10

Aidan

„Da ist sie ja!", rief Chase, als die Verbindung endlich so stabil war, dass wir Addie auf dem Bildschirm von Trish's Handy sehen konnten. Wir hatten uns alle zu dritt auf der Couch davor gequetscht, denn keiner von uns hatte seinen Laptop mitgenommen.

„Hey!", lächelte Addie und sah vermutlich jeweils nur die Hälfte von meinem und Chase' Kopf.

„Du siehst umwerfend aus", lächelte Trish, die als einzige komplett zu sehen war. „Die Schwangerschaft steht dir."

„Ja, finde ich auch." Meine Schwester warf schwungvoll ihre Haare zurück. Addie hatte die guten Gene abbekommen, das stand nicht zur Debatte, aber seit sie schwanger war, sprühte sie nur so vor Glück und Freude und Trish betonte oft, dass Addie mit jedem Tag schöner wurde.

„Wie geht's dir, Ads?", fragte ich.

„Könnte besser sein." Sie verzog das Gesicht. „Ich kotze zwar nur noch einmal am Tag, aber mein Kreislauf ist total am Arsch. Bin schon drei Mal umgekippt. Ich dachte, dass Dämonenblut vor sowas schützt, aber anscheinend nicht." Sie seufzte angestrengt und änderte ihre Sitzposition, sodass ich erkennen konnte, dass sie bei uns im Wohnzimmer auf der Couch saß und James auf dem Schoß hatte. James, Fabiana's Katze, die ich Beverly überlassen hatte und für die nun Addie sorgte, solange wir hier in Schottland waren. „Und ich bin dauermüde. Ich war in meinem Leben nicht so müde. Ich glaub, ich trage ein Faultier in mir!"

„Ist doch schön", lachte Chase. „Ich würde auch gerne fünfzehn Stunden am Tag durchschlafen."

Addie lachte auf. „Glaub mir, viel weniger akzeptiert dieses Baby auch nicht."

„Wo ist Trev eigentlich?", hakte er dann nach.

„Einkaufen." Doch in diesem Moment wurde die Wohnungstüre geöffnet und Addie drehte sich um. „Hey." Undeutlich konnte ich hören, dass Trev etwas sagte. Addie richtete ihren Blick in Richtung Küche.

„Sag dem Blödmann, dass er gefälligst Hallo sagen soll", schimpfte Trish und Addie lachte auf. Kurz darauf erschien Trev's Gesicht neben Addie's und er warf ein feindseliges Lächeln in die Kamera.

Hallo." Sein falsches Lächeln erstarb in derselben Sekunde und er verschwand wieder von der Bildfläche.

„Er ist schlecht drauf", meinte Addie halb bedauernd, halb amüsiert.

„Wann nicht?", erwiderte Trish augenrollend.

„Wehe, du kümmerst dich nicht gut um meine kleine Schwester!", warnte ich, laut genug, dass Trev es hören konnte. Keine drei Sekunden später erschien er wieder vor der Kamera und winkte mit einer Packung Ben&Jerry's. Addie's Augen begannen zu leuchten und sie nahm das Eis lächelnd entgegen.

„Danke, Baby!" Kurz darauf hörte ich wieder, wie eine Türe geschlossen wurde und da Addie kurz über den Rand der Kamera hinwegsah, nahm ich an, dass Trev auf ihr gemeinsames Zimmer verschwunden war.

„Ich weiß, dass Aidan es nur aus Spaß gesagt hat", begann Trish, während Addie den Löffel in ihr Lieblingseis tauchte und James neugierig an der Eispackung schnupperte. „Aber ich hoffe, dass er sich wirklich um dich kümmert. Sonst setze ich mir sofort eine Perücke und eine Sonnenbrille auf, nehme meinen falschen Pass und fliege zurück."

Addie lächelte. „Er wohnt wieder hier", nuschelte sie. Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Glaube ich. Wir haben nicht drüber geredet, aber er schläft jede Nacht hier."

„In eurem Bett?", hakte Chase nach und Addie funkelte ihn beleidigt an.

„Wohnzimmer."

„Romantisch."

„Halt den Mund, ich bin froh, dass er überhaupt mit mir redet." Als Addie den Löffel erneut in das Eis tauchen wollte, hielt James ihren Arm mit beiden Pfoten fest und biss sie sanft und den Daumen. Sie wollte spielen, aber Addie aß unbeeindruckt weiter.

„Und du nennst ihn Baby", sagte Chase kopfschüttelnd.

„Ist mir nur rausgerutscht." Sie zog sich ihre Kapuze über den Kopf.

„Ich will wirklich keinen wunden Punkt treffen, aber ich bin neugierig", begann Trish vorsichtig und wartete auf Addie's Zustimmung, ihre Frage zu stellen. „Dieses Mädchen", begann sie. „Mit dem Trev was hatte, nachdem er Schluss gemacht hat. Läuft zwischen ihnen noch was?"

Addie zuckte mit den Schultern. „Wir haben nicht drüber geredet, aber ich... ich glaube nicht."

„Okay, und jetzt mal ehrlich: Glaubst du, dass ihr zwei wieder zusammen kommt?" Ich fand es gewagt von Trish, diese Frage so direkt zu stellen, aber als beste Freundin durfte sie das wohl.

Meine Schwester stieß den Atem aus uns kraulte James hinter den Ohren. „Keine Ahnung. Ich glaube eher, dass er hier ist, weil er sich dazu verpflichtet fühlt. Nicht, weil er mir verzeihen will..."

Trish nickte und stieß mich dann unauffällig mit dem Ellenbogen an und ich verstand es als Aufforderung, eine andere Frage zu stellen.

„Hat er eigentlich seine Zwischenprüfung bestanden?" Die war eigentlich schon im Dezember gewesen, allerdings war sein Professor krank gewesen und hatte die Tests nicht korrigieren können. Addie legte den Kopf schräg.

„Soll das ein Scherz sein? Wir reden hier von Trev. Natürlich hat er sie bestanden. Er war einer der besten." Es war ein seltsames Gefühl, dass die beiden ihre Leben relativ normal weiterlebten, während wir unsere Leben weggeworfen hatten und nun praktisch nicht einmal eines hatten. Zumindest keines mit Ordnung und Struktur. Es kam mir so lose vor. Als würden die Tage dahingleiten.

Addie wusste nicht einmal, dass wir in Schottland waren. Sie wusste nicht, dass wir Arthur getroffen und durch ein magisches Portal gepurzelt waren. Sie wusste nicht, dass Beverly einen Zauberer mit Phönixblut töten sollte.

Wir hatten die Geschichte geändert.

Addie dachte, dass wir planmäßig Bev's Familiengeschichte auf den Grund gehen wollten und in Irland in einem großen Schloss wohnten. Zumindest das war teilweise wahr.

Bevor sie angerufen hatte, hatten Chase, Trish und ich einstimmig entschieden, Addie nichts Beunruhigendes zu sagen. Sie sollte sich keine Sorgen um uns machen. Zumindest nicht noch mehr, als sie es wahrscheinlich ohnehin schon tat. Irgendwann würde wohl der Punkt kommen, an dem sie genauer nachfragen würde, aber momentan war sie mit ihren eigenen Problemen beschäftigt und zufrieden mit den schwammigen Erzählungen, die wir ihr auftischten.

„Hast du es eigentlich schon Mom und Dad gesagt?", fragte ich, um meinen Gedanken ein Ende zu setzen. „Das mit dem Baby, nicht das mit Trev."

Addie schüttelte wild den Kopf und ihre braunen Locken peitschten hin und her. „Um Himmels willen, nein! Noch mehr Stress brauche ich nicht." Dass sie überwiegend von unserer Mutter sprach, war nicht schwer zu erraten.

„Und wann hast du vor, es ihnen zu sagen?"

Addie sah nach oben und tat so, als würde sie nachdenken. „Ich dachte da an einundzwanzig Jahre."

„Gute Idee, dann können wenigstens alle legal drauf anstoßen", lachte Chase.

Addie nahm Trish das Versprechen ab, eine Schlosstour beim nächsten Videochat zu machen, und ich musste ihr versprechen, in der Bibliothek nach Shakespearewerken Ausschau zu halten, aber gegen zwölf wurde Addie müde. In Kalifornien war es acht Uhr abends und sie wurde wieder schläfrig. Sie ließ Beverly Grüßen und beendete den Anruf.

Mühsam rappelte ich mich auf. „Ich werd mal nachsehen, ob sie Beverly schon wieder frei gelassen haben."

„Haben sie", meinte Trish. „Sie ist vor fünfzehn Minuten auf ihr Zimmer gegangen." Sie lächelte mich überlegen an. „Du bist echt ein schlechter Halbdämon." Darauf hätte ich gerne eine bissige Antwort gegeben, aber sie hatte recht. Wenn ich mich nicht intensiv konzentrierte, konnte ich die Anwesenheit meiner Freunde oder überhaupt irgendeiner Person nicht so locker flockig ausmachen wie Trish.

„Halt die Klappe", entgegnete ich daher unkreativ und verließ ihr Zimmer, um auf das gegenüberliegende zu gehen.

Beverly stand am Fenster und fuhr erschrocken herum, als ich nach dem Anklopfen hereinkam. Sie wischte sich hastig mit den Ärmeln übers Gesicht.

„Warum weinst du?", fragte ich sofort besorgt und schloss die Türe hinter mir. „Ist was passiert?"

„Ich weine gar nicht", erwiderte sie, aber je näher ich ihr kam, desto unübersehbarer war es.

„Dann hast du also nur eine Pollenallergie?"

„Pollen sind eben scheiße."

„Ja, besonders im Winter", pflichtete ich ihr bei. Sie ging an mir vorbei und ließ sich auf dem kleinen Sofa vor dem Kamin nieder.

„Es ist ein dummer Grund", sagte sie dann.

„Na, dann sag's mir doch. Besser ein Dummer, als ein Ernster." Ich bewegte mich wieder auf sie zu, in der Hoffnung, dass sie nicht gleich wieder auf die andere Seite des Zimmers flüchten würde. Neben dem kleinen Tisch vor der Couch blieb ich stehen und sah auf sie herab.

„Ich hab grad erfahren, dass Theodoric gar nicht mehr lebt", wisperte sie und blickte auf ihre Hände. „Cillian hat ihn umgebracht." Noch während ich krampfhaft überlegte, was ich sagen konnte, stieß sie einen verachtenden Lacher aus, schüttelte den Kopf und wischte sich pollenbedingte Tränen von der Wange. „Das ist doch lächerlich, komplett lächerlich. Wieso weine ich über den Tod eines Mannes, den ich nie kennengelernt habe?"

„Weil du ihn kennenlernen wolltest", erwiderte ich und sie sah auf. „Oder etwa nicht?"

„Ich hab nicht mal daran gedacht, dass die Möglichkeit existieren könnte, dass er tot ist..." Mit einem Seufzer ließ sie ihren Kopf gegen die Lehne fallen und presste ihre Handballen gegen die Stirn.

Plötzlich fühlte ich mich schuldig. Beverly hätte ihren leiblichen Vater so gerne kennengelernt. Und ich hatte meinen in New York in seiner Wohnungstüre stehen lassen, nachdem ich ihm gesagt hatte, dass seine einzige Tochter tot war und ich nichts mit ihm zu tun haben wollte. Er war kein schlechter Mensch. Trotzdem wollte ich ihn nicht in meinem Leben haben. Nur hätte ich ihm das niemals so brutal vermitteln dürfen.

Ich ließ mich neben Beverly fallen und nahm ihre Hand in meine. Wieder mal wurde mir bewusst, dass ich nicht hätte sagen können, damit sie sich besser fühlte, also saßen wir einfach eine Weile schweigend auf der Couch. Sie hatte ihren Kopf an meine Schulter gelegt und war in ihrer Gedankenwelt versunken, als ich beschloss, dass es vielleicht eine gute Idee war, sie abzulenken.

„Hey, ich hab Addie versprochen in der Bibliothek nach signierten Werken von Shakespeare zu stöbern." Sie hob den Kopf, um mich aus geröteten Augen anzusehen. „Kommst du mit und hilfst mir suchen?"

„Ich bezweifle wirklich, dass es hier signierte Ausgaben von Hamlet gibt", entgegnete sie. „Ich bleib hier und warte, dass Chase kommt und sich mit mir betrinkt."

„Soll ich ihn holen?"

Sie schüttelte müde den Kopf. „Er kommt bestimmt in ein paar Minuten."

Kurz betrachtete ich sie forschend. Vielleicht fürchtete ein Teil von mir, dass sie sich aus dem Fenster stürzen würde, wenn ich sie allein lassen würde. Aber das wäre nun wirklich lächerlich gewesen. Also nickte ich.

„Okay." Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn, stand auf und verließ das Zimmer. Dass sie lieber mit Chase trank, als mit mir zu reden, nahm ich ihr nicht übel. Nicht mehr.

Vor einem Jahr hatten die beiden sich zwar bis auf den Tod gehasst, aber über die Monate hinweg hatte sich eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, die so stark war, dass ich fest davon überzeugt war, dass sie einander mittlerweile wirklich, ernsthaft brauchten. Mir war auch bewusst, dass Chase Beverly auf eine Art und Weise helfen konnte, wie ich es nie geschafft hätte. Deshalb fühlte ich mich nicht schlecht. Manche Dinge beredete ich auch eher mit Trish, als mit Beverly. Das war doch nur natürlich.

Oder war ich ein schlechter Freund und suchte unterbewusst eine Ausrede, um mich nicht mit den Problemen meiner deprimierten Freundin rumschlagen zu müssen?

~~ ~~

Ich hatte nicht viel mit Büchern am Hut, aber Bibliotheken waren angenehme und ruhige Orte. In dem Fall, war es ein menschenleerer Ort. Ein endlos scheinender Raum, mit zwei Stöcken, die mit dunklen Holzregalen gesäumt waren, in denen vermutlich Bücher standen, die ein normal Sterblicher nie zu Gesicht bekommen würde. Die meisten waren dick eingebunden. Dunkelgrün, weinrot und schwarz sah ich besonders oft, mit goldener Aufschrift. In Holzvitrinen und Glaskästen lagen große, handbeschriebene Pergamentpapierstücke, aber ich konnte weder die Sprache erkennen, noch die Buchstaben entziffern. Es stand auch nirgends angeschrieben, was das für Schriftstücke waren, vermutlich deshalb, weil jeder Bewohner dieses Hauses Bescheid wusste. Ich musste mich daran erinnern, dass das hier kein Museum war, auch wenn es mir so vorkam.

Während ich zwischen den Regalen hindurchschlenderte, bemerkte ich die Markierungen auf Silberplaketten. Auf der Gangseite standen Zahlen -vielleicht die Regalnummern. Und die einzelnen Regalreihen waren mit Buchstaben versehen. T1-T7 oder R9-R18. Ich war mir nicht sicher, was das zu bedeuten hatte, aber vermutlich war es eine organisatorische Sache. Irgendein System würde schon dahinterstecken. Nur fragte ich mich, ob diese vielen Bücher überhaupt katalogisiert waren.

Die Titel der meisten Bücher in den vorderen Regalen waren Englisch, daher verstand ich sie, aber je weiter ich mich nach hinten bewegte, desto unterschiedlicher wurden die Sprachen. Einiges war Französisch oder Latein, das erkannte ich auch noch. Andere waren entweder Italienisch, Spanisch oder Portugiesisch -ich kannte den Unterschied nicht. Und andere Regale wiederum waren mit Büchern gefüllt, deren Buchrücken nur komische Zeichen enthielten, die vielleicht Arabisch waren. Viele Bücher waren bestimmt auch Gälisch, aber das erkannte ich nicht. Chinesisch, Japanisch oder Koreanisch konnte ich auch nicht auseinander halten, und kurz war ich überrascht, dass einige (oder alle!?) asiatische Sprachen sprachen, aber dann fiel mir wieder ein, dass die meisten den lieben langen Tag wohl nicht sonderlich viel zu tun gehabt hatten. Wenn ich unsterblich gewesen wäre, hätte ich vermutlich auch begonnen, Sprachen zu lernen. Oder ein Instrument. Addie hätte alle existierenden Bücher dieser Welt gelesen. Chase hätte jede Frau -das muss ich nicht wirklich vollenden, oder? Trish hätte jedes Klavierstück auswendig gelernt.

Was Beverly und Trev wohl mit unendlicher Lebenszeit anfangen würden?

„Wenn du nach Kochbüchern suchst, wirst du hier nicht fündig." Ich drehte mich um und sah Brikeena auf mich zu kommen. „Aber wir haben eine nette Sammlung an Büchern, die Rezepte für magische Tränke enthalten. Zweiter Stock, Reihe achtundzwanzig, Regal T6-T12."

Ich schüttelte den Kopf, weil mich ihr Sarkasmus an den meiner Freundin erinnerte. „Du bist wie Beverly."

„Beverly ist wie ich", widersprach sie lächelnd und strich sich eine hellbraune Haarsträhne hinters Ohr.

„Wie kommst du darauf, dass ich Kochbücher suche?"

„Ich wollte anfänglich eigentlich Kamasutra sagen, war mir aber nicht sicher, ob du für die Art von Humor zu haben bist."

Ich blinzelte sie an und schüttelte dann den Kopf. „Ich nehme zurück, was ich gesagt habe. Du bist wie Chase."

Sie lachte. „Suchst du was Bestimmtes?"

„Eigentlich schon, aber das gibt es hier vermutlich nicht. Ich bin nur im Auftrag meiner Schwester hier."

Oder vielleicht wolltest du von Beverly weg, flüsterte die boshafte Stimme, aber ich verscheuchte sie. Ich hatte sie nicht verlassen. Sie hatte nicht gesagt, dass sie wollte, dass ich blieb. Nein, sie wollte mit Chase trinken. Also hatte ich nichts falsch gemacht.

„Was suchst du denn?"

„Eine signierte Ausgabe von Hamlet."

Brikeena lachte wieder und ich fand es unheimlich, wie sehr es Beverly's Lachen ähnelte. „Nein, das haben wir wirklich nicht. Aber ich kann dir Romeo und Julia anbieten, falls sie sich damit zufrieden gibt. In dem Buch steckt sogar ein Liebesbrief von Shakespeare an meine Großmutter."

Ich sah sie unsicher an. „Das ist ein Witz, oder?"

„Ja", lächelte sie und verdrehte die Augen. „Das mit dem Liebesbrief schon, aber meine Großmutter kannte ihn wirklich. Da fällt mir ein..." Nachdenklich sah sie an mir vorbei. „Ich glaube, sie hat den Entwurf seines letzten Buches mitgenommen, als er gestorben ist. Wurde nie veröffentlicht. Der ist bestimmt hier irgendwo." Hier irgendwo. Ich wollte gar nicht wissen, wie viele Bücher in dem Saal standen. Vermutlich ein paar Millionen. Sie nickte mit dem Kopf zu den schmalen Holztreppen an der Seite, die in die zweite Etage führten, und ich folgte ihr.

„Deine Schwester mag also alte Dichter, ja? Wie sieht's mit dem Gingermädchen aus? Bücher, Blumen, Schmuck oder Schokolade?"

Ich versuchte, mein Schmunzeln zu unterdrücken, während ich hinter ihr herging und vom Treppengeländer aus auf die Regale unter mir hinab sah. Es war beeindruckend, wie viel Detailarbeit an dem Holz, den Wänden und der Decke vorgenommen wurde.

„Ich fürchte, sie ist an... der Gesellschaft von Frauen nicht so interessiert wie du."

Sie warf mir über die Schultern ein schelmisches Lächeln zu, das mich wieder an Chase erinnerte. „Wir werden sehen. Ich bin nicht bereit, so schnell aufzugeben." Oben angekommen ging sie zielstrebig weiter nach hinten. Ich sah in den ersten Stock hinunter und bemerkte, dass an den Fenstern Bänke und Stühle standen und ab und zu auch Tische aufgestellt waren. „Außerdem könntest du mir doch helfen."

Ich blieb abrupt stehen und zog die Augenbrauen hoch. „Ich soll dich mit einer Freundin von mir verkuppeln?"

Sie drehte sich um und sah mich prüfend an. „Würdest du es eher tun, wenn ich mich an den süßen Blondschopf ranmachen wollen würde? Das könnte ich nämlich durchaus tun." Sie suchte akribisch die Plaketten an den Regalreihen ab.

„Mir ist es ziemlich egal, ob du auf Männer oder Frauen stehst, aber ich verkupple dich nicht mit meinen Freunden", stellte ich klar.

„Er sieht verdammt heiß aus." Sie kniff die Augen zusammen, verzog fast schon gequält das Gesicht und so scharf die Luft ein. „Wirklich verdammt gut. Und der Sex wäre mit Sicherheit bombastisch." Ich zog die Augenbrauen hoch. Mir war noch nie in meinem Leben ein Mädchen über den Weg gelaufen, das mit einem praktisch Fremden ungehemmt über Sex mit seinem besten Freund redete.

Vielleicht mochte ich Brikeena deshalb.

Ich würde nie verstehen, warum die Mehrheit aller Frauen Herzchenaugen bekam, wenn sie Chase sah. Ja, er hatte den typischen, kalifornischen Surfer-Look, der in Teen-Dramen propagiert wird, mit seinen blonden Locken und der gebräunten Haut und trainiert war er auch. Und ja, seine direkte, selbstsichere Art beim Flirten gefiel den meisten auch, das hatte ich verstanden. Aber er wollte keine Beziehung, und es konnten doch wohl nicht alle Mädchen ihre Selbstachtung so schnell wie ihr Höschen wegwerfen, wenn er sie anlächelte, oder?

„Allerdings würde ich ihn wahrscheinlich innerhalb von fünf Sekunden in mein Bett bekommen." Vermutlich eher anders herum. „Und ich liebe nun mal Herausforderungen", lächelte sie verschlagen und bog zwischen den Regalen 45 und 46 ein. Vor dem Regal mit dem G1-G9 auf der obersten Plakette fixierte sie den Blick und blieb bei der fünften Reihe hängen.

„Und deine Familie findet es okay, dass du auf Frauen stehst?", fragte ich, weil es mir so absurd schien, da sie aus einem völlig anderen Jahrhundert stammte. Wurde sowas früher nicht mit dem Tod bestraft?

„Nein, absolut nicht", lachte sie. „Ich meine, manchen geht es völlig an ihrem aller Wertesten vorbei, aber andere wiederum sagen, ich bringe Schande über die Familie." Sie sah mich an. „Wir sind auch nicht viel anders, als andere Familien. Wir sind nur ein bisschen älter."

„Und ein bisschen größer", fügte ich hinzu. Ich hatte immer gedacht, dass meine Familie groß war, aber ich wollte mir das Ausmaß von Beverly's Verwandtenkreis nicht vorstellen. „Hast du noch nicht den Überblick über deine Geschwister verloren?"

Sie schmunzelte. „Nur über die, die vor mir da waren."

Brikeena griff nach etwas, das wie zusammengeklebte Seiten aussah und drückte es mir in die Hand. „Hier. Das unbeendete Shakespearestück ohne Titel. Aber das hast du nicht von mir." Sie warf mir einen verschwörerischen Blick zu, bevor sie an mir vorbei ging. Ich blätterte das Ding flüchtig durch.

„Meine Schwester wird in Ohnmacht fallen, wenn sie das sieht." Dann fiel mir etwas ein und ich drehte mich zu Brikeena um. „Was wolltest du eigentlich hier?"

„Verstecken spielen."

Ich dachte erst, dass sie mich auf den Arm nahm, weil es eine ziemlich blöde Frage gewesen war. Was wollte ein Mensch wohl in einer Bibliothek? Allerdings ging sie unverwandt weiter zurück zu den Stufen.

„Vor wem versteckst du dich?" Ich holte auf.

Sie zuckte mit den Schultern. „Meinen Geschwistern."

„Warum?" Ich war wahrscheinlich neugieriger, als ich sein sollte, aber jede Chance, mehr über Beverly's Familie herauszufinden, wollte ich ergreifen.

Sie seufzte kaum merklich und ging die Treppen wieder nach unten. „Ist kompliziert."

„Ich bin sicher, ich kann dir folgen."

Sie blieb neben einem hüfthohen Glaskasten stehen und drehte sich zu mir. „Es gibt da eine Sache... die zwischen Corona und mir vor vielen, vielen Jahren stattgefunden hat. Diese Sache hat..." Sie sah unentschlossen auf den Boden. „Es hat unsere Familie irgendwie gespalten. Es gibt diejenigen, die damals auf ihrer Seite gestanden haben und die, die auf meiner waren. Manche haben sich aus der Sache rausgehalten. Und das hat sich bis heute nicht geändert." Sie lächelte müde. „Es ist fast schon ein Gesetz, dass man nicht meiner Meinung sein kann, wenn man damals auf Corona's Seite war, verstehst du? Es hat alles verkompliziert."

Ja, das verstand ich sogar sehr gut. Vor wenigen Monaten noch hatte es die Beverly-Seite gegeben und die Aidan-Seite. Diese völlig bescheuerten Seiten hätten fast meine Freundschaft zu Trev, Trish und Chase zerstört. Eine Zeit lang hatte es auch die Addie-Seite und die Aidan-Seite gegeben, als ich dumm genug gewesen war, Jo, meine Zwillingsschwester, über Addie zu stellen.

Damals hatte ich mir nicht vorstellen können, Beverly jemals zu verzeihen, dass sie sich umgebracht hatte. Dass sie wieder auferstanden war und sich vor mir versteckt hatte. Dass sie mich durch diese Hölle hatte laufen lassen.

Aber ich hatte ihr verziehen. Keine Ahnung, wie ich das hinbekommen hatte.

„Ich nehme an, du bist der Meinung, dass Corona einen Fehler gemacht hat", sagte ich schließlich.

„Fehler", sie spuckte das Wort aus, als sei es Gift und funkelte mich an. „Nein, es war kein Fehler, es war eine Entscheidung, die sie bewusst getroffen hat, und sie wusste, dass sie falsch war, aber sie hat es trotzdem getan!"

„Wie lange ist es her?", fragte ich vorsichtig.

Sie schwieg einen Moment lang. „Es war 1874."

Ungläubig stieß ich den Atem aus. „Das ist... verdammt lange her. Ich will dir nicht zu nahe treten, aber... findest du nicht, dass es Zeit ist, ihr zu verzeihen? Was auch immer sie getan hat."

Den Ausdruck, der in ihren Augen lag, konnte ich nicht deuten. Ich erkannte nur, dass nichts mehr von dem sarkastischen, gut gelaunten Mädchen, das sich an Trish ranmachen wollte, übrig war. „Nein, sowas ist unverzeihlich", flüsterte sie und schüttelte leicht den Kopf.

Ich musste mich daran erinnern, dass ich Addie auch nicht verziehen hatte, dass sie Jo umgebracht hatte. Und vermutlich würde ich das auch nie. Nicht mal in zweihundert Jahren. Aber gleichzeitig wusste ich nicht, wie die ganze Geschichte ausgegangen wäre, wenn sie es nicht getan hätte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top