17
Beverly
Als ich auf dem Weg nach unten war, konnte ich die gut gelaunten Stimmen von Trish und Aidan schon von weitem hören. Ich konnte zwar nicht verstehen, was sie sagten, aber sie lachten auch mehr, als dass sie redeten. Als ich im zweiten Stock um die Ecke bog, vorbei an der Bibliothek, konnte ich die beiden auch sehen. Dass sie so gut drauf waren, machte mir lediglich noch schlechtere Laune.
Ich war eben erst aufgewacht, weil ich beim Lesen mal wieder eingeschlafen war. Natürlich hatte ich nicht einmal die Hälfte der Bücher gelesen, die ich hätte lesen sollen. Und das machte mich nervös. Ich wusste nicht, was mich jetzt erwartete. Vielleicht so eine Art Hexen-Abschlussprüfung? Wobei ich mir nicht vorstellen konnte, dass ich eine solche bestehen würde.
„Bev!", rief Trish aufgedreht, als sie mich sah und lief auf mich zu. Ich war über ihre Euphorie überrascht. „Du bist endlich mal aus deinem Zimmer gekommen!"
„Ist das so spannend?", hakte ich verwirrt nach und mein Blick glitt zu Aidan, der aufgeholt hatte. Verwirrt kniff ich die Augen zusammen. „Du hast dir die Haare geschnitten."
„Ich war es nicht", erwiderte er. „Das wäre wohl in die Hose gegangen. Trish hat sie mir geschnitten."
Trish lächelte mich stolz an. Ich wünschte ich hätte zurück lächeln können. „Er riecht wie eine Blumenwiese. Und warum schneidest du ihm die Haare?", fragte ich stattdessen ziemlich scharf und ihr Lächeln verschwand.
„Weil... Er einen Haarschnitt nötig hatte?" Sie sah mich unsicher an. Ich musste sie eine ganze Weile ziemlich wütend angestarrt haben, ohne es zu bemerken, denn sie tauschte verwirrte Blicke mit Aidan, der auch nicht recht zu verstehen schien, was los war. „Stört dich das etwa...?"
„Nein", sagte ich schnell und schüttelte den Kopf. „Ich- Ich mochte die langen Haare einfach gerne..." Diesmal hatte ich es nicht geschafft, Trish anzulügen und das merkte sie auch, aber anderes brachte ich nicht zustande, besonders, da ich selbst nicht wusste, warum es mich so wütend machte, dass sie ihm die Haare geschnitten hatte. Ich kannte dieses Gefühl nur zu gut, aber wollte es nicht benennen. Denn das letzte Mal, als ich es in meinem Magen wie Glut gespürt hatte, hatte ich herausgefunden, dass Aidan und Trish vor ein paar Jahren miteinander rumgemacht hatten.
„Ich muss jetzt nach unten", murmelte ich und drängte mich eilig zwischen ihnen durch.
„Warte! Wo willst du hin?", rief Trish mir nach.
„Ich sagte doch gerade, dass ich nach unten gehe."
„Unten ist groß!"
Entnervt blieb ich stehen und drehte mich wieder zu den beiden um. „Ich muss zu Corona."
„Wir kommen mit", beschloss sie und sah zu Aidan, der nickte.
„Nein!" Das letzte, das ich wollte, war die beiden in Corona's Nähe zu wissen.
„Doch!", erwiderte Trish und lief wieder zu mir. „Wir haben dich die ganze Woche nicht gesehen. Und du hast vorhin gesagt, dass du heute vielleicht zum ersten Mal zauberst, das will ich doch nicht verpassen!" Sie hakte sich gut gelaunt bei mir unter und ignorierte die Tatsache, dass ich den Gesichtsausdruck einer Hundebabyschlächterin aufgesetzt hatte.
„Trish-"
„Keine Widerrede." Sie sah mich so eindringlich an, dass ich nachgab. „Wo ist Chase?", fragte ich, während wir die Stiegen nach unten gingen, Aidan und Trish links und rechts von mir.
„Er wollte sich mit einem Mädchen treffen."
„Natürlich wollte er das", murmelte ich und verdrehte die Augen. Trish versuchte aus mir herauszuquetschen, ob ich in den Büchern etwas Interessantes gefunden hatte, aber ich antwortete nur in knappen Sätzen und ließ sie reden.
Schottland war wirklich ein deprimierendes Fleckchen. Keinen Tag hatte die Sonne geschienen. Keinen Tag hatte ich mich aus dem Schloss bewegt und frische Luft geschnappt. Nein, ich hatte in meinem Zimmer hinter vorgezogenen Vorhängen so viel von den Büchern gelesen, wie ich eben zustande gebracht hatte.
Zwei von sechs. Glückwunsch!
Chase hatte seit unserem Streit mein Zimmer nicht ein einziges Mal betreten. Ich hatte ihn beim Frühstück, Mittag- und Abendessen gesehen. Vor zwei Tagen hatte ich versucht mit ihm zu reden, aber er hatte abgeblockt und gemeint, ich würde schon selbst dahinter kommen, dass, was auch immer ich da tat, nach hinten losgehen würde.
Bis wir am Eingang zum Thronsaal ankamen, schlug mir das Herz bereits bis zum Hals. Heute schien er nahezu leer. Ich entdeckte Finley und Canna vor dem Kamin auf dem Divan. Sie hielten Teetassen in den Händen und waren in ein Gespräch vertieft. Langsam fragte ich mich, ob die beiden auch mal getrennt voneinander aufzufinden waren. Auf der Couch lag ausgestreckt ein Mädchen, dunkle Haare, dünne Statur und las in einem Buch. Ich hatte es noch nie gesehen, zumindest glaubte ich das. Arthur stand mit Erin und zwei Frauen rechts neben einem der hohen Fenster. Und Corona saß auf dem linken Thron, hatte die Stirn in Falten gezogen und starrte abwesend auf einen Punkt auf dem Boden. Ob sie sich wohl gerade überlegte, wie sie mich am besten einschüchtern konnte?
Hätte ich diese Szene in einem Film gesehen, wäre ich vielleicht in schallendes Gelächter ausgebrochen und hätte mich gefragt, was sich der Regisseur dabei gedacht hatte, Corona einfach auf ihren Thron zu platzieren, ohne jegliche Tätigkeit. Aber ich wusste genau, dass es hierbei einzig und allein um die Demonstration ihrer Machtposition ging.
Ich wimmelte Trish ab und bedeutete ihr und Aidan, dass sie mir nicht zu ihr nach vorne folgen sollten. Corona bemerkte mich erst, als ich die erste Stufe hinaufstieg. Sofort erhob sie sich.
„Endlich. Wo warst du so lange?"
Ich verkniff mir den Kommentar, dass sie mich doch einfach hätte holen können, wenn es ihr zu lange gedauert hatte und stieg die restlichen drei Stufen hinauf. „Tut mir leid, ich hab noch die letzten paar Seiten von einem der Bücher gelesen."
„Ich hoffe, du hast alle gelesen", meinte sie und es klang wie eine Mahnung.
„Natürlich!", behauptete ich.
Abgesehen von der Seitenanzahl, würde ich an der Stelle gerne noch erwähnen, dass die Sprache relativ altmodisch gehalten war. Manche Wörter hatte ich tatsächlich noch nie gehört und das, obwohl die Bücher alle aus einer Zeit stammten, in der es zumindest schon Schreibmaschinen gegeben haben musste, denn keiner der Bände war von Hand geschrieben.
Corona kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Komm mit." Dann rief sie nach Arthur und Finley, als wären sie ihre Hündchen. Die beiden benahmen sich auch so, denn sie lösten sich von ihren Gesprächspartnern und dackelten brav an. Während sie links und rechts, ein Stück weit hinter Corona gingen, und ich meine neue mindestens-fünf-Meter-Abstand-von-der-Wahnsinnigen-Regel einhielt, fiel Corona's Blick unübersehbar auf Trish und Aidan, die sich neben eine der Säulen gestellt hatten. Sie blieb vor ihnen stehen.
Oje...
„Wollt ihr zusehen, wie eure Freundin zum ersten Mal zaubert?", fragte sie und es klang schon fast freundlich, aber ich hörte den bedrohlichen Unterton. Während Trish aufgeregt zu strahlen begann, brach mir der kalte Angstschweiß aus.
Sie wird ihnen nichts tun, erinnerte ich mich. Du musst nur gut genug sein.
Und ich war gut genug. Bestimmt. Wenn es darauf ankommen würde, würde ich gut genug sein. Und vielleicht würde es ja gar nicht so schlimm werden. Mann kann von einem Volksschüler schließlich auch keine Bachelorarbeit erwarten.
Während wir Corona durch das Schloss folgten, verfluchte ich Chase im Stillen dafür, dass er gerade nicht hier war. Wenn die Dinge aus dem Ruder laufen würden, wäre er derjenige gewesen, der Corona ohne Gewissensbisse ein Messer in den Bauch gestoßen hätte.
„Bist du aufgeregt?", fragte Trish.
„Nervös trifft es eher...", murmelte ich. „Warum freust du dich denn so?"
„Ist doch total spannend!" Sie hüpfte zweimal auf und ab, dann mussten wir die Treppen nach oben gehen. „Du bist eine Hexe und wirst vielleicht gleich zum aller ersten Mal zaubern! Du kannst mir nicht erzählen, dass du dich nicht darauf freust!"
Nein, das tat ich tatsächlich nicht. Kein bisschen. Das schien Aidan zu merken, denn er griff nach meiner Hand und drückte sie.
„Du kriegst das schon hin", flüsterte er zuversichtlich. „Und wenn nicht, wird Corona dir bestimmt nicht gleich den Kopf abreißen."
Nein, aber dir vielleicht. Dieser Kommentar brannte mir auf der Zunge, aber man musste das Schlechte ja nicht noch heraufbeschwören, oder?
Wir gingen in den dritten Stock, und ich war mir sicher, in meinem Leben nicht sportlicher gewesen zu sein als in diesem Schloss. Da für mich fast alle Gänge gleich aussahen, mit den dicken Teppichen, den hohen Fenstern, langen Vorhängen und den Statuen, verlor ich ziemlich schnell wieder die Orientierung.
Der Raum, in dem wir endeten, schien eigentlich recht bequem und gemütlich. Viele Sitzmöglichkeiten, angenehm gedimmtes Licht, der knisternde Kamin, der alte Holztisch.
„Einer der kleineren Gemeinschaftsräume", meinte Corona und drehte sich zu mir. „Ich dachte, ein bisschen Privatsphäre schadet nicht. Du musst nervös sein." Ich musste schlucken, denn der hinterlistige Unterton, der beim letzten Satz in ihrer Stimme gelegen hatte, machte mir Angst. Aber vielleicht hatte ich ihn mir ja nur eingebildet. „Weniger Publikum tut dir bestimmt gut."
Ja, oder ihr tut weniger Publikum gut, wenn sie Aidan und Trish die Gedärme rausreißt, falls du nicht-
Ich schüttelte diesen Gedanken ab. Corona war kein Dämon. Nur Dämonen waren so grausam. Außerdem würde sie bestimmt eine Folter- oder Hinrichtungsmethode wählen, bei der sie sich im wahrsten Sinne des Wortes nicht die Hände schmutzig machen würde.
Mir gefielen die Blicke nicht, die sie, Finley und Arthur unauffällig untereinander austauschten, weil es viel zu oft passierte. Irgendetwas führten die drei im Schilde und mir wurde ganz schlecht.
Corona deutete auf den kleinen Tisch neben dem Fenster mit den drei Stühlen. „Setz dich."
Das war mir tatsächlich ganz recht, denn meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Trish und Aidan stellten sich neben den Kamin, von dort aus konnten sie genau beobachten, was vor sich gehen würde, waren aber nicht nahe genug, falls ich gleich versehentlich etwas explodieren lassen würde.
Corona's Kopf, zum Beispiel.
„Wie du mittlerweile bestimmt weißt, ist die einzige Magieform, die sogar manche Baby's schon beherrschen, die Imaginationsmagie", leitete Corona die Stunde anscheinend ein. „Sie wird unter Kindern auch als Vorstellungsmagie bezeichnet und ältere Generationen verwenden gerne noch den lateinischen Ausdruck, imaginarium magicae." Beinahe hätte ich gelacht. Diese Informationen hatten wohl in einem der vier Bücher gestanden, die ich nicht gelesen hatte, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.
„Nicht alle Hexen und Zauberer sind in den verschiedenen Magieformen gleich begabt, aber das hast du gelesen, darauf muss ich nicht näher eingehen. Die Imaginationsmagie ist die einfachste -manche beherrschen sie besser, andere schlechter- aber jeder beginnt bei ihr."
Sie machte eine Handbewegung, als würde sie etwas aus der Luft schöpfen wollen und in der nächsten Sekunde lag ein Apfel in ihrer Hand. Ich riss die Augen auf. Es hatte zwar mehr wie ein Zaubertrick ausgesehen, als wie echte Magie, aber ich war trotzdem beeindruckt. Dieses Gefühl verschwand jedoch sofort wieder, als ich fürchtete, sie wolle mich gleich dazu bringen, dasselbe zu tun.
Sie legte den Apfel vor mir auf den Tisch, trat zurück und sah mich abwartend an. Ich blickte zu Arthur und Finley, die mich ebenfalls mit angespannter Miene beobachteten. Dann sah ich wieder auf den Apfel.
Was zum Teufel wollte Corona von mir?
Sollte ich ihn essen? Hatte sie ihn vergiftet?
Corona hob ungeduldig die Augenbrauen, als verstünde sie nicht, wo das Problem lag. „Es ist nicht so schwer. Sogar Baby's können es und die denken nicht drüber nach."
Ich wusste bei Gott nicht, was sie von mir verlangte und sah ein bisschen unbeholfen zu Finley.
„Beweg ihn schon", war ihre einzige Hilfestellung, aber sie sagte mir wenigstens, was Corona von mir erwartete. Vermutlich hätte auch das in einem der Bücher gestanden. Und bei meinem Glück hätte ich eine Schritt-für-Schritt-Anleitung gehabt, die mir die Peinlichkeit erspart hätte, zögerlich nach dem Apfel zu greifen, ihn hochzuheben und ein paar Zentimeter versetzt wieder auf den Tisch zu stellen.
Ein paar Sekunden war es komplett still, aber dann begann Trish zu kichern und presste sich sofort beide Hände auf den Mund, als Corona sich mit scharfem Blick zu ihr umdrehte. Aber auch Aidan und Arthur sahen mich ein bisschen amüsiert an. Finley verdrehte die Augen und vor Corona hatte ich schlicht und ergreifend Angst, als sie sich wieder zu mir drehte. Sie hatte die Augen zusammengekniffen und die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst.
„Machst du dich über mich lustig?", fragte sie gedämpften Ton und ich vergrub meine Nägel in den Handinnenflächen, damit meine Hände nicht so stark zitterten. Corona kam langsam auf mich zu und mit jedem Schritt den sie machte, drückte ich mich enger gegen den Stuhl. „Hältst du das alles für ein gottverdammtes Spiel?!", rief sie nun und ich zuckte zusammen. Sie stützte sich mit den Händen auf den Tisch und beugte sich darüber.
„Du hast die Bücher nicht gelesen, hab ich recht?"
„Na gut, okay, hab ich nicht! Kein Mensch kann so viele Bücher in sieben Tagen lesen", versuchte ich mich zu verteidigen.
Wütend funkelte sie mich an und ein Ausdruck, den ich nicht deuten konnte, lag in ihren Augen. „Ich hasse Lügner", sie sagte es so leise, dass nur ich es verstehen konnte, aber so bedrohlich, dass es mir einen Schauer über den ganzen Körper jagte.
Gerade als ich dachte, sie würde mir die Ohrfeige meines Lebens geben, trat sie zurück und sah abschätzig auf mich hinunter.
„Du wirst mich nie wieder belügen", sagte sie, und für den Bruchteil einer Sekunde leuchteten ihre Augen goldgelb auf.
Im nächsten Moment fasste Trish sich mit panikerfüllten Augen an den Hals und fiel auf die Knie. Noch ehe ich verstand, was vor sich ging, war Aidan an ihrer Seite und versuchte sie irgendwie zu stützen, dazu zu bringen, ihn anzusehen und ihm zu sagen, was los war. Sie blickte mich aus glasigen, angsterfüllten Augen an, als wollte sie mir etwas sagen, aber sie brachte keinen Ton hervor. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass sie nicht sprechen konnte, weil sie verzweifelt versuchte, nach Luft zu schnappen.
Trish erstickte.
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