Schneegestöber

(Jenna Pov)

Der Winter hatte in diesem Jahr besonders stark in Bruchtal Einzug gehalten. Mittlerweile wusste ich genau wo ich mich in Mittelerde befand und hatte auch nachvollziehen können welche Strecke mich Tavaro nach Norden geführt hatte. Das Nebelgebirge dabei immer östlich liegen lassend.
Die Gegenwart war mir kein Rätsel mehr. Nur zwei Dinge waren mir schleierhaft. Die Zukunft, auch wenn ich oft das Gefühl hatte als wenn ich wissen müsste was mich erwartet. Kathrin, der ich verzeihen konnte, kam manchmal mit einer ähnlichen Ahnung auf mich zu. Und auch in meiner eigenen Vergangenheit klafften noch einige Lücken. Immer wieder reiste ich in meinen Träumen zurück in meine Kindheit. An sie konnte ich mich erinnern, an all die schönen, unbekümmerten Zeiten mit meiner Mutter und meinem Onkel. Aber sobald ich in den Armen des Elben liege, der mich aus der brennenden Stadt trägt, verschwimmt alles im Nebel. Nur dieses eine Ereignis tauchte immer wieder in meinen Träumen auf, raubte mir den Schlaf und ließ mich schweißgebaded aufschrecken. Die Erinnerung an eine dunkle Zelle, fensterlos und kalt. Ich bin erwachsen, das weiß ich, aber habe keinen Anhaltspunkt wo ich bin und wann genau es ist. Nicht einmal, ob es real ist, weiß ich, doch es fühlt sich derartig echt an, dass ich daran nicht mehr zweifle. Die Folterung, die ich im Schlaf immer wieder erlebte und die Narben auf meinem Rücken. Sie passten perfekt zusammen. Oftmals spürte ich sogar noch den heißen Schmerz, wenn ich wieder einmal das Knallen der Peitsche hörte und mit einem Schrei aufwachte.
Niemand wusste von diesen Träumen, nicht einmal Glorfindel. Auch wenn er mich zu Beginn noch öfters nach dem Ursprung meiner Narben gefragt und ich geantwortet hatte, dass ich es nicht mehr wüsste.

Meine Vergangenheit war ein Rätsel. Ich wusste nicht mehr wer ich wirklich war.

Der dicke Schnee, der in den letzten Tagen Bruchtal überzogen hatte, knirschte unter meinen Stiefeln. Ich wanderte durch die Gärten, die in winterlicher Stille dalagen. In einiger Ferne rauschte der Fluss in die Tiefe, der in vielen abgezweigten kleinen Armen durch Bruchtal floss und in einem großen Wasserfall wieder zusammenfanden. Selbst die kleinen Flussarme waren zugefroren. Schnee soll es hier seit einigen Jahrzehnten nicht mehr gegeben haben und jetzt bedeckte eine ordentliche Schicht der weißen Pracht das verborgene Tal. Dick eingepackt und in einen warmen Mantel gehüllt, hatte ich mich nach draußen gewagt. Die Sonne stand schon tief und war lange hinter den Felsklüften verschwunden. Nur die obersten Ränder der Berghänge leuchteten in einem warmen Orange. Dabei war gerade einmal Nachmittag.

Ich war allein. Nicht einmal Kathrin hatte sich dazu überwinden können mich nach draußen zu begleiten. Zu kalt. Wie alle anderen Elben blieb sie in den Gebäuden und genoss die Wärme, die die Kamine spendeten. Mir war es ganz recht. In den letzten Wochen seit meiner vollständigen Genesung war ich nur noch zurückgezogener und verschlossener. Ich war froh hier bei meinem Onkel zu sein und endlich nicht mehr die Last der Missbillung in der Schule auf meinen Schultern zu spüren. Aber ich vermisste auch meine Eltern. Sehr sogar.
Leise seufzend schlug ich den Weg in den weitläufigen Garten ein. Mein Atem bildete kleine Wölkchen. Im Sommer hatten hier noch viele Blumen geblüht, Schmetterlinge waren durch die Lüfte getanzt und Glorfindel hatte seinen Schülern unterricht im Schwertkampf gegeben.

Ich überquerte gerade einen schmalen Steg, als mich plötzlich eine Ladung Schnee am Kopf traf. Das kühle Nass rutschte an mir herab, rieselte zu Boden oder verfing sich in meinen Haaren und schmolz. Augenblicklich war ich stehen geblieben, verdutzt und überrascht. Ich hatte niemandem im Garten gesehen und auch jetzt als ich langsam den Kopf nach rechts drehte war da keiner, der den Schneeball hatte werfen können. Mein Weg führte mich weiter über den Steg und ich stapfte durch den knirschenden Schnee, bis ein leises Kichern an meine Ohren drang. Meine Vermutung bestätigte sich, als ich unter einer ausladenden Eiche stehen blieb und den Kopf in den Nacken legte.
"Estel!" Dort oben in einer Astgabel hockte der Ziehsohn Elrond und grinste mir frech entgegen. Für einen Zehnjährigen hatte er noch unglaublich viele Flausen im Kopf. Besonders wenn Elladan und Elrohir mit von der Partie waren. Doch von den Zwillingen gab es dieses Mal keine Spur.
"Machst du wieder Jagd auf unschuldige Spaziergänger?", erkundigte ich mich und schüttelte neuen Schnee aus meinen Haaren, der auf mich herabrieselte.
"Du bist die erste, die seit Stunden in reichbarer Nähe war", beklagte er sich und hangelte sich weitere Äste nach unten.
"Langweilig also?"
"Sterbenslangweilig!", kam grummelnd von dem braunhaarigen Menschenjungen. Mit Leichtigkeit sprang er von einem der unteren Äste neben mir in den Schnee. Ein freches Grinsen zierte noch immer sein Gesicht.
"Elladan und Elrohir sind seit Tagen nicht da. Eine Patrouille an den Grenzen. Herr Glorfindel ist auch bei ihnen nicht?" Ich nickte, sodass er nur theatralisch seufzte. Den Blick zu Boden gerichtet trat er immer wieder den Schnee, schob ihn hin und her, bis sogar der gelbe Rasen zum Vorschein kam.
"Adar hat mir nicht erlaubt mitzugehen. Zu gefährlich sagt er. Dabei meint Herr Glorfindel immer, dass ich gute Fortschritte mache."
"Es ist gefährlich draußen, Estel. Besonders für einen Jungen wie dich", erwiderte ich leise. Estel hob den Blick, hielt inne mit seinem Schnee schieben und seine Augen weiteten sich plötzlich.
"Stimmt du warst ja dort und wurdest verletzt. Tut mir Leid, Almariel." Neben Elrond war er der einzige, der mich bei meinem elbischen Namen nannte. Ich hatte es ihm nicht abgewöhnen können und so ließ ich ihn. Der Junge war mir schnell ans Herz gewachsen. Er war so viel lockerer als alle anderen Elben. Neben Elrohir, Kathrin und meinem Onkel war er der einzige mit dem ich wirklich oft zusammen war. Alle anderen mied ich.

"Mach dir keinen Kopf. Alles in Ordnung", versicherte ich lächelnd und wuschelte ihm durch das wirre, braune Haar.
"Was hältst du davon einen Schneemann zu bauen?"
"Einen Schneemann?", hackte er verwirrt nach, nachdem er meine Hand abgeschüttelt hatte. Voller Neugierde schimmerten seine Augen.
"Wie du hast noch nie einen Schneemann gebaut? Das sollten wir ändern", verkündete ich nun auch breit grinsend und begann Estel zu erklären was wir dafür machen müssten und bräuchten.

Der Junge begriff schnell und binnen kürzester Zeit hatten wir zwei Schneemänner zusammengerollt. Je drei Schneebälle hatten wir dazu übereinander gestapelt. Estel hatte bereits eifrig einige schwarze Kieselsteine zusammengesammelt und drückte sie nun in den Schneeball. So bildeten sie schließlich die Knopfreihen, die Augen und auch die Münder. Nachdem er damit fertig war, stürmte er durch den Schnee davon und verschwand hinter einer Ecke des Haupthauses.
Währenddessen steckte ich kopfschüttelnd die Äste für die Arme in den frischen Schnee. Estel war ein aufgeweckter und neugieriger Junge. Auch wenn er mich zu Beginn eher skeptisch beäugt hatte. Sobald er sah, dass Elrohir sich mit mir unterhielt, war er mehr und mehr aufgetaut. Er war ein weiter Verwandter von Herrn Elrond, das hatte Elrohir mir verraten. Ein Nachfahre seines Zwillingsbruders, mehr wusste ich nicht. Auch wenn ich oft, wenn ich in Estels Nähe war, das unbändige Gefühl hatte ihn zu kennen. Wie bei so vielem anderen auch seitdem ich hier war. Als wenn ich es kennen müsste, aber mich partout nicht erinnern könnte. Als wenn in meinem Kopf eine unsichtbare Barriere existierte, die etliche Erinnerungen verschloss.
"Schau was ich für die Schneeleute gefunden habe." Estel riss mich aus meinen Gedanken. Ich hatte ihn nicht einmal näher kommen hören. Stolz streckte er mir einen Eimer entgegen, in den er etliche Gegenstände gestopft hatte. Ich sah zwei Karotten, einen dicken Schal, der verdächtig nach dem aussah, den Herr Elrond von seiner Tochter bekommen hatte. Auch ein paar Striegel und Äpfel befanden sich noch unten im Eimer. Estel drückte mir kurzerhand den Eimer in die Hände, um selbst den Stoffstreifen von seinen Schultern zu nehmen. Irgendwie gelang es ihm diesen über die mittlere Schneekugel zu legen, dann formte er zwei spitze Ohren aus Schnee und klebte sie seitlich an den Kopfball. Zuletzt nahm er sich eine der Karotten, den Schal und zwei Streifen Leder aus dem Eimer. Breit grinsend trat er schließlich von seinem Werk zurück und auch ich brach in ein leises Lachen aus. Estel hatte die Lederstreifen so über den Augen angebracht, dass der Schneemann uns enttäuscht anschaute. Mit den spitzen Ohren, dem Schal und dem Umhang erkannte ich sofort wen Estel damit darstellen wollte. Elrond.
"Wenn er das sehen würde, würde er sich glatt in das Spiegelbild des Schneeelben verwandeln", kicherte ich ausgelassen. Estels Grinsen wurde nur noch breiter, bis er sich vor Lachen schließlich im Schnee wälzte. Er war direkt neben mir griff nach meinem Handgelenk und zog mich mit einem Ruck neben sich in den Schnee. Flocken stoben auf in die Luft und segelten langsam auf uns nieder.
Lachend blieb ich neben Estel liegen. Kälte und Nässe krochen nur langsam durch meinen dicken Mantel, während ich den dicken Wolken zusah, die sich langsam über den Himmel schoben.
"Es wird bald wieder schneien", flüsterte ich und plötzlich seufzte Estel leise, als hätte er sich seinen Gedanken hingegeben und diese hatten ihn weit weg geführt.
"Mit Elladan und Elrohir habe ich auch immer so viel Spaß wie jetzt mit dir. Wenn es wieder zu schneien beginnt, dann werden sie noch später wiederkommen."
Ich drehte mich auf die Seite und setzte mich auf in einen bequemen Schneidersitz, Estel dabei nicht aus den Augen lassend. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte gen Himmel dem nahenden Schnee entgegen.
"Du machst dir Sorgen um die beiden."
"Du etwa nicht um deinen Onkel?", konterte er. Ich seufzte leise.
"Doch natürlich. Aber sie sind gut ausgebildete Krieger und gut in der Lage auf sich selbst aufzupassen. Außerdem macht den Elben die Kälte ja nicht so viel aus wie den Menschen. Weshalb du dringend mal nach drinnen gehen solltest!", stellte ich klar. Estel war zwar dick eingepackt in seine Winterkleidung, doch seine Ohren und seine Nase waren glühend rot. Seine Lippen verfärbten sich langsam bläulich von der Kälte. Seitdem die Sonne verschwunden war, war es merklich abgekühlt. Der kalte Nordwind hatte aufgefrischt und selbst ich fröstelte, als ich aufstand und den Schnee von meiner Hose klopfte. Die ersten weißen Flocken fielen bereits von oben auf uns herab. In den Gängen und Zimmern der Häuser waren die ersten Lichter entzündet worden. Nachdem die Sonne hinter den Bergen verschwunden war, wurde es nun merklich dunkler.
Nach einem weiteren dramatischen Seufzen sprang Estel auf die Beine und schüttelte den Kopf, bis der Schnee zu Boden rieselte, der sich in seinen braunen Strähnen verfangen hatte.
"Normalerweise sind die beiden nie so lange auf Patrouille und nie so weit weg von Bruchtal", murmelte Estel. Nebeneinander gehend durchquerten wir den Garten, während der Schneefall immer dichter und stärker wurde. Die das Tal umgebenden Berge konnte ich schon gar nicht mehr erkennen.
"Als sie vor einem Monat aufbrachen, haben sie versprochen vor dem ersten Schnee zurück zu sein!"
"Also das haben sie nicht geschafft, aber wer konnte schon mit so viel Schnee rechnen. Das hat die Patrouille sicherlich zeitlich nach hinten geworfen."
"Trotzdem. Ein Versprechen ist ein Versprechen!", brummte Estel enttäuscht.
"Und sie haben ihre Versprechen noch nie gebrochen. Aber sie haben gesagt, dass ich beim nächsten kürzeren Ausflug endlich mal mit darf, sobald ich Geburtstag hatte. Elladan sagte, sobald ich elf Jahre alt bin darf ich mit und das werde ich in ein paar Monaten. Ich weiß, dass beide sich noch daran erinnern werden, also werden sie das Versprechen nicht brechen können!"
Ich hatte gerade die Hand auf die Klinke der Tür nach drinnen gelegt, als Estel wie angewurzelt stehen blieb und lauschte. Die dicke Schneeschicht verschlang jegliches Geräusch. Aber ich war nun schon lange genug hier, um zu wissen wann man seiner Intuition vertrauen konnte. Ich horchte genauer. Estel, auch wenn ein Mensch, hatte ein ausgezeichnetes Gehör und wie mir Kathrins Bruder Jasper, oder Erestor wie er eigentlich hieß, einmal klagte, hatte er eine Verbidung zu den Zwillingen, die niemand wirklich verstand.
Da plötzlich hörte ich es auch. Ein Wiehern! Dumpf und sehr leise, aber es war da. Estel war nicht mehr zu halten. Auf dem Absatz kehrt machend, ließ er mich einfach stehen und verschwand im dicken Schneefall. Schon nach wenigen Metern war er völlig vom dichten Weiß verschluckt.
Dass der einfach so blindlings losläuft! Bei all den Wasserfällen und Klippen hier.
Natürlich folgte ich Estel, horchte dabei immer wieder nach dem Wiehern und Klappern der Pferdehufe. Irgendwann mischten sich die ersten Stimmen dazu. Freudige Ausrufe endlich wieder Zuhause zu sein und mitten darunter Estel, der laut meckerte wie ein Rohrspatz. Die Tonlage klang sehr verdächtig nach sowohl seiner Mutter als auch dem Herrn Elrond, wenn sie Estel für einen seiner Streiche rügten.
Endlich konnte ich mit einiger Anstrengung die ersten dunklen Schemen im Schnee erkennen, die mit jedem weiteren Schritt deutlicher an Kontur zunahmen. Doch sehr erleichtert stieß ich einen Seufzer aus als ich unter den dunklen Pferden das schneeweiße Tier meines Onkels erkannte. Es verschwamm fast mit seiner Umgebung.
Glorfindel noch auf dem Rücken Asfaloths wandte sich wie zufällig in meine Richtung. Er musste mich schnell unter den bereits absteigenden Elben erkannt haben. Meine auffälligen Haare erkannte man sofort. Innerhalb einer Sekunde hatte er sich vom Rücken seines Pferdes geschwungen und war mit wenigen Schritten bei mir. Ohne ein Wort der Begrüßung schloss er mich kurzerhand in eine feste Umarmung. Verblüfft blieb ich stehen und brauchte ein paar Sekunden, bevor ich lächelnd die Umarmung erwiederte. Es fühlte sich wunderschön an. Wie Zuhause, wie Heimat, Geborgenheit. Das hatten mir zuvor nur meine Eltern geben können. Mittlerweile wusste ich, dass Elben sich anders begrüßten. Bedeutete eine Umarmung hier das Gleiche wie auf der Erde? Tavaros Begrüßung war eine typisch elbischer Art. Tavaro... Er war nicht wieder aufgetaucht.

"Ihr wart sehr lange weg. Alle haben sich langsam Sorgen gemacht", murmelte ich und hob einen Arm, um Asfaloth über die warme Schnauze zu streicheln. Neugierig war das Tier seinem Reiter gefolgt und schnaubte freudig. Glorfindel löste sich von mir, nachdem er immer wieder von Asfaloth in den Rücken gestupst wurde.
"Der erste Schneesturm holte uns bereits an den Hängen des Nebelgebirges ein. Jetzt der zweite kam in der vorherigen Nacht und erschwerte den Ritt noch weiter."
"Das Nebelgebirge? So weit wart ihr weg?", hackte ich verwundert nach.
"Ein Pack Orks und Warge! Und auch Trolle wagen sich tief in die Ebene, wenn die Tage so dunkel sind", meldete sich Elladan, dem es endlich gelungen war den aufgewühlten Estel zu beruhigen.
"Es werden immer mehr und ihre Angriffe kommen immer häufiger. Das gefällt mir nicht!", ergänzte Elrohir seinen Zwilling.
"Wir hoffen alle, dass das nicht ein Vorbote für etwas Größeres ist. So wie die Schlacht am Einsamen Berg", Glorfindel seufzte nachdenklich, schüttelte die trüben Gedanken dann aber ab.
"Darüber machen wir uns erst morgen früh wieder Sorgen. Jetzt wartet auf uns alle eine warme Mahlzeit und ein heißes Bad!", damit wandte mein Onkel sich seinem Pferd zu. Asfaloth hatte nicht eingehalten und ungeduldig an seinen Haaren zu knabbern begonnen. Auch die Tiere spürten irgendwann die Kälte.

Das Holz im Kamin knackte leise. Geschmeidig tanzten die Flammen darauf herum. In ihren Bann gezogen, starrte ich in die Flammen und ließ meine Gedanken einfach treiben. Ich wollte nicht an etwas bestimmtes denken, denn ich wusste genau, dass wenn ich es tat, würde es mich unweigerlich zu meinen Eltern bringen. Nicht meine biologischen Eltern, auch wenn mich zu diesen ebenfalls unendlich viele Fragen interessierten. Nein meine Adoptiveltern, meine Eltern! Sie würden es für immer für mich sein, auch wenn ich sie niemals wiedersehen würde. Damals als Kathrin kurz nach meiner Ankunft in das Zimmer gestürmt kam und mir offenbarte, dass sie sich nicht einmal mehr an mich erinnern würden, da war ich so unfassbar wütend gewesen. Auf Kathrin, auf Elrond, der er es mir bestätigte, ja selbst Glorfindel wollte ich in den Tagen danach nicht sehen. Es dauerte einige Wochen, bis ich überhaupt wieder ein Wort mit irgendjemandem sprach. Ich hatte das Gefühl gehabt einfach alles und jeden zu verlieren.

Doch war es nicht eigentlich besser, dass sie sich nicht erinnern?, hatte ich mich dann irgendwann gefragt und gemerkt, dass es mir mit dem Wissen ihrer Existenz viel schlimmer ging. Wenn sie nichts mehr von mir wussten, worüber sollten sie dann traurig sein? Sie hatten nichts zu bedauern, nichts verloren oder zumindest erinnerten sie sich nicht mehr an ihren Verlust. Ich aber schon. Und ich dachte oft an meine Eltern, an meine Heimat, mein Zuhause, an jeden Geburtstag und jedes Weihnachtsfest. Ja selbst die kleinsten Streitigkeiten mit meiner Mutter fehlten mir, einfach weil sie da gewesen ist.

Wie lange es wohl dauern wird, bis ich diese Welt Heimat nennen kann? Diesen Ort hier ein Zuhause?

„Jenna?" Erschrocken zuckte ich zusammen, als plötzlich die Stimme meines Onkels neben mir ertönt. Ich hatte ihn nicht einmal näherkommen gehört, so sehr war ich doch wieder in meine Gedanken an die andere Welt versunken. Glorfindel schmunzelte amüsiert über meine heftige Reaktion, seufzte jedoch leise mitfühlend, als er des Ausdrucks in meinen Augen gewahr wurde.

Er hatte sich neben mir auf dem zweiten großen Sessel niedergelassen. Ungewohnt war das noch nasse Haar, das ihm beinahe glatt über die Schultern nach vorne fiel. Wie die anderen Mitglieder der Patrouille hatte er sich nach dem Abendessen zurückgezogen, um ein wohltuendes Bad zu genießen, aber nicht ohne zuvor Elrond Bericht zu erstatten. Deshalb kehrte er auch erst jetzt zurück in das große Kaminzimmer. Elladan und Elrohir waren mit einem pausenlos redenden Estel schon vor etlichen Minuten hineingekommen.

„Du denkst wieder an deine"

„Ja", murmelte ich leise bevor er seinen Satz überhaupt beenden konnte. Er kannte mich nach den paar Monaten schon so gut, dass er meine Mimik lesen konnte wie ein offenes Buch. Ich wandte den Blick wieder von meinem Onkel ab und ließ ihn über die anderen Anwesenden schweifen bis er an einem der Fenster hingen blieb. Draußen pendelte eine Laterne im aufgefrischten Wind heftig hin und her. Große Schneeflocken fielen vom Himmel, wurden immer wieder kurz vom Kerzenlicht erhellt. Der Schneefall schien sich erneut zu einem Sturm zu entwickeln.

„Was haben wir heute für ein Datum?", fragte ich plötzlich leise, als mich der heftige Schneefall an etwas erinnerte. Glorfindel schien etwas überrascht von meiner Frage zu sein, denn es dauert einen Augenblick, bevor er antwortete.

„Datum? Ich glaube du meinst welchen Tag wir heute genau haben. Also für uns Elben befinden wir uns mitten im Hrivë, die Menschen nennen es Winter. Im Kalender der Menschen von Gondor befinden wir uns heute, wenn ich recht habe, am zweiten Tag des Narvinyë oder Narwain. Aber wenn ich deinen Gesichtsausdruck so sehe, dann ist das nicht das, was du dir als Antwort von mir erwünscht hast", bemerkte Glorfindel.

„Nein mein Freund. Deine Nichte spricht von dem Kalender der anderen Welt." Elrond trat an uns heran, die eine Hand auf dem eigenen Rücken. Die andere legte er nun mir auf die Schulter, sodass ich ein zweites Mal überrascht zusammenzuckte. Dass Elben sich immer so lautlos anschleichen müssen!

„Ich kenne mich ein wenig mit dem Kalender deiner Welt aus und dort müsste heute der 24. Dezember sein", wandte er sich nun direkt an mich.

„Heiligabend!" Deshalb hatte ich schon den ganzen Tag über das Gefühl gehabt irgendetwas wichtiges zu verpassen.

„Ist das ein besonderer Tag in der anderen Welt?", erkundigte Glorfindel sich zaghaft. Auch Elrond sah mir nun doch neugierig geworden in die Augen, die ich für eine Weile schloss. Tief durchatmend drehte ich mich im Sessel um soweit es ging, um ihnen ebenfalls in die Gesichter schauen zu können.

„Ja sehr. Es ist einer der wichtigsten Feiertage einer unserer größten Religionen. In ihr gibt es nur einen Gott, nicht viele wie bei den Valar. Vor etwa zweitausend Jahren schickte er seinen Sohn in die Welt der Menschen, um unter ihnen zu leben und um anstelle der Menschen am Kreuz den Tod zu finden und für unsere Sünden zu büßen. Heiligabend ist der Tag oder besser sind die Tage, an denen wir die Geburt Gottes Sohnes feiern. Ich weiß für euch ist es schwer zu begreifen", seufzte ich als ich die verwirrten Blicke sah, die Elrond und Glorfindel sich zuwarfen.
"Nein fahr fort, gwilwileth nîn."
"Christus ist der Heiland für meine Religion. Er hat die Menschen mit seinem Opfer erlöst und ihnen den Weg in den Himmel vereinfacht. Für euch einfacher gesagt durch sein Opfer kann der Mensch nach seinem Tod in das Äquivalent von Mandos Hallen. Ich für meinen Teil glaubte die Jahre vor meiner Herkunft hier nicht mehr sehr an Gott, aber meine Mom und ich waren jedes Jahr an Heiligabend in der Kirche, unser heiliger Ort für Gott. Ganz früher, ich erinnere mich noch gut, haben wir jeden Abend gebetet, aber Heiligabend. Heiligabend war wichtig, egal ob ich glaubte oder nicht. Heiligabend war ganz für die Familie da. Es ist das Fest der Liebe, der Familie, der Freude. Es geht nicht mehr nur um die Geburt von Christus, es ging um das Beisammensein mit denjenigen, die man liebt. Mom und ich haben jedes Jahr gemeinsam gekocht und gegessen. Wir haben das Haus geschmückt, einen Film angesehen, jedes Jahr einen anderen, den wir nicht kannten und vor allem haben wir gesungen und gelacht."
Ich hatte den Blick wieder abgewandt und starrte in das Feuer im Kamin.
"Ich vermisse meine Eltern jeden Tag seitdem ich hier bin. Besonders Mom", ich bemerkte nicht einmal, dass mir die erste Träne über die Wange lief. Elrond flüsterte leise meinem Onkel etwas zu, dann ließ er uns allein. Ich hatte nicht zugehört. Glorfindel rutschte auf seinem Sessel nach vorne. Er griff nach meinen Händen.
"Es ist verständlich, dass du traurig bist. Schließlich hattest du nicht einmal die Gelegenheit dich von ihnen zu verabschieden."
"Aber ich habe das Gefühl, dass es mit jedem Tag schlimmer wird! Es macht mich nicht nur traurig. Manchmal schmerzt es als hätte mir jemand ein Stück meines Herzens herausgeschnitten. Jedes Mal! Ich weine mich in den Schlaf, ich...ich kann es nicht verhindern. Versuche ich es, dann wird es nur noch schlimmer. Wache ich auf, dann bin ich erschöpfter als vor dem Schlafen gehen", brach es aus mir heraus, kaum, dass Glorfindel mit mir alleine war. Alle anderen schienen den kleinen Raum verlassen zu haben. Vielleicht hatte Elrond damit etwas zu tun, vielleicht war auch nur Zeit, dass Estel schlafen gehen sollte.
"Ich kann das nicht Fin", hauchte ich leise.
"Ich habe das Gefühl hier nicht hinzugehören. Nicht nur nach Imladris. Nach Mittelerde. Ich fühle mich fremd. Ich fühle mich nicht als Elbin, ich bin so anders als alle anderen. Ich fühle mich einsam. Ich weiß nicht mehr was ich bin, wer ich bin." Glorfindels Blick war mitleiderregend. Sein Griff um meine Hände wurde eine Spur fester.
"Du hast dein Leben in der alten Welt als Mensch verbracht. Nicht nur, dass es keine Elben dort gab, selbst die Lebensart der Menschen ist so anders als hier, dass ich mir nicht vorstellen kann wie dein Leben dort aussah. Es ist ganz verständlich, dass du dich hier nun fremd fühlst, auch wenn du in dieser Welt geboren wurdest und aufgewachsen bist. Du musst nicht versuchen jemand anderes zu werden. Du musst nur herausfinden wer du in dieser Welt bist. Aber egal wohin dich dein Weg führt, ich werde immer für dich da sein, gwilwileth nîn", flüsterte Glorfindel und strich mir sanft lächelnd über den Handrücken.
"Die Stärke und Intensität deiner Gefühle ist für eine Elbin nicht ungewöhnlich. Daran musst du dich einfach gewöhnen. Wir fühlen und denken in vielen Belangen anders als die Zweitgeborenen."
"Das hat Tavaro auch gesagt", unterbrach ich ihn murmelnd und wischte mir ein paar Tränen von der Wange.
"Wenn er viel herumreist und unter anderen Völkern ist, dann spürt er das noch deutlicher, als ein Elb, der nur unter seinesgleichen ist. Bitte sei ehrlich mit mir Jenna, wie oft versuchst du die Trauer zu unterdrücken?", ernst sah er mir plötzlich direkt in die Augen. Es beunruhigte mich, weshalb ich nur ein leises Warum zustande brachte. Mein Onkel seufzte.
"Ich will es nicht beschönigen, deshalb ganz direkt. Trauer kann uns töten. Es geschah schon oft, dass ein Elb, wenn ihr Gefährte oder seine Gefährtin starb, dass er oder sie ebenfalls geschwunden ist. Unser 'Tod' ist nicht das was Menschen darunter verstehen, doch vor Gram und Trauer kehren wir häufig in Mandos Hallen ein. Und nicht nur bei unseren Gefährten, sondern auch bei Geschwistern oder Eltern, Elben, die uns sehr nahe stehen und die wir lieben, mit denen wir verbunden sind. Nur wenige Elben, die stark genug sind, überleben. Ich mache mir große Sorgen, dass"
"Dass ich sterbe wegen meiner Mom und allem was ich verloren habe", beendete ich leise, als ich merkte, dass Glorfindel zögerte, weil er die Worte nicht auszusprechen vermochte. Er nickte lediglich.
"Damals in Gondolin habe ich den Tod meiner Mutter doch auch überstanden. Warum sollte mir das jetzt nicht auch gelingen? So sehr vermisse ich die andere Welt nun auch nicht. Nur meine Mom", versicherte ich. Traurig und niedergeschlagen zu sein, war für mich jetzt nicht wirklich etwas Neues. Die letzten Jahre war ich so selten richtig glücklich gewesen, dass mich das womöglich sogar mehr wundern würde als deprimiert zu sein.
"Damals warst du ein Kind, ein Elbling. Da ist es etwas anders gewesen, weil du zu jung warst, um es wirklich zu begreifen. Jetzt sehe ich doch wie sehr es dich belastet."
"Wirklich Glorfindel. Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen", murmelte ich nachdenklich. Etwas an seinem Tonfall machte mir nun doch Bedenken, auch wenn ich es nicht zugeben wollte. Was soll mir ein wenig Trauer schon anhaben! Aber eine Elbin war ich so lange nicht mehr gewesen. Wenn er nun recht hatte? Er kannte diese Art von Gefühlen doch besser als ich...

"Wie genau macht sich das denn bemerkbar? Wenn jemand so sehr trauert, dass er stirbt", fragte ich nach einer Weile des Schweigens. Glorfindel hatte meine Hände schon längst wieder losgelassen. Angespannt saß er auf dem Sessel und hatte den Blick nicht eine Sekunde lang von mir abgewandt. Dass er sich Sorgen machte, war nicht zu übersehen.
"Unterschiedlich. Aber die meisten ziehen sich sehr zurück, auch von guten Freunden. Sie verweigern meistens immer öfter das Essen und Trinken. Stattdessen wandeln sie geistesabwesend durch die Gegend und irgendwann", er schluckte und für einen Augenblick kam mir der Gedanke, dass Glorfindel das sicherlich bei Freunden schon miterlebt haben musste.
"Irgendwann vergehen sie in ihrer Trauer. Sie legen sich nieder und stehen nie wieder auf. Es ist ein schleichender Prozess. Manche aber, das muss ich zugeben, die gehen in die Natur und werden nie wieder gesehen. Andere sinken einfach zu Boden, verlieren das Bewusstsein und werden nie wieder wach. Mehrere Tage liegen sie dann im Bett, werden immer blasser und der Lebenshauch verlässt ihren Körper. Als wenn die Trauer und der Verlust ihnen die Lebenskraft entziehen." Mein Onkel hatte während des Sprechens den Blick von mir abgewandt und in die Flammen gestarrt.
"Und ich habe mich in den letzten Monaten sehr zurückgezogen, wenig gegessen, viel geschlafen", gab ich zu.
"Obwohl ich gestehen muss, dass mir das nicht komisch vorkam. Ich war schon immer sehr gern für mich allein."
"Als Kind warst du jedem offen gegenüber. Du bist sogar unaufgefordert König Turgon von Gondolin entgegengetreten, hast ihm die Hand ausgestreckt, dich vorgestellt und höflich gefragt, ob du mit seinem Enkelsohn Eärendil, Elronds Vater, spielen darfst." Glorfindel schmunzelte kurz, während ich ihn erstaunt ansah.
Ich habe mit Elronds Vater gespielt? Aber er ist doch so viel älter als ich.
"Elrond sprach schon davon, dass du nicht mehr so sein würdest wie ich dich kannte. Dennoch...hatte ich Hoffnung doch den kleinen Wirbelwind von früher in dir wiederzuerkennen. Du hast dich scheinbar doch sehr verändert, aber das ist nicht an sich schlimm. Wie du sagtest, du hast dich sehr zurückgezogen. Elrohir versucht dich scheinbar immer wieder dazu zu bringen dich mehr zu öffnen, aber erfolgreich ist er nicht. "

"Elrohir ist nett, aber ich habe einfach keine Lust mehr mit anderen zu interagieren. Ich wurde so oft von den Menschen enttäuscht, ich weiß ihr alle seid keine Menschen, aber ich bin vorsichtig geworden wem ich mich öffne", erklärte ich.
"An sich ja keine schlechte Eigenschaft, denn auch unter uns Elben gibt es diejenigen, die schwierig sind", stimmte er mir schulterzuckend zu. Dann plötzlich richtete er sich auf, umgriff meine Handgelenke und zwang mich dazu ihm direkt in die Augen zu sehen.
"Ich sehe es in deinen Augen", erklärte er eindringlich. Er meinte es ernst.
"Meine Augen?"
"Ja!"
"Hast du schon oft Elben schwinden"
"Ja!", unterbrach er mich dieses Mal. Jetzt würde er sich nicht mehr von diesem Thema ablenken lassen. Ihm war es wichtig. Ich war ihm zu wichtig, als dass er schweigend und tatenlos zusah. Mir wurde mulmig zumute und ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Ein Brennen in den Augen und ein Kratzen im Hals. Es war wie ein dicker Kloß im Hals und Krallen, die sich um Magen und Herz schlangen.
"Wie... Wie kann ich es verhindern? Ich kann meine Mom oder meine Trauer nicht einfach vergessen. Ich wünschte ich könnte es, wie sie und"
Erneut fiel Glorfindel mir ins Wort.
"Nein! Du sollst deine Familie und die andere Welt nicht vergessen. Du hast so lange dort gelebt, dass sie ein Teil von dir ist."
Ich wollte den Blick abwenden, wollte nicht, dass er die heißen Tränen sah, die mir über die Wangen liefen, doch mein Onkel legte die Hand unter mein Kinn, zwang mich den Blick aufrecht zu erhalten.
"Lass es einfach zu. Gestatte dir zu trauern um das was du verloren hast, aber denke dann an das, was du hier gewonnen hast und was dich hier noch hält. Du bist nicht allein", hauchte er und dann zog er mich einfach in seine Arme, als die Sicht vor meinen Augen immer mehr verschwamm. Mehrere Minuten lag ich so in seinen Armen, lautlos weinend und zitternd, bis ich genug Kraft in meiner Stimme hatte.
"A-Aber was habe ich gewonnen außer dir?", presste ich mit bebender Stimme heraus.
"Du wirst es herausfinden. Du wirst deinen Platz in dieser Welt finden", versicherte Glorfindel mir, langsam über den Rücken streichend. Sein schwacher Duft nach einer Sommerwiese hüllte mich ein.
"Außer dir habe ich niemanden. Mutter und Vater sind lange tot und Kathrins Freundschaft hält erst seit wenigen Monaten." Plötzlich hielt Glorfindel inne. Ich realisierte es nur am Rande der aufkommenden Müdigkeit.
"Dein Vater? Ich weiß nicht, ob er tot. Ich weiß nicht einmal wer er ist", flüsterte Glorfindel.
"Was?", erwiderte ich schläfrig. Ich wollte die Augen öffnen, doch meine Lider waren schwer wie Blei. Ich wollte weiter nachhaken nach meinem Vater, wollte wissen warum er nichts über ihn wusste. Doch der Schlaf hatte mich schon zu sehr in seinem Griff, sodass Glorfindel keine meiner Fragen mehr zu hören bekam.

Hey :)
Ich melde mich auch bei dieser Geschichte mal wieder. Eigentlich wollte ich das neue Kapitel gestern schon hochladen, aber hatte dann Abends doch nicht mehr die Zeit es zu beenden.
Es ist ein wirklich langes Kapitel xD selbst für meine Verhältnisse, aber ich konnte und wollte das Gespräch am Ende nicht einfach abbrechen.

Laura

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