16

Aidan

Ich hatte nie an Seelen geglaubt. Nur an ein funktionierendes Nervensystem. Neuronen, Synapsen, elektrische Impulse. Seelen hatten mich nie sonderlich interessiert, aber die Komplexität unseres Gehirns, das eine unvorstellbar hohe Leistung in jeder Millisekunde erbringt, hatte mich immer fasziniert. Die nahezu unendliche Speicherkapazität. Die Lernfähigkeit. Das Phänomen von Träumen. Muskelgedächtnis. Dass man nach Nahtoderfahrungen immer noch dieselbe Person sein kann, obwohl das Gehirn schon fast den Geist aufgegeben hat. Wie Alzheimer eine so faszinierende und schreckliche Krankheit zugleich sein konnte. Wie ein Gehirn mehrere Persönlichkeiten getrennt voneinander kreieren konnte. Für all das hatte ich mich schon immer interessiert.

Meine Schwester war da anders. Addie glaubte immer noch an Seelen. Seelenverwandtschaft. Ein Leben nach dem Tod. Alte Seelen, Reinkarnation. All den Blödsinn. Sie glaubte auch an einen Lebenszweck. Dass es einen Grund gab, warum wir alle hier waren.

Ich glaubte, dass wir grundlos hier waren und der Lebenssinn ein von Menschen geschaffenes Konstrukt war, um nicht den Verstand zu verlieren. Es hatte bestimmt keinen tieferen Sinn, warum es uns gab. Wir waren ein natürliches Produkt der Evolution. Unsere Leben hatten keinen Sinn, aber das hieß nicht, dass man sein Leben nicht genießen konnte, wenn man denn schon die Chance geboten bekam. Im Gegensatz zu Addie, glaubte ich nur an dieses eine Leben.

Seit ich jedoch wusste, dass es Dämonen gab, und meine Freundin von Hexen wieder zum Leben erweckt worden war, hatte sich meine Weltanschauung ein bisschen verschoben. Jetzt musste ich wohl oder übel an Seelen glauben. An ein Leben nach dem Tod. Daran, dass der körperliche Tod nicht endgültig war. Immerhin konnte mein bester Freund jetzt die Geister von Hexen und Zauberern sehen.

Aber was ich in den letzten Tagen über Hybride zu lesen bekommen hatte, war noch mal ein Eckchen anders.

Die Sache mit der Seelenfarbe hatte ich immer suspekt gefunden. Jeder Mensch hatte sie, aber sie zeigte sich nur durch einen Dämon. Ein Dämon spiegelte sie quasi wieder. Er öffnete das Tor zu Seele und ließ die Außenwelt in den Augen einer Person die Farbe der Seele erkennen, wenn man den Dämon bewusst in seinen Körper gezwungen hat.

Blau steht für Unschuld, vermutlich die Seelenfarbe, mit der jeder Mensch geboren wird. Grün steht für Mord an einer Person. Dabei spielt es keine Rolle, ob man den Mord bloß nicht verhindert, oder eigenhändig ausgeführt hat. Trish hatte eine grüne Seele gehabt, nachdem Addie ihr Kind abgetrieben hatte. Trish hatte davon gewusst, aber es nicht verhindert. Seit sie ihre Mutter umgebracht hatte, hatte sie -wie Beverly und Addie früher- eine rote Seele. Addie's Seele war eine Zeit lang goldfarben gewesen, die Farbe einer gebrochenen Seele. Erst dann kann sich ein Dämon mit Einwilligung des Menschen mit ihm verbinden. Und genau das hatte Addie zugelassen, als Trev im Sterben gelegen hatte. Jetzt war ihre Seele schwarz. So schwarz, wie die Seelen von Dämonen. Warum sie schwarz waren, wusste ich nicht, aber mir ging die absurde Vorstellung nicht aus dem Kopf, dass es am Höllenfeuer lag, das die Seelen verkohlte und schwarz werden ließ.

Ich hatte nie wirklich darüber nachgedacht, welche Farbe meine Seele hatte. Eigentlich hatte ich angenommen, dass sie schwarz ist, da ich ein Hybrid bin. Meine leibliche Mutter war während der Schwangerschaft von Vaya besessen gewesen. Aber dann hatte ich in der Kirche, kurz bevor Addie Jo umgebracht hatte, angeblich silberne Augen gehabt. Bezeugen konnte ich es nicht -ich hatte keinen Spiegel dabei gehabt-, aber ich glaubte Addie und Beverly.

Nur hatte ich nie so recht darüber nachgedacht, ob sich die Seele eines geborenen Hybrides nun so sehr von der eines Menschen, der mit einem Dämon verbunden war, unterschied. Sprich, ob sich meine Seele von Addie's unterscheid. Von der Farbe mal abgesehen.

Wir waren jetzt seit etwa zehn Tagen hier. Beverly hatte sich halbherzig in den Lektüren vergraben, die Arthur und Corona ihr aufs Auge gedrückt hatten. Und ich hatte die Bibliothek zu meinem neuen besten Freund gemacht. Ja, ich hätte auch nie gedacht, dass sowas mal passieren würde. Ich hasste lesen.

Eine eindeutige Antwort auf meine vielen Fragen hatte ich nicht gefunden. Dafür hatte ich Antworten auf Fragen gefunden, die ich nicht einmal gestellt hatte.

Beverly hatte mir das nie erzählt, aber anscheinend hatte sie die Welt in Schwarzweiß gesehen, wenn sie durch die Augen ihres Dämons geblickt hatte. Den Absatz mit den Sigillen und verborgenen Schriften hatte ich nur überflogen, weil er mir unwichtig vorgekommen war. Ich hatte die Welt nicht in Schwarzweiß gesehen, als meine Augen silber geleuchtet hatten. Hätte Addie mich nicht so fassungslos darauf hingewiesen, hätte ich nicht einmal etwas davon bemerkt. Es hatte nicht einmal gebrannt, wie ich es mir immer vorgestellt hatte, wenn man plötzlich die Scheinwerfer in seinen Augen anschaltete.

Laut den Büchern lag das nicht-schwarzweiß-sehen bei Hybriden daran, dass der Dämon ein Teil von einem war und nicht außerhalb durch die Gegend wanderte, so wie Mephistopheles es tat, oder Dentalion und Vaya es getan hatten. Da Addie nun auch mit ihrem Dämon verbunden war, so dass seine Seele praktisch mit ihrer verschmolzen war, änderte sich bei ihr die Farbsicht auch nicht mehr. Ich fragte mich, ob sie diese verborgenen Schriften trotzdem lesen konnte. Ich fragte mich, ob ich es konnte. Außerdem beschloss ich, sie zu fragen, wie sie das mit den schwarzen Augen machte, denn wenn sie das konnte, musste es für mich doch auf dieselbe Art funktionieren, oder?

Beverly hatte es immer so beschrieben: „Den Dämon in den eigenen Körper zwingen." Das war ja alles schön und gut, aber ich hatte verdammt noch mal keinen Dämon, mit dem ich das hätte machen könne. Ich war der Dämon.

Das wiederum hatte mich zu der Frage gebracht, ob ich in die Hölle kommen würde, wenn ich eines Tages Ex gehen würde. Darauf hatte ich keine wirkliche Antwort gefunden, denn wie zum Teufel hätte man das nachweisen sollen, wenn es vielleicht eine Handvoll Hybride auf dieser Welt gab? Ich las nur immer und immer wieder, dass Hybride stärkere Fähigkeiten entwickelten als Menschen, die nur an einen Dämon gebunden oder mit einem verbunden waren.

Wo versteckten sich diese Superkräfte? Ich hätte gerne von ihnen Gebrauch gemacht. Ab und zu.

Jetzt gerade las ich ein Kapitel über Dämonenblut. Ich hatte tatsächlich gezielt danach gesucht, weil es mich irritiert hatte, dass es schwarz sein sollte, Addie's Haut beispielsweise aber normal rosig war. Dämonenblut wird jedoch erst bei Berührung mit Luft schwarz, was mir fast schon zu wissenschaftlich und chemisch schien, um in diese Welt zu passen. Warum mein Blut jedoch immer rot gewesen war, erklärte mir das Kapitel nicht, also las ich eifrig weiter und weiter und weiter, bis ich merkte, dass Schritte durch die Bibliothek auf mich zuschlurften.

„Mir ist langweilig." Trish ließ sich mir gegenüber auf dem Boden fallen.

„Ließ ein Buch", erwiderte ich, ohne aufzusehen.

„Wenn ich das wollte, könnte ich auch Bev helfen, sich durch die fünftausend Seiten zu kämpfen."

„Was willst du dann hier?", fragte ich amüsiert, weil ich nichts Anderes tat. Sie griff hinter sich und zog ein dünnes Buch aus dem Regal, an dem sie lehnte. Wahllos schlug sie es an einer Seite auf.

Sie zog die Augenbrauen erst zusammen und hob sie dann überrascht an.

„Wow."

„Was ist?"

„Wusstest du, dass Hexen deshalb nur durch Feuer sterben können, weil ihre Seelen durch Feuer entstanden sind?"

„Was?" Ich war fast schon amüsiert.

„Es endet, wie es beginnt."

„Machst du dich über mich lustig?"

„Nein, das steht da wirklich. Und da steht irgendwas von Salem." Sie klappte es wieder zu und betrachtete den Titel. „Ich glaube, das wird meine Ich-kann-nicht-schlafen-Lektüre."

Ich stieß ein amüsiertes Schnaufen aus. „Du auch?"

Sie hob die Augenbrauen. „Es schläft sich eben nicht sonderlich gut, wenn du das Gestöhne von Beverly's Schwestern durch den ganzen Flur hören kannst, weil Chase frustvögeln muss."

„Wieso frustvögeln?", lachte ich.

„Weil er nicht bei Finley landen kann", grinste Trish. „Sie hat ihn schon mehrmals abblitzen lassen."

Ich nickte langsam. Hatte Arlen nicht gemeint, dass Finley bald wieder heiraten würde? Warum versuchte Chase es bei einer verlobten Frau? Aber gut, die meisten von Bev's Schwestern waren verheiratet und scherten sich trotzdem nicht darum.

„Hast du was Spannendes rausgefunden?", fragte Trish, legte das Buch neben sich und drehte den Ring an ihrem rechten Zeigefinger. Es war einer der Ringe, die Addie ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Das immerwährende, dämliche Symbol ihrer Freundschaft.

Ich seufzte. „Abgesehen davon, dass Hybride selbst für jahrhundertealte Hexen ein Mysterium sind? Nein."

„Noch immer nichts über deine Gabe?" Sie sah mich mitfühlend an.

Ich klappte das Buch frustriert zu. „Nein. Eher finde ich heraus, dass die Hebamme bei der Geburt meines Neffen oder meiner Nichte schwarzes Blut auf ihren Händen haben wird."

„Danke für diese Grafik...", murmelte Trish. „Bin gespannt, wie Addie das machen will."

Darüber machte ich mir tatsächlich keine Gedanken. Ich ging davon aus, dass Addie schon einen Plan ausarbeiten würde.

„Warst du bei Beverly?", fragte ich.

Trish zog die Beine an und legte ihre Arme darauf. „Ja. Vor einer Stunde. Sie gibt sich nicht sonderlich viel Mühe beim Lesen. Sie überfliegt das Meiste nur."

„Würde ich an ihrer Stelle auch. Viertausend Seiten, voll mit kleingedruckten Sätzen, mit denen sie nichts anfangen kann. Aber ich hab viel mehr gemeint: Warst du bei ihr und hast mit ihr geredet?"

„Sie ist nicht sehr gesprächig. Sie wirkt gestresst..."

Seit ein paar Tagen benahm sie sich ausgesprochen seltsam. Noch seltsamer, als ohnehin schon. Diese Art von seltsam kannte ich nicht und konnte sie daher auch nicht beschreiben.

Es waren die Blicke, die sie uns nur noch selten zuwarf.

Es war ihre angespannte Körperhaltung, wenn wir mit ihr reden wollten.

Es war die Art, wie sie vorgab, in einem der Bücher versunken zu sein, wenn ich den Raum betrat, obwohl sie es nicht war.

Wie sie darauf wartete, wieder alleine gelassen zu werden.

Wie sie uns anlächelte und uns versicherte, dass sie uns bescheid geben würde, wenn es etwas gab, das wir wissen mussten. Was auch immer das heißen mochte.

Es war aber auch die Tatsache, dass wir seit fünf Tagen getrennt voneinander geschlafen hatten. Dass ich mich den Tag über hier in der Bibliothek verkroch und sie sich in ihrem Zimmer. Jetzt galt es für mich herauszufinden, ob sie nur mich mied, oder auch ihre beste Freundin.

Trish riss mich aus meinen Gedanken, als sie sich mit ausgestreckter Hand vorbeugte, kritisch durch meine Haare fuhr und sanft an einigen Strähnen zog.

Ich hob eine Augenbraue an. „Was machst du da?"

„Du musst dir wieder mal die Haare schneiden lassen."

„Ich weiß, ich mach direkt einen Termin bei dem Frisör meines Vertrauens. Ist ja auch gleich um die Ecke."

Sie lachte und lehnte sich wieder zurück. „Ich kann das machen, wenn du willst. Ich hab Kace immer die Haare geschnitten."

„Dein Bruder ist zehn, ich schätze, es ist ihm ziemlich egal, wie er aussieht", warf ich ein, woraufhin Trish nur auflachte.

„Wenn du wüsstest. Der Knirps ist noch viel eitler als ich. Wenn er morgens nicht mindestens zehn Mal in den Spiegel schaut, geht er nicht aus dem Haus. Das hat er sich von Chase abgeschaut." Sie rollte mit den Augen, lächelte aber dabei. „Er behauptet, dass er einen Bart hat. Einen Bart. Und er fühlt sich angegriffen, wenn ich ihm sage, dass sein Gesicht so glatt wie ein Babyhintern ist." In der einen Sekunde lachte sie, in der nächsten huschte ein Schatten über ihr Gesicht. Ich betrachtete sie mitfühlend.

Was Kace wohl gerade machte? Wie er klarkam, seit seine Mutter tot und seine Schwester spurlos verschwunden war? Er würde Trish vermutlich nie wieder sehen. Nie erfahren, was mit ihr passiert war. Es würde ihn verändern. Ihm seine Kindheit nehmen.

Dass Trish ebenfalls daran dachte, sah ich ihr an.

„Okay", sagte ich daher schnell, um sie abzulenken. Ich hatte recht gehabt. Sie hatte die Sache mit ihrer Mutter und Kace nicht verdaut. Aber darüber reden konnte sie auch noch nicht wirklich. Oder vielleicht war ich nicht die richtige Person dafür. „Wenn du mir versprichst, dass du meine Ohren dran lässt und mir keine Glatze rasierst, darfst du mit einem scharfen Gegenstand in die Nähe meines Kopfes." Ich legte das Buch zur Seite.

Sie grinste mich an, sprang auf und zog mich auf die Beine. „Na dann, los!"

~~ ~~

Ich konnte nicht recht glauben, dass ich Trish mit einer Schere an meine Haare ranließ.

Zuerst wollte sie meine Haare über dem Waschbecken waschen. Dabei verwendete sie ihr Shampoo, was bedeutete, dass ich nach dieser Prozedur nach Lavendel und Veilchen riechen würde.

Die Badezimmer in diesem Schloss waren wirklich hübsch und, im Gegensatz zu allen anderen Räumen, nicht in einem anderen Jahrhundert hängen geblieben. Alles war aus Glas oder Porzellan. Der Raum war riesengroß mit großem Waschbecken, einer Dusche, einer Wanne, Kommoden und Schränken, die ich in meinem Bad alle noch gar nicht genauer inspiziert hatte. Trish hatte natürlich alle Oberflächen mit ihren Kosmetika vollgestellt. Der Raum war in ein gemütliches, oranges Licht gehüllt.

Ich gab mir wirklich Mühe, nicht in ihren Ausschnitt zu linsen, aber es war unmöglich, da sie mir schräg gegenüberstand und sich beim Haarewaschen über meinen Kopf beugte. Und natürlich war ihr Ausschnitt so tief, dass Maria die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen hätte. Dass ich angestrengt versuchte, diesem Anblick auszuweichen, merkte auch Trish irgendwann.

„Soll ich mir ein Handtuch um den Busen wickeln?", fragte sie beiläufig, aber ich bemerkte ihre zuckenden Mundwinkel.

„Ich glaube, das Handtuch brauche ich", erwiderte ich und tastete neben mich, zu den Halterungen, an denen die weißen Tücher hingen, griff nach einem, knüllte es zusammen und platzierte es über meinem Schritt.

Trish kicherte. „Es sind Momente, wie diese, die mich daran erinnern, dass das Leben wundervoll sein kann!"

„Halt den Mund", brummte ich kopfschüttelnd. Sie mochte es ja lustig finden, aber mir war es hochgradig peinlich. Ich wusste nicht einmal, wie das hatte passieren können.

Okay, doch. Ich wusste es.

Die Kombination von großen Brüsten und Fingern, die sich in meine Haare gruben und einen wohligen Schauer durch meinen Körper jagten, war daran schuld.

„Läuft wohl nicht sonderlich viel zwischen dir und Bev, wenn du beim Haarewaschen einen Ständer kriegst", bemerkte sie schadenfroh und ließ das Wasser über meine Haare laufen, um das Shampoo auszuspülen. Als ich nichts darauf antwortete grinste sie triumphierend. „Suchst du nach einer schlagfertigen Antwort?" Das tat ich tatsächlich. Vorzugsweise etwas, das mit Brikeena zu tun hatte, aber alles was mir einfallen wollte, war ein weiteres: „Halt die Klappe." Was sie lediglich noch mehr zu amüsieren schien.

Sie rubbelte meine Haare mit einem Handtuch trocken und legte dieses dann um meine Schultern, bevor sie mich auf dem Stuhl mit dem Gesicht zum Spiegel drehte, damit ich mir den Horror selbst anschauen konnte.

Mit Kamm und Schere bewaffnet machte sie sich nun daran, meine Haare zu schneiden.

„Aber schneide mir bloß nicht so eine Frisur, wie Chase sie hat."

„Die hast du schon", erwiderte sie. „Der Unterschied ist nur, dass ihm die längeren Haare stehen und dir nicht."

„Mal sehen, ob Bev das auch so sieht."

„Mach dir nichts vor", meinte Trish und fischte sich die erste Strähne. „Beverly sieht dich doch nicht mal mehr lange genug an, als dass sie bemerken würde, dass ich dir deine Haare geschnitten habe."

„Das kommt ganz darauf an, wie gut du deinen Job machst", erwiderte ich und kniff ängstlich die Augen zusammen, als sie den ersten Schnitt tat. Jetzt gab es kein Zurück mehr. „Schneide mir bloß keinen Irokesen. Und auch keinen Vokuhila!"

„Entspann dich." Sie verdrehte die Augen. „Bei deinen Locken würde es nicht mal auffallen, wenn ich mich verschneide."

Ich lachte ungläubig und ein bisschen nervös auf, aber mir fiel nichts mehr ein, das ich darauf hätte erwidern können.

„Gott, hilf mir", murmelte ich lediglich, während die Strähnen neben mir auf den Boden regneten und Trish meinen Kopf immer wieder in eine andere Position brachte, um besser an die einzelnen Partien ranzukommen.

„Wie läuft es wirklich zwischen dir und Bev?", fragte sie irgendwann, wesentlich ernster als vorhin.

„In etwa so gut, wie zwischen dir und Brikeena", gab ich zurück und war überrascht, dass sie mir nicht direkt androhte, den Irokesenschnitt durchzuziehen.

„Und wo liegt das Problem? An ihr oder an dir?" Sie drückte meinen Kopf sanft nach vorne, um zur Nackenpartie zu gelangen.

„Keine Ahnung...", murmelte ich. „Entweder ist es total offensichtlich und ich bin nur zu blöd, um zu begreifen, was mit ihr los ist, oder es ist wirklich unergründlich. Ich hab das Gefühl, dass sie mich in den letzten Tagen gar nicht mehr sehen wollte."

„Das glaube ich nicht", erwiderte Trish mitfühlend. „Sie ist nur überfordert und..." Ihr fiel auch kein weiterer Grund ein.

„Sie war auch früher schon überfordert. Ich glaube, dass hier hat nichts mit der Situation zu tun, in der sie sich befindet", meinte ich und starrte nachdenklich auf eine nasse, schwarze Locke auf dem hellen, gefliesten Boden. „Selbst wenn wir noch in Fresno wären und diese Hexensache gar kein Thema wäre, wäre irgendetwas komisch zwischen uns. Das weiß ich einfach."

„Und was denkst du, was es ist?"

Ich wollte meine Vermutung nicht aussprechen, weil es sie realer gemacht hätte, als sie vermutlich war.

„Denkst du...", begann sie vorsichtig und hörte auf zu schneiden. „Dass Beverly... naja..."

„Nicht mehr in mich verliebt ist?", vervollständigte ich ihren Satz und sah sie im Spiegel über dem Waschbecken an. „Nein, das glaube ich ehrlich gesagt nicht. Ich fürchte... dass es etwas mit Fabiana zu tun hat."

Trish stutzte. „Wie zum Teufel kommst du darauf? Hat sie irgendwas über sie gesagt?"

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich kenne sie. Ich weiß, dass sie sich die Schuld an ihrem Tod gibt. Ich weiß, dass sie denkt, dass Fabiana nie gestorben wäre, wenn sie nicht wieder in meinem Leben aufgetaucht wäre."

„Das ist doch Blödsinn!", rief Trish entrüstet. „Jo hat Fabiana umgebracht. Beverly ist doch nicht dafür verantwortlich, was deine kranke Zwillingsschwester gemacht hat! Sie hätte doch nichts ahnen können."

Ich seufzte tief. „Das musst du mir nicht sagen. Aber es ist auch nur eine Vermutung", erinnerte ich. „Was wirklich mit ihr los ist, weiß ich nicht. Sie redet ja nicht mit mir."

Einen Moment schwieg Trish noch, bevor sie sich mit nachdenklicher Miene wieder an meinen Haaren zu schaffen machte.

„Glaubst du wirklich an Gott?", fragte ich nach etwa zwei Minuten, in denen das Geräusch der zuschnappenden Schere das einzige war, das in dem großen Badezimmer zu hören war.

Verwirrt zog sie die Augenbrauen zusammen, aber dann schmunzelte sie leicht. „Weißt du, Bev und ich hatten vor ein paar Monaten ein recht ähnliches Gespräch. Warum fragst du?"

„Glaubst du an den Teufel?"

„Warum fragst du?", wiederholte sie und begann an den Seiten meines Kopfes die Strähnen zu kürzen, was wieder meine Sorgen um meine Ohren erhöhte.

„Es gibt Dämonen. Also gibt es eine Hölle", erklärte ich. „Also..."

„Gibt es einen Teufel", vervollständigte sie meinen Satz und nickte verstehend.

Fast alle Hexen und Zauberer schienen Christen zu sein, was mich nicht überraschte. Das hatte ich in den Büchern gelesen, die ich mir wahllos aus dem Regal gegriffen hatte, wenn mir der Schädel von der ganzen Dämonenliteratur geplatzt war. Nur hatte ich in dem ganzen Schloss kein einziges Kreuz oder so gesehen, was vielleicht daran lag, dass sie früher gerne den einen oder anderen Dämon heraufbeschworen hatten.

„Woher weißt du, dass der Gott, zu dem du betest, an dir interessiert ist?", fragte ich, während ich ihr im Spiegel dabei zusah, wie sie mit konzentrierter Miene einzelne Strähnen herausfiltrierte und zurecht schnitt.

Ich hatte Leute, die auf Gott vertrauten, immer für dumm und schwach gehalten. Unterbelichtet und abergläubisch. Ich zweifelte noch immer die Existenz einer höheren Macht an, auch wenn ich mittlerweile wohl oder übel an Hexen und Dämonen glauben musste. Trish jedoch hatte ich nie für schlecht gebildet gehalten. Abergläubisch wohl ein bisschen, da sie Parapsychologie studiert hatte. Aber ich hatte noch nie nach den Gründen für ihren Glauben gefragt.

„Gott ist... für jeden anders, denke ich", begann sie und fuhr mit dem Kamm wieder durch meine Haare. „Für Kinder ist er vielleicht ein Herr, der in den Wolken sitzt und auf sie hinunter sieht. Für andere eine Energie, die in jedem von uns ist. Ein Begleiter durchs Leben. Manche Leute brauchen den Glauben an jemanden, der ihnen über die Schulter sieht."

„Brauchst du ihn?" Ich wusste, dass Trish christlich erzogen worden war, aber das war Chase auch und er glaubte nicht wirklich an einen Gott.

Sie schwieg einen Moment lang und konzentrierte sich auf meine Haare. „Es tut gut, zu denken, dass alles aus einem bestimmten Grund geschieht", sagte sie schließlich. „Dass alles Schreckliche auf etwas Gutes hinausläuft. Dass Gott einen grandiosen Plan hat. Dass... egal welch große Herausforderung vor dir steht, ein noch größerer Gott hinter dir steht. Und auf dich aufpasst. Dich durch das Leben führt. Immer da ist. Immer. Dir immer zuhört. Dich versteht. Dir deine Sünden vergibt." Sie fing meinen bohrenden Blick bewusst nicht auf.

„Vergibt Gott denn wirklich alle Sünden?", hakte ich unsicher nach. Der Kerl musste einen Geduldsfaden sondergleichen haben, bei den Leuten, die da draußen herumliefen.

Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben werden, aber die Lästerung gegen den Geist wird nicht vergeben."

„Steht das in der Bibel?" Dumme Frage, Aidan.

Trish nickte. „Wenn eine Person ihren Glauben in Jesus Christus legt, ist die Person erlöst von der Strafe für Sünden, und alle Sünden sind vergeben. Vergangene, gegenwärtige und zukünftige. Kleine oder große Sünden." Jetzt huschte ihr Blick kurz zum Spiegel und sie sah mir in die Augen. „Mord." Sie wandte sich wieder meinen Locken zu. „Vergewaltigungen. All das kann Gott vergeben, wenn man von Herzen bereut und seinen Glauben in Jesus Christus legt. Er starb, um die Strafe für all unsere Sünden zu bezahlen."

„Wow...", meinte ich, ehrlich verwundert. Ich hatte mich nie sonderlich mit Religionen auseinander gesetzt, aber Trish sprach darüber, wie ich über Neurologie. „Ein selbstloser Typ."

Sie lächelte leicht, und trat an meine linke Seite, um sich dort ans Schneiden zu machen. „Es ist ein tröstlicher Gedanke."

„Aber du kannst doch gar nicht beten", fiel mir dann ein. „Das geht doch gar nicht. Mephistopheles ist-"

„Im Weg." Sie nickte und ich meinte, einen dunklen Schatten hinter ihr zu sehen. Ihr Dämon war beleidigt, aber das schien sie nicht sonderlich zu interessieren. „Mephi ist... Ich glaube, in gewisser Weise ist er Gottes Geschenk."

„Er kommt aus der Hölle", warf ich ein. „Er war ein ungläubiger Mensch, der Mord begangen hat, sonst wäre er nicht in der Hölle gelandet, oder hab ich da was falsch verstanden?"

Trish schüttelte den Kopf. „Nein, es stimmt schon, dass Mord der Auslöser für die Ewigkeit in der Hölle ist. Sofern Gott nicht vergibt. Aber Mephi ist so zahm... Ich glaube nicht, dass er ihn als Strafe zu mir geschickt hat, sondern... Ach, ich weiß auch nicht."

„Gottes Wege sind unergründlich", meinte ich und brachte sie damit zum Lächeln.

„Und wie sie das sind. Dir machen Kirchen nichts aus, oder? Obwohl du ein Halbdämon bist. Du wärst ein guter Christ", witzelte sie. Ich schnaubte.

„Was soll ich denn in der Kirche? Ich wüsste doch nicht mal wofür ich beten sollte. Es müsste schon ein Wunder geschehen, um dieses Leben zu reparieren."

„Wunder sind Gottes Spezialgebiet", erwiderte Trish, trat vor mich und hob meinen Kopf an. Sie kämmte durch meine Haare und griff sich immer wieder Strähnen scheinbar wahllos hervor und schnippelte an ihnen herum. Was sie machte, konnte ich nicht mehr sehen, weil sie mir die Sicht auf den Spiegel nahm.

„Addie kann Kirchen nicht ohne weiteres betreten", meinte ich nachdenklich und fragte mich, woran das wohl liegen mochte.

„Ich wäre gerne ein Halbdämon", seufzte Trish, fast sehnsüchtig.

„Wärst du nicht. In einem der Bücher, die ich gelesen habe, stand, dass ich praktisch die Ausgeburt der Hölle bin." Die meisten Bücher waren Anti-Hybrid, weil sie Hybride praktisch Dämonen in menschlicher Form waren und sogar Hexen Sorgen bereiteten, obwohl sie einen Fetisch für Dämonenbeschwörungen zu haben schienen. Hexen waren stärker als Dämonen, aber ob es Hybride gab, die stärker als Hexen waren, war eine offene Frage.

„Du bist nicht die Ausgeburt der Hölle. Das war Jo", erwiderte Trish mit düsterer Miene.

In den vergangenen Wochen hatte ich oft über Jo nachdenken müssen und darüber, was Addie gesagt hatte. Dass Jo kein leichtes Leben gehabt und sich praktisch auf mich geprägt hatte. Ich hatte sie gehasst, aber mittlerweile fand ich, dass sie mir beinahe leidtun konnte. Aber jedes Mal, wenn ich auch nur einen Funken Mitleid mit ihr hatte, erinnerte ich mich daran, dass sie Fabiana umgebracht hatte.

„Ich wüsste gerne, wo sie ist", meinte ich. „Himmel? Hölle? Oder gibt es da noch was anderes? Oder wandelt sie wie eine Hexenseele körperlos herum?"

„Tja, um das rauszufinden, musst du wohl noch ein bisschen tiefer graben, mein Hübscher."

„Ich hab das Graben satt."

„Dann besorg dir ne bessere Schaufel", gab sie ungerührt zurück. Dann trat sie einen Schritt nach hinten und betrachtete meine Haare. Sie schüttelte meine Mähne mit beiden Händen aus und ein paar lose Haare vielen noch auf das Handtuch und den Boden.

„Voilà!", lächelte sie und ließ mich ihr Werk im Spiegel bewundern. Ich betrachtete meinen Kopf erst von allen Seiten, bevor ich anerkennend nickte. Meine Haare waren definitiv kürzer, aber nicht zu kurz und sahen auch wesentlich ordentlicher aus als davor.

„Wenn das mit dem Pianistentraum nichts wird, kannst du deinen eigenen Frisörsalon aufmachen", scherzte ich.

„Frag lieber erst deine Freundin, was sie von der Frisur hält", zwinkerte sie.

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