𝔸𝕔𝕙𝕥
Hatte ich schon wieder so gut wie gar nicht geschlafen?
Vielleicht.
Allerdings schaffte ich es nach dem Gespräch mit Mrs. Foster einfach nicht zur Ruhe zu kommen, weshalb ich mich lediglich unruhig in meinem Bett hin und her gewälzt hatte. Wie hoch die Wahrscheinlichkeit lag, dass es sich bei dem mysteriösen Mann auf der Brücke tatsächlich um den Neffen der netten Dame handelte, vermochte ich nicht einzuschätzen. Trotzdem wollte ich dieser Spur schnellstmöglich nachgehen, was mir leider nach der Schicht am Vorabend nicht gelungen war. Es war so viel zu tun gewesen, dass keine Zeit für meinen abendlichen Freigang blieb.
Als um kurz nach sechs endlich die Sonne aufging, stieg ich leise aus meinem Bett und schlich ins Badezimmer, um mich fertig zu machen. Anschließend verstaute ich Dylans Brief in meiner Tasche und bewegte mich dann lautlos ins Erdgeschoss, wo ich sogleich das Schuhregal neben der Haustür ansteuerte. Nachdem ich in meine Nikes geschlüpft war, griff ich nach meinem Schlüssel und hatte die Tür schon einen Spalt geöffnet, als sich jemand lautstark hinter mir räusperte.
»Dürfte ich wohl erfahren, wohin meine Tochter morgens um halb sieben möchte?«, ertönte die Stimme meiner Mom, woraufhin ich erschrocken zusammenfuhr.
Shit.
»Ich ... ähm ... wollte einen Morgenspaziergang machen«, stotterte ich unbeholfen, während ich mich in Zeitlupe zu ihr umdrehte.
»Einen Morgenspaziergang?«, wiederholte sie meine Worte mit hochgezogener Augenbraue. »Andere Teenager schlafen um diese Uhrzeit noch.«
»Andere Teenager sind genau in diesem Moment irgendwo im Sommerurlaub und müssen nicht jeden Tag im Restaurant ihrer Eltern mithelfen«, erwiderte ich schnippischer als beabsichtigt. Allerdings entsprachen meine Worte trotzdem der Wahrheit, was wohl auch meiner Mom sofort bewusst war, wie ich ihrem Gesichtsausdruck entnehmen konnte.
»Ach, Claire«, meinte sie daraufhin in einem versöhnlichen Tonfall und trat einen Schritt auf mich zu, um nach meiner Hand zu greifen. »Es tut mir leid, dass es bei uns anders läuft, aber wir sind auf die Einnahmen der Sommersaison angewiesen. Wenn du mehr Freiraum brauchst, verstehe ich das und werde mit deinem Dad besprechen, wie wir dir entgegenkommen können, in Ordnung?«
Wow, das kam unerwartet. Offenbar beunruhigte es sie ziemlich, dass ich mich am frühen Morgen aus dem Haus schleichen wollte.
»Okay, aber den Spaziergang würde ich trotzdem gerne machen«, antwortete ich angespannt und hoffte, sie würde keine weiteren Fragen stellen. Schließlich kannte ich selbst nicht mal die Antwort darauf, was ich mir von dieser Aktion versprach.
»Soll ich dich vielleicht begleiten? Wir könnten zusammen–«
»Mom«, unterbrach ich sie augenrollend. Hatte sie nicht gerade angeboten, mir mehr Freiraum zugestehen zu wollen?
»In Ordnung.« Sie hob ergeben ihre Hände und trat symbolisch einen Schritt zurück. »Ich werde dann einfach schon mal Kaffee machen und das Frühstück vorbereiten.«
»Klingt gut.« Mit diesen Worten zog ich die Tür hinter mir zu und entfernte mich schnellstmöglich von unserem Grundstück. Ich konnte förmlich spüren, wie sie mir durch die Glasscheibe in der Haustür nachsah, aber ich drehte mich nicht mehr zu ihr um.
Als ich unsere Straße entlanglief, tauchte das Licht der Morgensonne unsere Stadt in ein goldenes Licht. Das Spanische Moos hing von den Bäumen, Sprinkleranlagen bewässerten die akribisch gepflegten Vorgärten und bereiteten die Grünanlagen auf einen weiteren, perfekten Sommertag vor. Irgendwie kam mir die malerische Kulisse nun heuchlerisch vor. Schließlich hatte ich vor wenigen Tagen beobachtet, wie sich jemand in genau dieser Stadt das Leben nehmen wollte.
Zielgerichtet bewegte ich mich durch die Straßen, fokussiert auf die Wohnanschrift von Mrs. Foster. Natürlich wusste ich genau, wo sie lebte. Hier kannte jeder jeden und ausnahmsweise konnte ich diesen Umstand mal für mich nutzen. Um ihr Haus zu erreichen, musste ich lediglich die Brücke überqueren und anschließend noch zwei weitere Straßen passieren.
Kurze Zeit später stand ich tatsächlich vor dem Anwesen der älteren Dame. Irgendwie kam ich mir seltsam dabei vor und vielleicht war dies auch der Grund, weshalb ich Megan im Vorfeld nichts von meinem Vorhaben erzählt hatte.
Nun verharrte ich also vor dem –zugegebenermaßen– ziemlich imposanten Anwesen von Mrs. Foster. Nur ein kleiner weißer Gartenzaun trennte mich von dem großzügigen Vorgarten, dessen Blickfang eine hochgewachsene Eiche war. An einem der kräftigen Äste hing eine helllackierte Hängebank, deren Lack bereits an einigen Stellen splitterte. Sie hatte die besten Jahre offenbar schon lange hinter sich, was ihren Charme jedoch überhaupt nicht beeinträchtigte.
Eine breite Treppe führte auf die ebenfalls weiß umzäunte Veranda ihres zweistöckigen Hauses.
Dunkle Fensterläden stellten dabei den einzigen Farbkontrast des ansonsten vollkommen in heller Farbe gestrichenen Gebäudes dar. Ihr Anwesen reihte sich durchaus perfekt in die Reihe der im Kolonialstil gehaltenen Häuser der Stadt ein.
Automatisch wanderte mein Blick zu dem Briefkasten, welcher feinsäuberlich vor dem Gartenzaun aufgestellt war und ich zog kurz in Erwägung, Dylans Brief einfach dort hinein zu werfen. Andererseits wusste ich nicht mit vollkommener Sicherheit, dass es sich tatsächlich um den Mann von jener Nacht handelte und außerdem wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass seine Zeilen von seiner Tante gelesen werden würden. Schließlich hatte ich keinen Briefumschlag dabei.
Die Tatsache, vielleicht nur wenige Meter von dem Kerl, der seit jenem Abend meine Gedanken beherrschte, entfernt zu sein, bescherte mir einen spontanen Schweißausbruch.
Sollte ich wirklich versuchen, mit ihm in Kontakt zu treten?
Würde ich überhaupt ein Wort herausbekommen und wenn ja, was war ein guter Start für eine Unterhaltung?
Plötzlich kam ich mir total bescheuert vor, wie eine Stalkerin vor dem Haus anderer Leute herumzulungern. Natürlich wollte ich noch immer seine Geschichte erfahren, aber irgendwie schien es mir nun völlig absurd, das Gespräch mit ihm zu suchen.
Vielleicht sollte ich es doch besser gut sein lassen.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, ertönte auf einmal eine dunkle Stimme hinter mir. Wahrscheinlich irgendein Tourist, nahm ich aufgrund des unverkennbaren britischen Akzentes an und rechnete schon fest damit, nach dem Weg oder der Uhrzeit gefragt zu werden.
Als ich mich jedoch zu der Person umdrehte, wurde mein Körper augenblicklich von Adrenalin geflutet.
Blaue Augen, die ich jederzeit wiedererkannt hätte, blickten mir fragend entgegen und ich hatte daraufhin Mühe, mich irgendwie auf den Beinen zu halten.
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