𝔼𝕝𝕗

Obwohl ich mir felsenfest vorgenommen hatte, Dylan nun endgültig aus meinem Kopf zu verbannen, scheiterte ich an der Umsetzung. Immer wieder drifteten meine Gedanken ab und ich hatte wieder mal große Schwierigkeiten, mich auf die Aufgaben während meiner Arbeitszeit zu fokussieren. Außerdem stand noch die Antwort des Archives aus, welche, wie ich nun wusste, ohnehin keinen Treffer anzeigen konnte, da er aus England stammte und nicht aus South Carolina.

Meine Eltern hingegen nahmen immer noch an, meine Unkonzentriertheit würde mit dem Auszug meiner Schwester zusammenhängen. Glücklicherweise schienen sie die vermeintliche Problematik recht ernst zu nehmen, weshalb sie entschieden, mich tatsächlich vorläufig ein wenig zu entlasten. Bis auf weiteres würde ich in den Sommerferien nur noch dreimal die Woche aushelfen müssen und nicht wie bisher täglich. Schon am nächsten Tag wartete somit die unverhoffte Freiheit auf mich.

Was ich mit der neugewonnenen Freizeit anstellen sollte, wusste ich allerdings noch nicht so genau. Megan würde noch für einige Zeit in Baltimore bleiben und auch sonst schien jeder meiner Mitschüler im Urlaub zu sein. Zumindest die, die für eine Verabredung in Frage kamen. Somit nahm ich mir vor, mich mal wieder voll und ganz der Fotografie zu widmen. Vielleicht konnte ich es so schaffen, wieder in einen normalen Alltag zu finden. Ohne potenzielle Selbstmörder, Schicksalsschläge oder Briefe, die mich selbst in meinen Träumen verfolgen zu schienen. Kurzum: ohne Dylan.

Natürlich hatte ich zu Schichtbeginn direkt gecheckt, ob es in der nächsten Zeit eine Reservierung für Mrs. Foster gab. Nicht auszudenken, wenn sie meine Eltern auf die nichtexistierenden Flyer oder mein Auftauchen vor ihrem Grundstück ansprechen würde. Glücklicherweise schien die ältere Dame nicht vorzuhaben, uns zeitnah einen Besuch abzustatten. Dies wiederum ließ mich darauf hoffen, dass sie meinen merkwürdigen Auftritt –und alles was damit zusammenhing– bis zum nächsten Mal vergessen haben könnte.

Dass sie tatsächlich in Erwägung gezogen hatte, mich zu einer Verabredung mit ihrem Neffen zu überreden, ging mir immer noch nicht in den Kopf. Es war einfach verrückt.

****

Den nächsten Morgen verbrachte ich damit, entspannt mein Foto-Equipment zusammenzupacken. Ein weiterer Sommertag stand vor der Tür und ich hatte vor, den Yachthafen aufzusuchen, um dort Bilder zu schießen. Diesmal musste ich nicht mal die Zeit im Blick haben. Mein erster wirklich freier Ferientag, ohne eine anstehende Schicht oder sonstige Verpflichtungen.

Zwar grübelte ich noch immer darüber, wann und wie ich Dylan seinen Brief zukommen lassen sollte, aber ich beschloss, mich heute ausschließlich auf mich zu konzentrieren. Immerhin wusste ich nun, wo ich ihn finden konnte. Notfalls konnte ich sogar auf den offiziellen Postweg zurückgreifen.

Gut gelaunt lief ich am frühen Vormittag durch die Straßen von Beaufort. Den Rucksack mit der Ausrüstung locker über meine Schulter gehangen, während die Sonne bereits hoch am Horizont stand. Die warmen Temperaturen konnten manchmal recht herausfordernd sein, insbesondere, wenn man nicht daran dachte ausreichend Wasser zu sich zu nehmen.

Direkt als ich den Yachthafen erreicht hatte, sah ich mich nach einem geeigneten Platz für die Ausrichtung meines Statives um. Ich hielt kurz inne und lehnte eine Hand gegen die Stirn, um mich entgegen der Sonne umsehen zu können. Da bereits reges Treiben herrschte, musste ich mich ein wenig abseits platzieren. Mit dem richtigen Objektiv konnte ich allerdings auch aus der Entfernung gute Aufnahmen erzielen. Daher entfernte ich mich ein Stück von Hafen und steuerte einen schattigen Platz unter einem Baum auf der angrenzenden Grünanlage an.

Konzentriert begann ich, meine Ausrüstung aufzustellen und nach einem geeigneten Motiv Ausschau zu halten. Normalerweise brauchte ich nie lange zu suchen und genauso war es auch an diesem Tag. In einiger Entfernung beobachtete ich einen kleinen schwarzen Hund mit einem kirschroten Halsband. Offenbar benötigte er keine Leine, denn er wich seinem Besitzer nicht von der Seite. Nachdem ich ein paar Aufnahmen von dem Vierbeiner gemacht hatte, trank ich einen Schluck aus meiner Wasserflasche und fokussierte mich dann auf ein anlegendes Boot.

Auch hier betätigte ich ein paar Mal den Auslöser, bevor ich mich dazu entschied, das Objektiv zu wechseln. Dafür hockte ich mich vor meinen Rucksack, wo ich das entsprechende Equipment verstaut hatte. Eilig zog ich die gepolsterte Objektivtasche hervor, um mein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Ich entschied mich für ein Zoomobjektiv mit großer Brennweite, um den Hafen noch weitläufiger ablichten zu können. Gedankenverloren blickte ich mich nach einem neuen Motiv um, als mir in einiger Entfernung eine Person in einem Kapuzenpullover auffiel. Die Person lehnte gegen das Geländer, den Blick auf das Wasser gerichtet.

War das etwa Dylan?

Obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, war ich mir aufgrund der Silhouette fast sicher, dass er es war. Wer sonst lief bei diesen Temperaturen mit einem Kapuzenpullover durch die Gegend?

Ganz automatisch richtete ich meine Kamera auf ihn aus und begann ein paar Aufnahmen zu machen. Als er seinen Kopf ein wenig nach rechts drehte, gelang es mir sogar, sein Seitenprofil abzulichten und den letzten Zweifel auszuräumen – er war es tatsächlich.

Nachdem ich mit schweißnassen Händen ein paar Bilder geschossen hatte, nahm ich aufgeregt die Kamera vom Stativ, um die Aufnahmen genauer betrachten zu können. Er war nur seitlich zu erkennen, aber trotzdem raubte mir die Leere in seinem Blick den Atem, weshalb ich einige Minuten damit beschäftigt war, sein Foto intensiv zu betrachten.

Als ich die Kamera erneut auf die Stelle richtete, wo er noch kurz zuvor gestanden hatte, war er jedoch verschwunden. Verwundert ließ ich das Gerät in meinen Händen sinken und blickte mich suchend um. Die zahlreichen Touristen machten es mir jedoch unmöglich, ihn erneut ausfindig zu machen.

Allerdings konnte er sich wohl schlecht in Luft aufgelöst haben.

Ganz plötzlich hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Langsam blickte ich über meine Schulter und erstarrte augenblicklich, als ich realisierte, wer hinter mir gegen den Baumstamm lehnte.

»Waren die Häuserfassaden nicht mehr interessant genug?«, ergriff er als erstes das Wort, während er mit dem Kinn in Richtung meiner Kamera deutete. Obwohl sein Gesicht fast ausdruckslos schien, hatte er skeptisch eine Augenbraue nach oben gezogen.

Fuck.

»Ich ... ähm ... habe nur ein paar Bilder vom Hafen gemacht«, erwiderte ich unter leichtem Krächzen, während ich fast damit rechnete, dass er meinen heftigen Herzschlag ebenfalls hören konnte.

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