12

Aidan

Trish hatte unbedingt Corona sehen wollen und hatte sich bereitwillig von dem Strom mitreißen lassen. Chase und ich waren weniger begeistert gewesen, hatten aber versucht, sie in dem Tumult nicht zu verlieren.

Beverly kam bestimmt blendend klar. Chase hatte den Abend damit verbracht, feindselig auf den anderen Tisch zu blicken und abfällige Kommentare von sich zu geben. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich fast gemeint, dass er eifersüchtig war. Darauf, dass Beverly ernsthaft versuchte, Beziehungen zu ihren Geschwistern herzustellen. Immer wieder meinte er, dass sie uns vermutlich bald vergessen haben würde.

Trish hatte dagegen geredet und gemeint, dass er sie doch in Frieden lassen sollte. Dass sie nur versuchte, sich in die neue Situation einzugliedern und auf ihre Art zurechtkommen musste.

Ich hatte keinen Kommentar dazu abgegeben, weil ich fand, dass es viel zu früh war, um irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Beverly wollte nur herausfinden, was hier los war. Das würde nun mal nicht klappen, wenn sie sich isolierte und die beleidigte Leberwurst spielte. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie sich mit diesen Menschen ernsthaft verbünden wollte.

Jetzt standen Trish, Chase und ich dicht aneinandergepresst im Thronsaal zwischen den ganzen Hexen und Zauberern und warteten auf deren Königin. Der Gedanke schien mir wirklich absurd. Klar, Arthur hatte gemeint, dass es nicht viel anders war, als der Präsident der USA. Aber mit dem Wort Königin verband ich ein Märchen. Oder Großbritannien.

Aber keine Hexengesellschaft.

Deshalb war ich jetzt umso gespannter, wie eine Hexenkönigin wohl aussah. Ob sie eine Krone tragen würde. Wie alt sie aussah. Da die meisten sich mit Zaubern zu verjüngen schienen, glaubte ich nicht, dass Corona eine neunzigjährige Queen-Doppelgängerin war. Würde sie Beverly ähnlich sehen? Ich reckte meinen Kopf, um über die Masse hinwegsehen zu können. Es waren bestimmt an die siebzig Leute hier und alle redeten in gedämpftem Ton durcheinander und beobachteten dabei unruhig den Eingang.

Jemand berührte mich am Arm und quetschte sich neben mich. „Hey, sorry, ich hatte gerade das merkwürdigste Abendessen meines Lebens", meinte Beverly und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ebenfalls den Eingang im Blick behalten zu können, während sie ihre Finger in meinen verschränkte. Ihre Hand war ganz kalt.

„Haben wir bemerkt", murrte Chase, und Beverly drehte sich irritiert um, weil sie die Missgunst in seiner Stimme natürlich bemerkt hatte. „Hast du schon Freundschaften geschlossen, Bevy?"

„Nein...?", antwortete sie unsicher. „Alles okay bei dir?"

„Bestens." Er sah sie nicht einmal an, sondern ließ seinen Blick durch den Saal gleiten, während er die Arme vor der Brust verschränkt hatte.

„Hast du was rausgefunden?", fragte Trish neugierig.

„Schön wär's", seufzte Beverly, die immer noch irritiert wegen Chase' Kommentar schien. „Aber der interessante Part hätte in der Sekunde angefangen, in der Arthur Corona angekündigt hat und alle sind aufgesprungen und hier her gelaufen."

„Verdammt..."

„Vielleicht morgen beim Frühstück."

„Oder du ladest sie alle zum Kaffeekränzchen auf dein Zimmer ein", bemerkte Chase und Beverly drehte sich wieder zu ihm.

„Was hast du für ein Problem?"

„Dass du dich mit dem Feind verbünden willst, das ist mein Problem", zischte er und sah ihr diesmal eindringlich in die Augen.

„Dem Feind?", wiederholte Beverly und hätte sich bestimmt gerne ein Wortgefecht mit Chase geliefert, aber in dem Moment kam unruhiges Schweigen auf und alle schienen sich noch mehr zum Eingang zu drehen als ohnehin schon. Keine zehn Sekunden später hörte ich Schritte durch den Flur hallen und hielt gespannt die Luft an.

Hätte ich mir sparen können.

Instinktiv fragte ich mich, ob Beverly wirklich in diese Familie gehörte, denn absolut niemand sah ihr sonderlich ähnlich, zumindest hatte ich bist jetzt noch niemanden getroffen.

Corona war recht groß, schlank und hatte fast schwarze Haare. Sie trug keine Krone auf dem Kopf und auch kein elegantes Barrockkleid (warum hatte so ein Bild wohl in meinem Kopf existiert?) und wenn ich sie auf der Straße gesehen hätte, wäre mir nie in den Sinn gekommen, in ihr eine Königin zu erkennen. Schwarze Jeans, graue Stiefel und eine dunkle Jacke.

Ihre präsente, kalte Ausstrahlung jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ohne auf irgendjemanden zu achten, steuerte sie zielstrebig auf den Kelch zu, dessen Name mir entfallen war. Hinter ihr gingen drei Frauen her, die ziemlich unauffällig waren und dahinter zwei Männer, groß und kräftig.

„Ist das Corona?", flüsterte Trish ungläubig.

„Wer soll es sonst sein?", erwiderte Beverly. „Ihre Fußmasseurin?"

Trish warf ihr einen belustigen Blick zu, bevor sie wieder ernst wurde. „Ich hab sie mir anders vorgestellt. Sie sieht aus, als würde sie gleich jemanden umbringen."

„Vielleicht hat sie das ja vor..."

Aber nein. Sie schnitt sich mit dem Messer lediglich in die Hand und ließ das Blut in die Flammen des Kelchs tropfen. Als nichts geschah, schienen alle im Raum erleichtert aufzuatmen und sobald Corona sich umgedreht hatte, fiel ihr ein Mädchen um den Hals, das ich nicht erkennen konnte. Während auch die drei Frauen und die zwei Männer, die hinter Corona den Saal betreten hatten, ihr Blut dem Kelch opferten, umarmte sie das Mädchen lächelnd zurück. Wenn sie lächelte hatte sie minimale Gemeinsamkeit mit Beverly, wie ich feststellte.

Als sich die beiden wieder voneinander lösten, verneigten alle (bis auf uns vier) im Raum flüchtig die Köpfe, aber es sah nicht sonderlich glanzvoll aus und Corona schien auch nicht wirklich Notiz davon zu nehmen. Stattdessen wandte sie sich an Arthur, der neben ihr stand und legte ihm eine Hand auf den Arm.

„Danke, dass du nach dem Rechten gesehen hast, während ich weg war."

Er nickte mit einem selbstredenden Lächeln, während sie sich die Jacke auszog und einer der Frauen, die sich neben dem Kelch aufgestellt hatten, in die Hand drückte. Dann trat sie ganz nach vorne, stellte sich aufrecht hin und ließ ihren Blick prüfend über die Köpfe der Anwesenden gleiten.

Gut. Okay. Wenn ich sie mir so ansah, strahlte sie durchaus etwas Hoheitliches aus, aber gleichzeitig war da noch etwas Anderes, das ich nicht so recht benennen konnte. Es war etwas Aufgesetztes. Etwas Vorgetäuschtes. Aber was das war, wusste ich nicht.

Ich hatte mich noch nie so beobachtet gefühlt. Es dauerte keine zehn Sekunden und sie hatte Beverly entdeckt. Ich spürte, wie sich ihr ganzer Körper neben mir versteifte und sich ihre Finger wie festgefroren zwischen meinen verkrampften. Mir war auch nicht sonderlich wohl, als Corona quälend langsam die wenigen Stufen nach unten stieg und auf uns zukam, ohne Beverly auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

Ich glaubte nicht einmal, dass sie blinzelte. Die Masse teilte sich entzwei und Corona kam Schritt für Schritt näher, bis sie direkt vor uns stand. Sie hatte nur Beverly im Blick.

Sie atmete tief durch und betrachtete sie eingehend von oben bis unten.

„Du bist also Maeve", sagte sie schließlich in einem Tonfall, den ich nicht recht deuten konnte. Ihre beißende Stimme passte zu der, einer abgrundtief arroganten Frau.

„Beverly", erwiderte sie leise.

„Maeve", entgegnete Corona und an Beverly's Stelle hätte ich wohl nicht noch einmal widersprochen. Die (optisch) junge Frau zog die Augenbrauen zusammen und schien Beverly einen Augenblick lang zu studieren. „Deine Magiespur ist stark. Solange du im Schloss bleibst, ist das nicht weiter schlimm, aber wenn du es verlässt, müssen wir einen Schutzzauber verwenden, um die Spur zu verdecken."

Sie sprach absolut nicht wie eine Schwester zu Beverly. Eher wie eine dieser gemeinen Hausmädchen in Filmen, die Kindern mit ihren Erziehungsmaßnahmen Angst machten. Dabei strahlte sie eine solch angespannte Ruhe aus (ja, eine solche Kombination hätte ich davor auch nie für möglich gehalten), dass mir ganz kalt wurde. Zwar hatte ich sie vorhin lächeln sehen, als sie das Mädchen umarmt hatte, aber da sie jetzt keine Miene verzog, ging ich nicht davon aus, dass sie und Beverly Freundinnen werden würden. Und Schwestern schon mal gar nicht.

Dann warf sie zum ersten Mal einen Blick auf Chase, Trish und mich, doch ihr Gesichtsausdruck ließ nicht vermuten, was sie dachte. Sie drehte sich lediglich um und ging durch den Weg, den die Menschen gebildet hatten, wieder hinaus.

„Warte!", rief Beverly, ließ meine Hand los und trat einen Schritt nach vorne. Corona drehte sich mit einer Haltung um, die vermuten ließ, dass es das letzte Mal war, dass sie Beverly durchgehen ließ, sie einfach so von hinten anzusprechen. Das schien Beverly auch gemerkt zu haben, denn sie wich eingeschüchtert zurück und schluckte, bevor sie sprach. „Was... Was passiert jetzt?"

Corona betrachtete sie wieder. „Ich werde es dich wissen lassen."

Damit stolzierte sie aus dem Saal, mit ihren fünf Begleitern im Schlepptau.

Beverly atmete auf, sobald auch die beiden Männer nicht mehr zu sehen waren. „Ich glaube, ich habe mich noch nie so bedroht gefühlt", bemerkte sie und sah zu Chase auf. „Nicht mal von dir."

„Versteh ich", nickte dieser. „Unser Prinzesschen ist mit einer fetten Schicht Permafrost überzogen, wie mir scheint."

„Königin", erwiderte Beverly, den Blick immer noch an den Eingang geheftet. „Nenn sie nicht Prinzesschen, ich hab Angst, dass sie dich dann köpft, oder so."

„Verstehst du jetzt, warum Brikeena sie so abgöttisch liebt?" Ich hatte gar nicht gemerkt, dass der Teenager neben Beverly aufgetaucht war.

„Damit scheint sie aber nicht alleine zu sein", bemerkte sie.

„Nein, sicher nicht." Er schüttelte den Kopf. „Corona ist der Meinung, dass es wichtiger ist, dass wir sie als Königin respektieren und ihre Befehle ausführen, als dass wir sie als Schwester sehen und lieb haben."

„Ist bestimmt nicht leicht für sie", murmelte Beverly und fing sich einen verwirrten Blick von Chase ein.

„Hab ich grad richtig gehört? Sympathisierst du?"

Darauf erwiderte sie nichts, sondern verdrehte lediglich die Augen.

Ich bemerkte, dass vier andere -zwei Mädchen, die ich nicht zuordnen konnte, ein Typ und Arthur- den Saal ebenfalls verließen.

„Wo gehen die vier hin?", fragte Beverly, die es ebenfalls bemerkt hatte. Der Teenager folgte ihrem Blick.

„Dinge mit Corona besprechen, schätze ich. Arthur, Innis, Lorcan und Finley sind mit Corona die ersten fünf aus der Linie", erklärte er und ich erinnerte mich, dass Brikeena darüber auch schon etwas hatte fallen lassen. „Sie alle wurden darauf vorbereitet, irgendwann vielleicht auf dem Thron zu landen und-"

„Ihr nicht?", unterbrach Beverly ihn.

Der Teenager stieß einen amüsierten Laut aus. „Nein. Wir anderen nicht. Nur die fünf."

„Wieso?"

„Ist doch recht unwahrscheinlich, dass alle fünf plus all ihre Nachkommen sterben oder umgebracht werden, und plötzlich Nummer sechs auf dem Thron landet, findest du nicht?", schmunzelte er. Beverly schien kurz nachzudenken. Dann zuckte sie mit den Schultern.

„Kommt drauf an, wie viele Kinder sie haben."

„Ironischerweise haben nur Lorcan und Innis welche. Fin's Kinder sind alle gestorben, aber sie heiratet bald wieder." Es schockierte mich, wie gleichgültig ihm diese Worte über die Lippen kamen. Seine Nichten und Neffen waren gestorben -die Kinder seiner Schwester- und es schien ihn nicht wirklich zu interessieren. Ob das die Nebeneffekte eines nie endenden Lebens waren?

„Und Arthur und Corona..." Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, was in deren Schlafzimmern falsch läuft. Sie hatten über dreihundert Jahre Zeit."

„Aber fühlst du dich nicht... ausgegrenzt? Weniger wichtig? Wenn sich alles nur um die fünf dreht?", fragte Beverly.

Ihre Schwester, Victoria, war von ihren Eltern immer als wichtiger angesehen worden. Diejenige, die das Unternehmen übernehmen würde. Beverly hatte sich immer in den Schatten gestellt gefühlt. Weniger wichtig. Dass sie auch so behandelt worden war und nicht nur die Entführung bleibende Schäden hinterlassen hatte, merkte ich heute noch in vielen ihrer Charakterzüge.

Der Teenager zuckte mit den Schultern. „Hab mich dran gewöhnt. Und die anderen auch. Außerdem gibt es immer noch eine Person, die wichtiger ist, als die fünf zusammen. Das stuft sie ein Bisschen herunter. Und das ist ein verdammt gutes Gefühl", grinste er.

„Und wer soll diese Person sein?", fragte Beverly neugierig, während mir die Antwort glasklar schien. Aber sie hatte sich an den Gedanken noch immer nicht gewohnt. Oder wollte es nicht.

Der Junge sah sie an, als hätte sie die dümmste Frage überhaupt gestellt. „Na, du."

~~ ~~

„Glaubt ihr, dass sie mich deshalb so hassen?", fragte Beverly etwa zehn Minuten später, als wir durch die Gänge zu ihrem Zimmer wollten. Sie hastete in schnellen, nervösen Schritten voraus. „Weil ich für sie plötzlich so wichtig bin?"

„Ich würde lieber glauben, dass es an deiner Persönlichkeit liegt", erwiderte Chase.

„Die kennen sie nicht", entgegnete Beverly.

„Tja. Manche Menschen muss man nicht kennen, um sie zu verabscheuen. Da schaltet sich der Urinstinkt ein und gibt jeder Zelle den Befehl: Lauf, solange du noch kannst!"

„Chase", mahnte ich verärgert. Allein die Tatsache, dass Beverly nichts mehr darauf erwiderte, war für mich Beweis genug, dass sie begann, sich seine boshaften Kommentare wieder zu Herzen zu nehmen. Er musste wirklich einen Gang runter schalten.

„Lass ihn doch", meinte sie dann jedoch ruhig und bog um die Ecke. „Wenn er meint, mich ohne Grund vergraulen zu müssen -bitte." Sie drehte sich im Gehen um und sah Chase ausdruckslos an. „Er stirbt so oder so verbittert und allein. So geht es nur schneller."

„Leute", seufzte Trish. „Das letzte, das wir jetzt gebrauchen können, ist, dass ihr zwei euch zerstreitet. Lasst es gut sein."

„Dann sag ihm, er soll aufhören, mich grundlos anzugreifen!"

„Sag ihr lieber, dass sie aufhören soll, einen auf Du und Du mit ihren hinterhältigen Hexengeschwistern zu machen!"

„Du schläfst mit meinen Schwestern!", rief Beverly, warf die Arme in die Luft und lachte ungläubig auf. „Du legst eine nach der anderen flach und sagst mir, dass ich mich zurückhalten soll?"

„Der Unterschied zwischen dir und mir ist, dass du die Hexe bist, die sie benutzen wollen, um einen mächtigen Zauberer umzubringen! Du bist diejenige, die aufpassen muss, weil sie dich nach Strich und Faden belügen werden, um zu bekommen, was sie wollen. Du darfst dich nicht einwickeln lassen, aber genau das wird passieren, weil du ein dummes, unvorsichtiges Kind bist, das denkt, dass es alleine klar kommt!"

Angestrengt stieß ich den Atem aus, holte zu Beverly auf, die Chase nur wütend und verletzt ansah, und nahm sie an der Hand. „Das reicht. Wir gehen in die Bibliothek", informierte ich Trish, die den Wink verstand und Chase den Gang weiter geradeaus schob, während ich Beverly die Treppen hochzog.

„Und wir schauen uns das Musikzimmer an. Das will ich unbedingt sehen! Die haben da bestimmt einen Flügel, und ich hab schon ewig nicht mehr gespielt...", meinte sie noch, bevor die beiden aus meinem Blickfeld verschwanden.

Ich führte die vor Wut schweigende Beverly durch die Gänge, wobei ich ziemlich überrascht war, dass ich den Weg noch wusste. Gerne hätte ich dabei etwas Aufmunterndes gesagt. Aber sonderlich viel fiel mit nicht ein.

„Er meint es nicht so", sagte ich endlich, als wir in der Bibliothek ankamen. Sie lachte bitter auf.

„Und ob. Aber wenn er sich weiterhin so benimmt, kann er mich aus seinem Leben streichen, das sag ich dir." Sie schüttelte enttäuscht den Kopf. „Ich dachte wir sind Freunde..."

„Seid ihr doch."

„Aber mit Freunden geht man nicht so um!" Traurig und wütend sah sie mich an. „Man redet nicht so mit ihnen. Er hat mich damals gehasst und tut es wieder. Ein ewiger Kreislauf und das mach ich nicht mehr lange mit. Ich kann nicht!" Sie versuchte sich abzulenken, indem sie halbherzig die ersten paar Bücherregale studierte, Bände herausnahm und wieder zurückstellte. Währenddessen lehnte ich an einer der Holzvitrinen und überlegte, wie ich ihr helfen konnte.

Ich kannte Chase schon viele, viele Jahre und hatte ihn auch in verschiedensten Lebenssituationen kennengelernt, deshalb konnte ich ihn ein bisschen besser einschätzen als Beverly.

Er hasste sie nicht.

Er hatte Angst um sie und wollte sie beschützen. Aber das konnte er ihr nicht ins Gesicht sagen. Es machte ihn wütend, dass sie seine Bedenken nicht ernst nahm.

Ich glaubte, dass große Teile seiner Persönlichkeit durch den Mord an seiner kleinen Schwester, Amy, geprägt waren. Dadurch, dass seine Eltern und seine Brüder ihm unterschwellig die Schuld an ihrem Tod angehängt hatten, wollte er nicht für den Tod einer weiteren Person, die ihm viel bedeutete, verantwortlich sein, und die Tatsache, dass Beverly Gefahren mit offenen Armen zu empfangen schien, machte ihn nervös und zornig, weil er keine Kontrolle über ihr Handeln hatte.

Aber er hasste sie nicht.

Er war nur nicht der Typ, der Menschen offen sagen konnte, was er dachte und fühlte. Und weil Beverly seine Signale falsch interpretierte, wurde er noch wütender und dachte vielleicht selbst, dass er sie hasste, obwohl es bestimmt nicht so war.

Nur wie hätte ich Beverly das erklären sollen? In meinem Kopf machte sein verdrehter Charakter kaum Sinn. Wie hätte das alles in manifestierten Worten geklungen? Nein, sie musste ihn selbst noch ein bisschen besser kennen lernen, um ihn zu verstehen.

„Glaubst du, hat er recht?", fragte Beverly irgendwann und sah mich nicht mehr wütend, sondern zweifelnd an, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit der rechten Schulter gegen das Regal.

Sie sah so unfassbar müde aus.

„Mache ich einen Fehler, zu versuchen, einen Draht zu ihnen aufzubauen? Ich will eigentlich nur an ein paar Informationen rankommen, aber vielleicht hat Chase recht, und ich fange in ein paar Tagen an, sie zu mögen, und vertraue ihnen, obwohl ich das bestimmt nicht sollte, und dann erkenne ich nicht mehr den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge, und dann-"

„Hey, hör auf damit", sagte ich besänftigend, stieß mich von der Vitrine ab und ging schnell zu ihr. Vorsichtig legte ich meine Hände auf ihre Schultern und wartete, bis sie mir in die Augen sah und ich mir sicher war, dass sie mir zuhörte und meine Worte bei ihr ankommen würden. „Wir lassen nicht zu, dass sie dich uns wegnehmen. Oder dir was passiert. Niemals. Du musst das nicht alleine machen, deshalb sind wir doch mitgekommen, oder nicht?"

„Aber was, wenn..." Sie schluckte und atmete schwer. „Ich hab-... Ich meine, ich weiß doch, wie leicht Leute zu manipulieren sind. Was, wenn ich leicht zu manipulieren bin? Meine Schwester hat es geschafft. Dentalion hat es geschafft."

„Das kannst du nicht vergleichen." Ich schüttelte den Kopf. „Du warst ein Kind und hast Victoria vertraut. Deinem Dämon gegenüber warst du loyal und hast ihn nicht oft hinterfragt. Hier vertraust du niemandem. Du weißt, dass du vorsichtig sein musst." Ich strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. „Außerdem freundest du dich ja nicht mit ihnen an. Du bist nur freundlich, da ist ein Unterschied." Ich versuchte, so glaubwürdig wie möglich zu klingen und setzte dazu noch meine ernste Miene auf. „Wir kommen hier nicht weiter, wenn du allen mit derselben Missgunst entgegentrittst, wie sie dir. Chase hatte kein Recht, dir vorzuwerfen, dass du nett zu ihnen bist und dich mit ihnen unterhältst, okay?"

Sie atmete tief aus und nickte zweifelnd. „Ja, okay."

Das alles schlug ihr aufs Gemüt, sonst hätten Chase' Kommentare möglicherweise auch nicht ganz so viel Selbstvertrauen in ihr zerstört. Selbstvertrauen, das Trish und ich in den letzten Wochen und Monaten mühselig aufgebaut hatten.

Sie legte ihre Arme um meine Schultern, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste mich. Das kam überraschend, aber es störte mich kein bisschen. Sie hatte bestimmt nur vorgehabt, sich einen flüchtigen, aufmunternden Kuss zu holen, aber mit einem Mal schienen unsere Lippen wie aneinandergeschweißt. Ich drückte ihren Körper gegen die Bücherwand, sie vergrub ihre Finger in meinen zu langen Haaren und ich musste meinen Händen doppelte Aufmerksamkeit schenken, damit sie sich nicht verselbstständigten. Dieses Gefühl hatte ich schon lange nicht mehr gehabt, und es nervte mich, dass es in einer verdammten Bibliothek aufkreuzen musste, wenn Murphy's Gesetz mal wieder seine Arbeit vollbrachte. Und die Tatsache, dass dieses Gesetz auf einen Mann mit dem Namen Campbell zurückging, gab mir wirklich zu bedenken.

Warum konnten wir uns nicht mal an schönen, gemütlichen Orten, frei von allen Sorgen küssen? War das überhaupt schon jemals passiert? Nein! Zumindest konnte ich mich nicht daran erinnern. Es war immer unpassend gewesen. Entweder hatte Addie bewusstlos in einer Bar gelegen, oder ich war mit Fabiana zusammen gewesen, oder Addie hatte eben versucht, sich umzubringen, oder wir hatten neben Jo's Leiche gehockt, oder, oder, oder...

„Gehen wir auf mein Zimmer?", flüsterte Beverly atemlos, als sie sich irgendwann von mir löste. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass meine Hände unter ihren Pullover gerutscht waren und nun auf ihrer Taille ruhten. „Da kann man besser rummachen."

Und weil ich ihr, was das anging, absolut nicht widersprechen konnte, machten wir uns sofort auf den Weg.

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