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Beverly

Wenn ihr ein Dollar weggenommen werden würde, für jedes Mal das sie es schafft, von zwei Möglichkeiten die falsche zu wählen, dann wäre sie mittlerweile pleite.

So, oder so ähnlich, könnte der Anfang meiner Biografie lauten. Der komplette Inhalt meines Lebens kurz und knackig zusammengefasst. Nur bezweifelte ich, dass sich jemand die Mühe machen würde, eine Biografie über mein Leben zu verfassen. Nichts desto trotz konnte ich mich an keine Zeit in meinem Leben erinnern, in der dieser Satz nicht zugetroffen hätte.

Vor exakt einem Jahr hatte ich Aidan zum aller ersten Mal getroffen. Im J.W. House, der Nervenheilanstalt, in der ich behandelt worden war. Damals war ich achtzehn Jahre alt geworden.

Jetzt war ich ein ganzes Jahr älter. Zwölf Monate. Zweiundfünfzig Wochen. Dreihundertfünfundsechzig Tage.

Und obwohl ich mich in dieser Zeit ziemlich verändert hatte, traf ich immer noch dieselben dummen Entscheidungen. Sonst wäre ich jetzt nicht seit knappen zwei Wochen in Irland, sondern immer noch in Kalifornien, und hätte mich am Drama anderer erfreut (sprich: Addie und Trev), anstatt mein eigenes auf die Beine zu stellen. Wenn ich in diesen dreihundertfünfundsechzig Tagen klüger geworden wäre, hätte ich nicht Felicity's Anweisungen befolgt, wäre nicht in das Flugzeug gestiegen und hätte mich nicht an den Arsch der Welt verfrachten lassen.

Aber offenbar lässt die menschliche Intelligenz ausreichend Spielraum für Fehler.

Dumme Intelligenz.

Warum konnte ich keine Ameise sein? Die hatten keine Entscheidungsfreiheit. Nur Selbsterhaltungsinstinkt. Wenn mir der nicht flöten gegangen wäre, wäre ich sicher auch nicht so oft in lebensbedrohliche Situationen gerutscht.

In der Nacht meines achtzehnten Geburtstages hatte ich an meinem Schreibtisch gesessen und Aidan und Addie porträtiert. Heute Abend hatte ich ebenfalls vor einem Tisch gesessen und gezeichnet, nur waren es weder Addie noch Aidan gewesen, sondern Iona. Oder zumindest das, was meine Gedankenfetzen von ihr hergegeben hatten.

Aber fangen wir doch von vorne an. Es war mittlerweile nach zwölf und ich lag in einem Hotel in Portmagee alleine in einem engen, kleinen Bett. Die Einzelzimmer hatten mich die ersten paar Tage nicht gestört, da wir wegen der Grippe, die ich mir aufgrund des feuchten Wetters und des fehlenden Dämons eingefangen hatte, nicht hatten weiterreisen können. Mit wir meine ich meinen Halbdämonenfreund, Aidan, das dämonenjagende Arschloch, Chase, und meine beste, an einen Dämon gebundene Freundin, Trish. Und mich, die komische Brooklynn Hexe, die von den Toten auferstanden ist.

Jedenfalls hatte mich meine Krankheit ans Bett gefesselt und die Einzelzimmer hatten auch Sinn ergeben. Nicht jedoch, weil Aidan sich sonst angesteckt hätte, sondern einfach, weil er es sicherlich nicht sonderlich sexy gefunden hätte, neben einer hustenden und rotzenden Freundin zu liegen, die ihm den Schlaf raubte und sich nicht entscheiden konnte, ob ihr nun heiß oder kalt war. Aber ich war seit fast zwei Tagen fieberfrei und bibberte unter den zwei Decken. Die Nächte in Irland waren kalt, und diese kleine Ortschaft schien im Mittelalter hängen geblieben zu sein und das Wort Heizkörper nicht zu kennen. Aber eigentlich brauchte ich nicht zu reden. Immerhin hatte genau dieses hochmoderne Gerät in meinem Haus in Bakersfield gefehlt. Aber da hatte ich in den kalten Nächten meinen persönlichen Heizkörper neben mir liegen gehabt.

Also schlug ich gegen ein Uhr kurzerhand die dicken Decken zur Seite und verließ mein Zimmer. Die Holzdielen knarrten unter meinen Wollsocken und ich hatte das Gefühl, jeden Bewohner dieses Hotels zu wecken.

Es war nicht einmal wirklich ein Hotel. Portmagee lag an der südlichen Küste Irlands und im Unterstock dieses Gebäudes war eine Bar, in der sich Fischer trafen und Bier tranken. Hier oben waren die Zimmer. Ich schlich über den Flur drei Türen weiter und vergewisserte mich, dass ich vor dem richtigen Zimmer stand. Ich wollte nicht versehentlich in Chase' oder Trish's Zimmer landen. Was ich darin vielleicht vorgefunden hätte, wollte ich mir nicht ausmalen.

Leise drückte ich die Türe auf und schlüpfte ins Zimmer. In der Dunkelheit erkannte ich nicht viel, nur die Umrisse des Bettes und, dass eine Person darin lag. Vorsichtig hob ich die Decke an und kletterte auf Aidan, weil neben ihm nicht sonderlich viel Platz für mich war.

„Bitte sag mir, dass du eine betrunkene Fremde bist, das fände ich nämlich viel schärfer, als meine verkeimte Freundin", murmelte er schlaftrunken.

„Ich bin nicht mehr verkeimt, mir ist nur kalt", erwiderte ich lächelnd und küsste ihn.

„Du weißt schon, dass sich Viren auch noch in deinem Körper aufhalten können, wenn du längst gesund bist, oder?"

„Und du weißt, dass du ein Halbdämon bist und in deinem ganzen Leben noch nicht mal eine stinknormale Erkältung gehabt hast."

„Auch wieder wahr..."

Ich ließ meine Hände unter sein Shirt und entlang seiner Boxershorts gleiten.

„Was wird das?", murmelte er gegen meine Lippen.

„Du brauchst ein Wort dafür?" Ich zog mir mein lockeres Schlafshirt über den Kopf und ließ es auf den Boden fallen, bevor ich mich wieder über ihn beugte. „Sex."

Er war wirklich warm. Ob das auch an dem Dämonenblut lag, das durch seine Adern floss?

„Bev..." Er ließ seine Hände über meine Arme zu meinen Handgelenken gleiten und umfasste diese sanft. Selbst in der Dunkelheit wusste ich, wie ernst er mich ansah.

„Was ist?" Diese Worte verließen meinen Mund schroffer, als ich es beabsichtigt hatte. Wir hatten genau einmal miteinander geschlafen. Am darauffolgenden Morgen hatte ich eine kleine Panikattacke gehabt, aber davon wusste er nichts. Doch jedes Mal wenn ich seither versucht hatte, mit ihm zu schlafen, hatte er mich abgewimmelt. Die ersten paar Tage hatte ich das auf die zu kleinen Betten geschoben, aber man kommt beim Sex ganz gut zurecht, wenn man aufeinander liegt. Dann war meine Grippe im Weg gewesen, das hatte ich auch verstanden.

Aber jetzt verstand ich es nicht.

Gab es nicht sowas wie Geburtstagssex? Gut, Aidan hatte mit Sicherheit vergessen, dass ich heute Geburtstag hatte, aber darum ging es hier ja gar nicht.

Müde war er auch nicht, denn in der Sekunde in der ich das Wort Sex ausgesprochen hatte, war er hellwach gewesen.

„Das ist keine gute Idee", meinte er vorsichtig.

„Was soll das heißen?"

Er zögerte. „Es ist einfach..."

Ich stieß einen Laut aus, der irgendwo zwischen Gekränktheit und Lachen lag, befreite meine Handgelenke aus seinen Händen und kämpfte mich unter der Decke hervor.

„Bev", seufzte er und setzte sich auf, während ich mir mein Oberteil wieder überstreifte. „Geh nicht weg."

„Warum nicht? Du willst nicht... Du findest mich offensichtlich nicht mehr anziehend oder attraktiv oder was weiß ich, also kann ich auch in meinem Bett keinen Sex mit dir haben."

„Bev, darum geht es doch gar nicht!", stritt er ab.

„Worum dann?", fauchte ich und fuhr herum. Ich wusste nicht, warum ich so gereizt reagierte. Das war eigentlich nicht meine Art. Aber offenbar schlug mir die Tatsache, dass ich keine Ahnung hatte, was ich in Irland eigentlich zu suchen hatte, zu schaffen.

Er betrachtete mich kurz schweigend. „Ich weiß davon."

„Wovon weißt du?"

„Der Panikattacke." Ich starrte ihn an. Die kleinen Rädchen in meinem Gehirn begannen zu rattern. Nur zwei Personen hatten davon gewusst. Trish und Chase. Und aus irgendeinem Grund konnte ich mir absolut nicht vorstellen, dass er diese Information von Chase hatte, was das Ganze lediglich schlimmer machte.

Abrupt stand ich auf und verließ ohne ein weiteres Wort sein Zimmer.

„Bev, ich will doch nur-" Ich unterbrach ihn, indem ich die Türe zuschlug. Dabei interessierte es mich herzlich wenig, dass ich vermutlich jeden Schlafenden in diesem Haus weckte.

~~ ~~

Am nächsten Morgen beim Frühstück ließ ich mich absichtlich so schnell wie möglich neben Chase fallen, woraufhin Aidan seufzend die Augen verdrehte, sich aber widerstandslos gegenüber von ihm niederließ. Chase warf mir einen irritierten Seitenblick zu, aber ich ignorierte ihn. Auch Trish war die Anspannung nicht entgangen, aber sie sagte nichts.

Wir aßen die Rühreier, den Toast, die Würstchen und den Schinken schweigend. Bis Chase sich, als er seinen Kaffee ausgetrunken hatte, selbstgefällig zurücklehnte. „Okay, wer von euch beiden hat gestern Nacht Scheiße gebaut?" Er deutete zwischen mir und Aidan hin und her.

„Chase", mahnte Trish ihn, wie ein kleines Kind.

„Was denn? Am Abend war noch alles okay." Er drehte sich zu mir. „Machst du jetzt schon Zimmerbesuche, Bevy?"

Ich warf ihm einen Todesblick zu, den er mit gehobenen Augenbrauen und einem Grinsen konterte, weil er wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte.

„Warum fragst du nicht Trish?", knurrte ich, woraufhin sie mich irritiert ansah.

„Wow", lachte Chase. „Das Thema nimmt ja eine völlig neue Würze an. Was hast du angestellt?"

Trish schluckte ihren Bissen schwer hinunter. „Also, ich hab keinen Zimmerbesuch bei deinem Freund gemacht."

„Kann ich bestätigen", nickte Chase.

Sie schien ehrlich verwirrt. Das konnte ich ihr nicht verübeln, die ganze Panikattackensache lag nun immerhin schon ein paar Wochen zurück. „Nein, aber dafür hast du meinem Freund verraten, dass ich eine Panikattacke hatte", entgegnete ich und funkelte sie wütend an, worauf sie nur mit einem erschrockenen Blinzeln reagierte.

„Bev, ich wollte nicht-"

„Vergiss es", unterbrach ich sie und wandte mich wieder meinem Teller zu. „Ist ohnehin kein Thema mehr, wie es scheint."

„Beverly." Aidan rieb sich angestrengt das Gesicht.

Ich wusste selbst nicht, warum ich so verbittert und zickig war. Bestimmt hatte Trish es nicht böse gemeint. Bestimmt meinte auch Aidan nichts böse, und wir hätten die ganze Sache innerhalb von fünf Minuten geklärt gehabt.

Meine Gereiztheit konnte natürlich auch darin ihren Ursprung finden, dass sich in meine Fieberträume auch Dinge von Iona, meiner leiblichen Mutter, hineingeschlichen hatten. Träume, in denen sie gemeint hatte, ich müsse einen Zauberspruch schreiben, der Cillian, einen Zauberer, der zufälligerweise auch ein Phönix war, töten konnte. Nur war ich mir nicht sicher, ob das wirklich ein stattgefundenes Gespräch direkt nach meiner Auferstehung gewesen war, oder eben nur ein verrückter Fiebertraum, deshalb hatte ich auch mit niemandem darüber gesprochen.

Einen Zauberspruch schreiben, der einen Phönix und Zauberer umbringen konnte. Das war doch nun wirklich eine Nummer zu groß. Und mit eine meine ich hundert. Ich hatte keine Ahnung vom Zaubern. Oder von Magie. Ich war nur ein paar Jahre an Dentalion, meinen Dämon, gebunden gewesen, aber wirklich viel angestellt hatte ich mit der Magie, die er mir dadurch verliehen hatte, nicht.

„Das schreit doch förmlich nach Scotch", meinte Chase irgendwann und unterbrach die angespannte Stille.

„Es ist neun Uhr morgens", bemerkte ich.

„Und das Land, in dem der Scotch geboren wurde."

„Was hat das damit zu tun?"

„Gar nichts, mir gehen nur die guten Argumente fürs Trinken aus." Dachte er tatsächlich, dass er jemals gute Argumente gehabt hatte?

„Du wirst noch an Nierenversagen sterben."

„Und du an deiner Verbitterung." Er stand auf und ging zur Bar. Als er nach einer Minute wieder kam, fuhr er mit seiner Missachtung mir gegenüber fort. „Lieber sterbe ich an Leber- und Nierenversagen mit einem betrunkenen Lächeln im Gesicht, als nüchtern mit den Falten, die du gerade ziehst. Pass auf, die nisten sich sonst dauerhaft ein, Bevy."

Ja, ich weiß. Schwer zu glauben, dass wir tatsächlich sowas wie Freunde waren.

„Arschloch", murmelte ich.

„Miststück", erwiderte er unbeeindruckt.

Ich wandte mich wieder meinem Frühstück zu. Jetzt, da ich nach der Grippe wieder ordentlich essen konnte, fraß ich wie ein Uhrwerk, aber gerade jetzt bekam ich kaum einen Bissen hinunter. Dumpf bekam ich mit, wie Chase das Thema wechselte und die beiden Verräter fragte, ob sie etwas von Addie gehört hatten. Die schwangere, mit einem Dämon verbundene Addie, alleine in Fresno mit einem wütenden, verbitterten Ex-Freund, war ein Thema für sich.

Nur ging das Gespräch an mir vorbei, weil ich mich plötzlich so beobachtet fühlte. Unauffällig ließ ich meinen Blick durch den Raum schweifen, als suche ich nach einer Bedienung. Zwischen den ganzen überwiegend alten Leuten, die sich in dem starken südwestlich-irischen Akzent unterhielten, der selbst für mich kaum zu verstehen war (die Mutter, bei der ich aufgewachsen war, kam aus Irland, aber die Akzente in Cork und Kerry waren selbst für die meisten Iren nicht zu verstehen, sofern sie nicht aus dem Süden stammten) entdeckte ich in der hintersten Ecke einen jungen Mann, der mich tatsächlich mit seinem Blick fixierte. Ich ließ meine Augen unauffällig weiter über das Geschehen in der Bar gleiten und kam schließlich nochmal auf den Mann zurück, der vielleicht ein paar Jahre älter war als ich. Diesmal sah ich nicht weg, sondern direkt in seine Augen. Sein Blick wirkte grimmig und forschend und erinnerte mich irgendwie an den Ausdruck, der früher in Chase' Augen gelegen hatte, wenn er mich gesehen hatte. Er hatte dunkle Haare und trug eine Regenjacke, wie die meisten Menschen hier. Vor ihm stand nur ein großer Bierkrug. Und habe ich schon erwähnt, dass er mich anstarrte? Irgendwann wandte ich den Blick ab.

„Nein, es ist doch viel zu früh. Sie hat den ersten Ultraschall erst in ein paar Wochen", sagte Trish gerade, als ich meine Aufmerksam wieder dem Gespräch am Tisch zuwenden wollte.

„Auf was wetten wir, dass Trev mitgeht?", entgegnete Chase.

„Auf was wetten wir, dass er in Ohnmacht fällt", erwiderte Trish und grinste.

Der Typ sah mich immer noch an, das spürte ich. Sowas spürt man einfach. 

„Wetten wir lieber auf das Geschlecht. Fünfzig Mäuse, wenn es ein Junge ist", meinte Trish.

„Niemals, es wird ein Mädchen", entgegnete Chase, als wäre das die einzig logische Option.

„Warum bist du dir da so sicher?", fragte Aidan.

„Als ob der Waschlappen es hinbekommen würde, einen Mann zu zeugen", meinte Chase, woraufhin Trish lachen musste.

„Bevy." Chase stieß mich mit dem Ellenbogen an. „Schau nicht so beleidigt, das mit den Falten hab ich ernst gemeint."

Ich ging nicht drauf ein, sondern sah wieder zu dem Tisch, an dem der Mann gesessen hatte, aber lediglich der Bierkrug stand noch dort. 

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