachdenklich an.
„Nette Augenfarbe", meinte sie dann und ich stutzte.
„Was?"
„Du bist ein Halbdämon?"
Reflexartig kniff ich meine Augen zusammen und versuchte mich irgendwie zu erden, um das silberne Leuchten zu vertreiben. Es nervte mich, dass ich keinerlei Kontrolle darüber hatte, wann sich die Glühbirnen einschalteten.
„Wir hätten euch gar nicht finden dürfen...", fuhr sie fort. „Sowas macht das Labyrinth nicht." In Gedanken versunken schüttelte sie den Kopf. Dann sah sie sich wie ein aufgeschreckter Hase auf dem Feld um, sprang auf, raffte ihr Kleid und lief bis zur nächsten Abzweigung.
„Wo willst du hin?", rief Chase. Sie drehte sich um.
„Der Ausgang kann nicht weit entfernt sein."
„Was meinst du?", fragte ich verwirrt.
Sie stöhnte genervt auf. „Keine Zeit für großartige Erklärungen, wenn wir Maeve zu Arlen bringen wollen, bevor sie stirbt." Da hatte sie recht. „Kommt schon, bewegt euch!"
Das ließ ich mir nicht zwei Mal sagen. Ich hob die bewusstlose Beverly hoch und folgte mit Chase gemeinsam Finley. Wir liefen nur zweimal um die Ecke und ich konnte meinen Augen nicht trauen, als ich tatsächlich den Ausgang erblickte. An so viel Glück hatte ich schon gar nicht mehr geglaubt.
„Okay", meinte Finley und sah sich nervös um, als wir uns beeilten zum Schloss zu kommen. „Wir müssen verhindern, dass sie jemand sieht." Obwohl ich nichts mehr wollte, als Beverly zu jemandem zu bringen, der sie auf magische Weise heilen konnte, wusste ich natürlich, dass Finley recht hatte. Irgendjemand musste bereits wissen, wer Beverly wirklich war. Es musste niemand sonst erfahren, was im Labyrinth passiert war. Deshalb mussten wir im Schloss immer wieder anhalten und darauf warten, bis Finley sichergestellt hatte, dass sich niemand in den Gängen befand. Sie lugt immer wieder vorsichtig um die Ecke. Dann passierten wir den Flur.
Nur einmal wären wir fast in zwei Gäste hineingerannt, die von Canna, die den Ausgang im Labyrinth offensichtlich schneller gefunden hatte als wir, durch das Schloss geführt wurden. Als sie uns sah sog sie erschrocken die Luft ein, reagierte aber schneller, als ich es ihr zugetraut hätte, denn sie drehte sich mit einem breiten Lächeln zu den Gästen, die uns nicht bemerkt hatten und fragte sie, ob sie die köstlichen Obsttörtchen schon probiert hatten. Als die beiden verneinten und Canna folgten, winkte sie uns hektisch weg. Das restliche Stück schafften wir ohne Unterbrechungen.
„Es ist Maeve!", kündigte Finley an, als wir Arlen's kleines Einstein-Labor betraten.
„Wow, jetzt schon?", fragte er und stand von seinem Stuhl auf. „Ich hab eigentlich gedacht, dass sowas erst ab der sechs-Monats-Marke passiert."
Eine Handbewegung genügte und einer der Tische räumte sich wie von Zauberhand frei, woraufhin er mir bedeutete, meine Freundin darauf abzulegen.
„Lass die dummen Witze!", fauchte Finley. „Meine Heilzauber waren wirkungslos, irgendwas stimmt hier nicht. Unsere Mutter kann sie nicht noch einmal einfach so zurückholen, wenn sie stirbt, das weißt du. Dann ist es vorbei!" Ich wusste nicht, warum mich ihre Worte so schockierten. Vielleicht, weil ich in der hintersten Ecke meines Kopfes immer den Gedanken gehabt hatte, dass Beverly nicht sterben würde. Dass die Hexen sie wieder zurückholen würden.
„Kein Grund so rum zu keifen, dadurch werd ich auch nicht schneller", erwiderte Arlen genervt, beugte sich über Beverly's Wunde und inspizierte sie für einen Moment. Dann rümpfte er plötzlich die Nase und sah irritiert zu Finley. „Riechst du das auch?"
Sie trat irritiert neben ihn und schien nachzudenken. „Das riecht wie das Zeug, das du manchmal mischst. Ist das Baldrian?"
„Sie wurde mit einem Messer verletzt", erläuterte Arlen so gefasst wie möglich. „Du konntest ihr nicht helfen, und ihre Wunde riecht nach Baldrian und Wurmfarn. Das Zeug ist nicht nur verdammt giftig und tödlich, sondern-"
„Es blockiert Zauber", beendete Finley seinen Satz schockiert, als sie begriff. Arlen nickte.
„Deine Heilzauber waren nicht das Problem. Ich kann sie auch nicht heilen. Kein Zauberer könnte das. Auch nicht unsere Mutter." Er holte Verbände aus einem Schrank und wickelte sie um Beverly's Wunde, so professionell, dass ich mich ernsthaft fragte, ob er gelernt hatte, solche Dinge zu tun.
„Fin!" Canna stand in der Türe. „Es fragen alle nach dir."
Finley warf Arlen einen raschen Blick zu. „Geh", nickte er und Canna und Finley tauschten Plätze.
„Was kann ich tun?", fragte sie und betrachtete Beverly ängstlich.
„Du kannst Corona und Arthur suchen. Ich brauche noch ein paar Supergehirne."
„Sollte mich das kränken?"
„Immer", erwiderte er, woraufhin Canna die Augen verdrehte, sich aber beeilte und den Raum wieder verließ.
„Also", begann Chase mit zusammengezogenen Augenbrauen, als sie verschwunden war. „Verstehe ich das richtig, dass ihr Beverly nicht helfen könnt?"
„Ich kann mich nur um das Gift kümmern", meinte Arlen und begann in seinen Schränken mehrere kleine Glasfläschchen herauszuholen, in denen sich verschiedenfärbige Flüssigkeiten befanden. „Aber ihre Wunde kann ich nicht heilen, solange das Gift in ihrem Körper ist, weil es jeden Zauber blockiert."
„Also, entweder bringt sie das Gift um, oder sie verblutet?", hakte ich nach, um mir der Situation bewusst zu werden. Nie hätte ich gedacht, Chase tatsächlich eine reinzuhauen, aber genau das passierte, als mir klar wurde, dass Beverly's Überlebenschancen verdammt gering waren. Ich hätte ihm gerne noch eine verpasst, wenn Beverly in diesem Moment nicht zu krampfen begonnen hätte.
„Verdammt!", fluchte Arlen, ließ alles stehen und liegen und durchwühlte hektisch alle Läden und Schränke.
„Was passiert mit ihr?", hörte ich mich sagen.
„Das ist das Gift. Es verbreitet sich schneller, als ich dachte." Er sah sich um. Sein Blick fiel auf ein kleines Glasfläschchen, das auf seinem Tisch stand. Es war mit einer dunkelblauen, fast violetten, klaren Flüssigkeit gefüllt. Er schien mit sich zu ringen und ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte.
„Mist!" Er stürzte auf das Fläschchen zu, kramte in einer Schublade nach einer Spritze, zog die Flüssigkeit damit auf und ein Teil von mir fragte sich, ob er überhaupt dazu autorisiert war, jemandem etwas zu spritzen. Aber er stach nicht völlig ahnungslos in ihren Arm, sodass ich mich erneut fragte, ob Hexen und Zauberer vielleicht ein Leben unter Menschen, abseits des Schlosses führten und richtige Menschenjobs und Ausbildungen hatten. Allzu unwahrscheinlich war es vermutlich nicht.
Angespannt betrachtete ich Beverly, deren Zuckungen immer weniger wurden und schließlich ganz aufhörten. Arlen ließ erleichtert den Kopf hängen. In diesem Moment kam Canna zurück mit Arthur, Acacia und Corona im Schlepptau, die allesamt ungläubig auf Beverly starrten.
„Was ist passiert?", bellte Corona und Arlen erläuterte knapp die Situation. Dann wandte er sich mit entschuldigendem Blick an Acacia.
„Ich musste ihr das Gegengift verabreichen. Es tut mir leid."
Für einen Augenblick sagte niemand etwas. Bis sich Arthur regte. „Acacia's Gegengift?", hakte er mit zusammen gekniffenen Augen nach. „Du hast ihr den Trank gegeben, der für Acacia war?"
„Arthur", begann das rothaarige Mädchen, aber er beachtete sie gar nicht. Die Wut, die in seinen Augen stand, kannte ich nur zu gut, denn ich hatte sie vor nicht einmal einer Minute Chase gegenüber verspürt.
„Du hast doch noch einen, oder?"
Arlen schüttelte den Kopf und Arthur starrte ihn an.
„Es dauert fast drei Monate so einen Trank zu brauen, hast du den Verstand verloren?", fragte er ungläubig. „Ist dir nichts Besseres eingefallen?"
„Sie wäre fast gestorben!", entgegnete Arlen verteidigend und deutete auf Beverly. „Das Gift hat bereits ihr Herz und ihr Gehirn erreicht, was hätte ich denn machen sollen?"
„Sie stirbt auch!", rief Arthur. „Acacia stirbt auch!" Ich sah zu dem Mädchen hinüber, aber sie senkte den Blick.
„Schluss damit!", ging Corona dazwischen. „Wir überlegen uns später etwas wegen Acacia, aber wenn du dich jetzt nicht zusammen reißen kannst, dann raus hier!", orderte Corona. Arthur fixierte Arlen aufgebracht und ich rechnete damit, dass gleich noch jemand ein blaues Auge haben würde. „Raus!", knurrte Corona noch einmal und diesmal hörte Arthur auf sie.
„Acacia-", begann Arlen und klang so unfassbar schuldig, dass es mir wehtat. Doch sie lächelte ihn nur müde an.
„Hör auf, du musst dich nicht entschuldigen. Ich bin austauschbar. Beverly ist es nicht."
„Du bist nicht austauschbar."
„Aber ich bin nicht so wichtig." Sie trat studierend an Beverly heran. „Weißt du schon, wie du ihr helfen kannst?"
Er wollte augenscheinlich noch etwas sagen, ließ es aber sein. „Ich muss ihre Wunde heilen, aber das kann ich nicht, solange das Gift in ihrem Körper meine Zaubersprüche blockiert."
„Aber bis das Gift vollständig aus ihrem Körper draußen ist, können Wochen vergehen", meinte Corona. „Sie überlebt doch keine weitere Stunde."
„Könntest du die Wunde denn ohne Gift heilen?", fragte Acacia und Arlen nickte.
„Ich denke schon. Mir fallen einige Zauber ein, die wirken könnten, aber garantieren kann ich nichts."
„Was haltet ihr dann von einem Transferzauber?", fragte sie in die Runde. Arlen betrachtete sie grübelnd.
„Ein Transferzauber? Für eine Wunde?"
„Ja. Wer beherrscht sowas am besten?"
„Erin ist ziemlich gut bei Transferzaubern", meinte Corona. Ich war mir sicher, dass sie es genauso gekonnt hätte, sich aber zu wichtig nahm, um Beverly's verdammtes Leben zu retten.
Acacia machte sich auf die Suche nach Erin und kam einige Minuten, in denen ich nur Beverly's kalte Hand gehalten und zu Gott gebetet hatte, mit Erin wieder. Ich trat ein Stück zur Seite.
„Und du kannst mir versichern, dass ich dabei nicht draufgehe?", hakte Erin skeptisch nach und betrachtete Beverly.
Arlen schüttelte den Kopf. „Du hast gestern meinen Schokopudding gegessen. Du hast Glück, wenn ich nur eine Narbe zurücklasse." Feindselig lächelte Erin seinen Bruder an und griff nach Beverly's Hand. Ich hielt gespannt die Luft an und Erin murmelte ein paar Worte und begann binnen Sekunden an der Stelle zu bluten, an der Beverly ihre Verletzung gehabt hatte.
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