15

Beverly

„Maeve!" Ich zuckte zusammen, als Corona mit den Händen auf den Tisch schlug. „Hörst du uns überhaupt noch zu?"

„Ja. Klar." Ich rieb mir übers Gesicht.

Wie ihr euch sicher vorstellen könnt, hatte ich in dieser Nacht kein Auge zu tun können. Ich fiel in keinen Sekundenschlaf, aber ich starrte seit einer Stunde regelmäßig in die Luft und schaltete mein Gehirn aus. Schlafmangel war scheiße.

„Und ich heiße immer noch Beverly", sagte ich dann. Vermutlich war es nur meine gereizte Müdigkeit, die mir den Mut gab, so mit Corona zu sprechen. Sie war das dritte Mean-Girl.

„Ich werde dich trotzdem Maeve nennen", erwiderte sie. „Unser Vater und unsere Mutter wollten das Schreiberkind Maeve nennen, wenn es ein Mädchen wird, und du bist ein Mädchen. Du kannst es ruhig zu schätzen wissen, dass sich unsere Eltern so viele Gedanken um dich gemacht habe." Sie zog die Augenbrauen zusammen, kehrte mir den Rücken zu und gab den Blick auf Arthur frei, der gegenüber von mir hinter seinem Schreibtisch saß.

Seit knappen zwei Stunden befand ich mich nun schon in seinem Arbeitszimmer. Zusammen mit Corona versuchten wir einen vernünftigen Plan zu erstellen, der darauf hinauslaufen sollte, dass ich Zaubersprüche schreiben konnte. Dass ich die beiden heute Nacht belauscht hatte, versuchte ich mir nicht anmerken zu lassen.

Ich warf einen weiteren Blick auf die drei dicken Bücher, und die fünf etwas dünneren, die vor mir auf Arthur's Schreibtisch lagen. Die sollte ich durcharbeiten. Ich hasse lesen ohnehin schon, aber dann auch noch staubtrockenen Lernstoff in solchen Mengen... Fast fühlte ich mich in meine Schulzeit zurück versetzt.

„Die Bücher alleine werden dir nicht helfen", sagte Arthur. „Theorie ist nutzlos, wenn du die Praxis nicht beherrschst. Also werden wir in einer Woche, wenn du die Bücher gelesen hast, damit anfangen."

„Eine Woche?", hakte ich ungläubig nach. „Du willst, dass ich in einer Woche..." Ich deutete hektisch auf den Bücherturm. „An die viertausend Seiten durcharbeite?"

„Oh, tut uns leid", meinte Corona vom Fenster aus. „Hattest du schon was vor?"

Ich verkniff mir jegliche bissige Antwort. „Kein Mensch kann in sieben Tagen so viel lesen. Nicht nur lesen, sondern verstehen, verarbeiten, lernen." Nicht mal Addie hätte das geschafft.

„Wir befinden uns mitten im Krieg", meinte Corona und sah mich sauer an.

„Ja, ich kann die Bomben hören, die über uns abgeworfen werden", erwiderte ich, und sie kniff die Augen zusammen.

„Denkst du, es gibt nur eine Form von Krieg? Den Krieg, den jeder mitbekommt? Es gibt auch stille Kriege. Diejenigen, die keiner mitbekommt, der nicht direkt davon betroffen ist."

Ich hätte ihr am liebsten ins Gesicht gesagt, dass es mir am Arsch vorbei ging, ob Cillian sie alle abschlachtete oder nicht. Solange er nicht vorhatte, die Weltherrschaft an sich zu reißen (wonach es ehrlich gesagt nicht aussah) war es mir völlig egal, was mit diesen Menschen passierte. So brutal und grauenhaft es auch klingen mag, aber sie bedrohten meine Freunde, und ich hatte bei Gott genug durchgemacht, um mich noch darum zu scheren, in was für einem Dilemma meine „Familie" steckte. Das und vieles mehr hätte ich Corona und Arthur gerne ins Gesicht gesagt, aber ich schluckte alles hinunter.

Und zwar, weil ich wusste, dass sie mich nicht gehen lassen würden. Dass ich ihnen helfen musste, weil sie andernfalls meinen Freunden etwas antun würden. Meiner richtigen Familie.

Also stieß ich den Atem aus und spielte die kompromissbereite Untergebene. „Gut, ich werde mein Bestes tun."

„Davon gehe ich aus", erwiderte Corona, kehrte mir wieder den Rücken zu und richtete ihren Blick aus dem Fenster. „Du kannst gehen."

Fast hätte ich gefragt, ob ich ihr vielleicht zum Abschied auch noch die Füße küssen sollte, aber ich hielt mich zurück. Ich sah in ihr bestimmt keine Königin. Nur eine verzogene Göre, die es gewohnt war, dass alle nach ihrer Pfeife tanzten.

Ich nahm die Bücher von Arthur's Tisch und trug sie schnaufend nach draußen. Die Türe fiel wie von selbst hinter mir ins Schloss, als sei auch sie froh, dass ich endlich abhaute.

„Sie ist widerspenstig!", hörte ich Corona sofort meckern und rollte mit den Augen. „Wir brauchen niemanden, der ständig hinterfragt und widerspricht."

Okay, stopp, ich hatte nur einmal widersprochen und hinterfragt hatte ich nur, warum ich Cillian überhaupt töten sollte. Auf diese Frage hatte ich übrigens immer noch keine Antwort erhalten, aber ich hatte auch keine Lust gehabt, die beiden zu fragen. Ich war froh, dass ich aus diesem Zimmer draußen war.

Während Corona sich weiter über mich beschwerte und auf Arthur einredete, sie müsse mir zu verstehen geben, wer hier das Sagen hatte, sah ich mich orientierungslos auf dem Gang um. Ich war noch nie in diesem Teil des Schlosses gewesen. Arthur hatte gemeint, dass hier die Schlaf-, Bade- und Arbeitszimmer Der Fünf waren.

Wenn ich „Die Fünf" sage, meine ich ab jetzt entweder die ersten fünf aus der langen Reihe an Geschwistern, die ich habe, oder die fünf Zehen meines rechten Fußes, für lustigen Interpretationsspielraum in diesen dunkeln Stunden.

Die Fünf, die darauf vorbereitet wurden, auf dem Thron zu landen, bekamen Sonderbehandlungen und waren in meinen Augen maßlos verzogen. Zwei dieser Fünf kannte ich nicht, aber ich wusste, dass Finley eine war und ihr wollte ich absolut nicht begegnen, also lief ich instinktiv zum Ende des Ganges, der zu den Treppen führte. Bis ich in dem Teil des Schlosses ankam, in dem ich mich wieder auskannte, waren meine Arme von den Gewichten der Bücher taub. Es dauerte noch weiter fünfzehn Minuten, bis ich wieder in meinem Zimmer ankam. Ich stieß die Türe auf, taumelte hinein und ließ die Bücher auf dem Couchtisch fallen, der zu meiner Überraschung gar nicht unter dem tonnenschweren Gewicht brach. Dann schüttelte ich meine Arme aus. Dabei fiel mir auf, dass meine Zeichenmappe gar nicht mehr auf dem Tisch lag. Hatte ich sie weggeräumt, ohne es zu registrieren? Gut möglich, nachdem ich nicht geschlafen hatte und mein Gehirn sich immer mal wieder auszuschalten schien.

Ich sperrte die Zimmertüre ab, nahm mir das dünnste der Bücher vom Stapel und warf mich auf mein Bett.

Eine Seite schaffte ich, aber dann fiel mir das Buch auf die Brust und ich nickte ein.

~~ ~~

Ich wurde wach, weil jemand wie verrückt gegen meine Zimmertüre hämmerte.

„Was zum Teufel machst du da?", drang Trish's Stimme dumpf vom Gang zu mir herein, aber sie hatte definitiv nicht mit mir gesprochen.

„Sie hat abgesperrt", hörte ich Chase ungläubig sagen. Dann polterte es wieder. „Die Mistratte hat uns ausgesperrt! Glaubst du das?"

Ich sprang von meinem Bett, stürzte zur Türe, drehte den Schlüssel herum und riss sie so schnell auf, dass Chase erschrocken einen Schritt zurücktrat.

„Also, eigentlich wollte die Mistratte nur ein bisschen Schlaf aufholen und nicht von dem unsensiblen Holzkopf gestört werden", knurrte ich.

„Aber Aidan ist doch gar nicht da", erwiderte Chase, gespielt irritiert, was mich dazu brachte, die Türe wieder zuzuschlagen. Dann wollte ich mich zurück ins Bett legen, aber Chase spazierte unbeeindruckt in mein Zimmer rein.

Müde drehte ich mich zu ihm. „Weißt du, das mit dem Türe-zu-knallen kommt nicht so gut, wenn du sie danach einfach wieder aufmachst." Trish kam unbehaglich hinter Chase ins Zimmer getrottet.

„Alles in Ordnung bei dir?", fragte sie und schloss die Türe so leise, sie nur konnte. „Wir haben dich heute noch gar nicht gesehen."

Ich ließ mich auf die Couch fallen und vergrub eine Hand in meinen Haaren. „Tut mir leid. Arthur hat mich vor dem Frühstück abgefangen und mir diesen Haufen Bücher aufs Auge gedrückt." Ich nickte zu dem Stapel, der auf dem Tisch neben mir lag. „Die soll ich in einer Woche lesen."

„Wie soll das gehen?", fragte Chase stirnrunzelnd. „Du kannst doch gar nicht lesen."

Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu, aber er ignorierte ihn und nahm eines der dickeren Bücher vom Stapel und betrachtete es, während Trish sich ans andere Ende der Couch setzte, wo meine Füße lagen.

Das kleine Hexen-ein-mal-eins", las er stirnrunzelnd vor. „Die haben dir ja wirklich ein Schulbuch gegeben." Blöderweise war das dickste Buch jenes, das die Grundlagen beinhaltete, und ich hatte keine Lust, mich durch fünfhundert Seiten zu quälen.

Stattdessen hatte ich mit dem Aufbau von Zaubersprüchen begonnen. Ja, es war genauso langweilig, wie es klingt und ohne die Grundlagen konnte ich damit natürlich auch nicht viel anfangen. Deshalb war ich ja auch bei Seite eins eingeschlafen.

„Wo ist Aidan?", fragte ich dann irritiert, weil mein schwammiges Gehirn erst jetzt Notiz von seiner Abwesenheit nahm.

„Bibliothek", meinte Chase und studierte das nächste Buch. „Macht fast dasselbe wie du, nur mit Dämonen."

„Was?" Ich warf Trish einen fragenden Blick zu.

„Er will rausfinden, was seine mögliche Gabe ist", informierte sie mich. „Und ein bisschen mehr nach Literatur über Halbdämonen forschen."

Ich nickte verstehend und warf Chase dann einen argwöhnischen Blick zu, den er nicht bemerkte. „Und du? Hast du dich wieder eingekriegt, oder hasst du mich immer noch?"

Er zog die Augenbrauen zusammen. „Wann hab ich dich denn je gemocht?"

„Vor ein paar Wochen hast gesagt, dass du mich nicht mehr hasst", erinnerte ich.

„War gelogen." Er legte das Buch auf den Stapel zurück und machte sich auf den Weg nach draußen. „Ich gehe. Finley hat mich heute Morgen abblitzen lassen, wird Zeit für Versuch Nummer zwei."

„Finley?" Ich verzog das Gesicht. „Warum ausgerechnet sie? Sie ist eine von Den Fünf und Die Fünf sind böse. Wir mögen Die Fünf nicht!"

Er lächelte mich boshaft an. „Wir haben vieles gemeinsam. Die Abneigung dir gegenüber, zum Beispiel." Dann verschwand er aus meinem Zimmer.

Ich stieß den Atem aus. „Er hasst mich", sagte ich kopfschüttelnd. „Er hat beschlossen, mich wieder zu hassen."

„Er hasst dich nicht", lächelte Trish kopfschüttelnd. „Er ist nur sauer, weil...", sie zögerte.

„Warum?" Ich verstand es nicht. Ich gab mir alle Mühe, die drei irgendwie aus der Sache raus zu halten und zu beschützen -was nicht leicht war, in Anbetracht der Tatsache, dass sie sich mitten im Chaos befanden- und Chase war deshalb sauer auf mich.

„Naja, seit wir hier sind...-und wir sind noch nicht mal sonderlich lange hier- hat Chase das Gefühl, dass du..." Sie atmete tief durch und sah mich fast zerknirscht an. „Naja, dein eigenes Ding machst, verstehst du? Und uns nicht einweihst in... was auch immer du vorhast."

Wow. Meine guten Absichten wurden wirklich gehörig missachtet. „Denkst du das auch?"

Sie leckte sich unruhig über die Lippen. „Nicht direkt... Es ist..." Sie stieß den Atem aus und schloss für einen Moment die Augen, bevor sie sich wieder zu mir drehte. „Du musst zugeben, dass du in letzter Zeit generell verschlossener bist als früher. Wir wissen nie, was du denkst, oder was du vorhast. Das... macht mich nervös. Und ich denke, die Jungs auch." Sie hob beschwichtigend die Hände. „Aber das ist ja noch nicht sonderlich lange der Fall... Ich wollte es dir nur gesagt haben, bevor es zum Dauerzustand wird..." Sie blinzelte mich an, als hoffte sie auf Vergebung für ihre Gedanken.

Ich senkte den Blick. Es verletzte mich, dass sie anscheinend nicht verstand, dass ich nur versuchte, sie zu beschützen. Je weniger sie und die Jungs wussten, desto besser.

Gerne hätte ich ihr von dem Gespräch zwischen Corona und Arthur berichtet, aber ich brachte es nicht über mich, ihr noch mehr Sorgen aufzubürden. Ich wollte ihr keine Angst machen. Also zwang ich ein versöhnliches Lächeln auf meine Lippen und überlegte, wie ich meine Sätze formulieren musste, damit sie nichts als Lüge entlarven konnte.

„Du hast recht. Ich kann euch momentan nicht viel sagen. Ich muss mit der ganzen Situation erst einmal... alleine klar kommen. Das geht nicht von heute auf morgen." Ich setzte mich auf. „Und dann kommt meine hoheitliche Schwester an und will offenbar, dass ich in Rekordzeit eine Meisterhexe oder sowas werde. Das setzt mich unter Druck", gab ich zu. „Aber ich-" Aber ich verheimliche euch nichts, hatte ich sagen wollen, aber dann wäre Trish hellhörig geworden. „Wenn es etwas gibt, von dem ich denke, dass ihr es wissen müsst, sage ich es euch", lächelte ich zuversichtlich.

Langsam bekam auch ich den Dreh raus, wie man die Gabe dieses Mädchens umgehen konnte. Ein bisschen was hatte ich mir von Chase abschauen können, in den Wochen, in denen beide praktisch bei mir in Bakersfield gewohnt hatten. Er hatte sich mit Gegenfragen und Vermutungen leicht rausreden können.

Einmal hatte Trish gefragt, ob Chase ihren Joghurt gegessen hatte. Er hatte verwirrt die Augenbrauen zusammengezogen und gemeint: „Er ist weg? Als ich das letzte Mal in den Kühlschrank gesehen habe, stand er noch im obersten Fach."

Zwanzig Minuten davor hatte er mit mir am Küchentisch gesessen und ihr Joghurt schamlos gelöffelt. Fasziniert hatte ich dabei zugesehen, wie er eine Oscar-reife Performance hingelegt hatte, bei der er im Kühlschrank Sachen hin und her geschoben und nach dem Joghurt gesucht hatte.

„Vielleicht hat Bevy ihn gegessen", war seine abschließende Vermutung gewesen, und er hatte mir einen spielerischen Blick zugeworfen. Ich war so fasziniert davon gewesen, dass er Trish angelogen hatte, ohne sie anzulügen, dass ich nicht einmal hatte verneinen können, ihren Joghurt nicht angerührt zu haben.

Sie dachte bis heute, dass ich eine Joghurtklauerin war.

Aber je öfter ich Chase beim Flunkern beobachtet hatte, desto mehr hatte ich von der schlauen Ratte gelernt. Also hatte ich immer die Klappe gehalten, um seine Taktiken bloß nicht zu verraten. Jetzt kam mir das zugute.

Und ich hatte nicht gelogen. Denn ich fand nicht, dass die drei wissen mussten, dass sie vielleicht bald als Druckmittel gegen mich eingesetzt werden würden, weil Corona eine ungeduldige Tyrannenprinzessin war.

„Ich mach mir Sorgen um dich", meinte Trish und griff nach meinen Händen. „Versprich mir, dass du nichts Dummes machst. Und dass du immer, immer, immer zu uns kommst, wenn dir etwas komisch vorkommt. Oder etwas passiert. Oder du-"

„Das kann ich nicht versprechen", unterbrach ich sie. „Aber ich werde es versuchen." Sie sah mich nicht überzeugt an, aber ich zog meine Hände zurück und stand auf.

„Ich muss jetzt... noch einen ganzen Stapel Bücher lesen. Würde es dir etwas ausmachen, wenn du gehst?"

Sie sah mich noch einen Moment lang halb enttäuscht, halb beunruhigt an.

„Ich war nie hier", sagte sie dann, stand auf und verließ mein Zimmer.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top