31

[SCORPION]

„Wir beginnen jetzt mit dieser Zange."

Die Stimme des Jungen drang nur langsam in sein Ohr. Scorpion fühlte seine Arme nicht mehr. Nur der Schmerz in seinen Handgelenken und die pure Willenskraft hielt ihn davon ab, in die Dunkelheit zu fliehen, die sich ihm vor seinen Füßen öffnete. Er hörte das Klirren von Ketten, hatte einen Ruck gespürte und dann, wie er irgendwo hin geschliffen wurde. Irgendwann wurde ihm sein T-Shirt vom Rücken gerissen und eisiges Wasser hatte sich auf seiner Haut ergossen. Der Schmerz war unerträglich und er hatte das Gefühl bis auf die Knochen zu vereisen. Als würde ihm die Haut Stück für Stück abgerissen werden. Dass das Wasser ihm alles abwusch. Die Selbstbeherrschung über die Stimme, die Mauer um seine Vergangenheit – all das war mit einem Mal weg.

Er hatte Finger auf seinem Rücken gespürt. Für einen Moment hatte er Grace' Gesicht gesehen. Wie sie seinen Namen flüsterte und ihre sanften Berührungen ein Kribbeln hinterließen. Doch dann spürte er, wie diese Finger auf sein Brandzeichen drückten. Wie Sie die rauen Kanten entlang strichen und dann hatte er Grace gehört. Und Gemma und Viper. Was sie sagten hatte er nicht verstanden, doch er hörte Enttäuschung, Wut und Trauer.

In diesem Moment wusste er nur eines: Yuris, der kleine Junge, hatte ihm das Leben genommen, welches er sich aufgebaut hat. Er verdrehte die Wahrheit. Er wusste nichts über ihn. Oder über den Pandinus-Clan. Oder über den Stein.

„Dann wollen wir doch mal herausfinden, wo dein Fleisch fest auf den Knochen sitzt und wo es lose hängt."

„Eigentlich schade, dass du ihm vertraust." Scorpions Stimme klang weit entfernt und selbst für ihn ganz schwach. Es kam ihm vor, als hätte er nur Luft ausgehaucht. Doch Yuris hielt inne.

„Wem?"

„Dem König, wem denn sonst?" Ein gespenstisches Lächeln huschte auf Scorpions Lippen.

„Der König hat mich aufgenommen und mir einen Platz zum Leben geschenkt. Einen Platz, den du mir genommen hast." Mit der Zange schlug er auf Scorpion ein und schreiend wand sich dieser in den Ketten, die ihn an der Decke hielten. Er spürte nur den Schmerz und das Blut. Die Augen hatte er geschlossen. Sie brannten, sobald er sie öffnete und ein seltsamer Schleier verwischte dann alle Farben.

Plötzlich hörte der Schmerz auf. Scorpion fühlte am ganzen Körper ein Kribbeln. Er wusste nicht, wo, wie lange und wie oft Yuris auf ihn eingeschlagen hatte, doch es war ihm egal. Wenn der König alle täuschen und manipulieren konnte, würde er das auch können.

„Er lügt", murmelte Scorpion.

Yuris ließ die blutige Zange fallen. Mit einem lauten Klirren kam sie auf dem Boden auf und übertönte für einen kurzen Augenblick die Schluchzer von Grace.

„Wer lügt?", fragte Yuris.

„Der König."

„Warum sollte der König lügen?" Yuris klang überrascht, doch seine Stimme war ruhig und ernst.

„Weil er die Wahrheit nicht wahrhaben will." Nun öffnete Scorpion doch die Augen. Sofort spürte er das Ziehen in seinen Muskeln und Knochen. Sah das Blut an sich, auf dem Boden, in Yuris' Gesicht. Die dunkelblauen Augen des Jungen waren misstrauisch zusammengezogen und hinter ihm konnte er Viper, Gemma und Grace sehen. Wann hatte Yuris ihn umgedreht? Hatte er es gemerkt? Oder hat er ihn nicht umgedreht?

Konzentriere dich.
Solltest du abstürzen, dann fällst du.
Und die Dunkelheit wird das einzige sein, was auf dich wartet.
Klick klack.

Seine Augen brannten und sein Kopf pochte so stark, dass er für einen kurzen Moment dachte, er würde jeden Moment platzen.

„Welche Wahrheit? Über was? Über wen?"

Scorpions Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als er zu Grace blickte. Ihre Augen waren gerötet, doch sie sah ihm liebevoll in die Augen. Genau in diesem Moment wusste er es. Genau in diesem Moment wurde ihm eines klar. Grace liebte ihn – egal wer er war. Egal was er getan hatte, sie würde es verstehen. Und er wusste, dass er ihr eine Erklärung schuldig war. Dass er es jetzt sagen musste. Dass er jetzt alles sagen musste. Dass er jetzt seine Mauer fallen lassen musste – endgültig.

„Die Wahrheit über mich und den Stein", brachte er fast atemlos zustande. Sein Blick galt Grace. Die ganze Zeit über.

„Das brauche ich nicht. Du bist der Überlebende des Pandinus-Clans, der Gesandte aus der Prophezeiung und der Stein gibt dir die Macht, die uns alle in die Finsternis ziehen..."

„Der Stein verleiht mir Macht, ja. Dieser Stein ist aber auch  das einzige was mich daran hindert das Land in die Dunkelheit zu ziehen", unterbrach ihn Scorpion gereizt. Grace Augen weiteten sich kaum merklich. „Ich war ein sonderbares Kind und kam ziemlich früh zu den Brüdern aus Sihiri. Ihre ewig währende Behandlung, bestand aus den unterschiedlichsten Foltermethoden. Ihr einziges Ziel war zu beweisen, dass Oleus in mir war und ihn wieder mit mir in die Dunkelheit zu schicken, aus der er gekrochen war. Letztendlich hatten sie zumindest ein Ziel erreicht. Oleus hatte sich in meiner gebrochenen Seele eingenistet. Der Stein sollte das Werkzeug sein, dass ihn wieder aus mir herauszieht, das böse Blut, welches durch meine Adern fließt herauszuziehen. Aber sie unterschätzten seine Macht."

Wenn du weiterredest, wirst du untergehen.
Klick klack.

Scorpion wollte den Mund öffnen, doch Yuris trat ihm in den Bauch. Hustend beugte sich Scorpion nach vorne. „Vielen Dank für deine herzergreifende Geschichtsstunde. Habt ihr das gehört? Er hat zugegeben, dass er von Oleus besessen ist. Dass er die Dunkelheit über uns bringen kann."

Aus dem Augenwinkel sah Scorpion plötzlich eine Bewegung. In den Schatten bewegte sich etwas und plötzlich tauchte Bryan auf. Der blonde Anführer hatte einen Finger an die Lippen gelegt und bedeutete ihnen leise zu sein. Scorpion wandte sich an Yuris und sagte: „Es stimmt, dass ich dunkles Blut in mir habe. Und dieses Blut kann diesen Stein aktivieren, doch..."

„Dieser Stein wird nicht einmal in deine Nähe kommen", unterbrach Yuris. Hinter ihm drückte Bryan dem Wachmann die Luft ab und legte ihn dann behutsam auf den Boden. All dies erfolgte so geräuschlos, dass selbst Scorpion für einen Moment erstaunt die Augenbrauen hochzog.

„Genau."

Alle, abgesehen von Scorpion, zuckten zusammen, als Bryan plötzlich in der Zelle stand. Yuris drehte sich erschrocken um und auf den Gesichtern der vier White Skulls schlich sich Erleichterung. Der Anführer hielt in einer Hand den Schlüssel für die Ketten und mit der anderen Hand zielte er auf Yuris. Der Junge hob abwehrend seine Hände.

„Wie bist du..."

„Mach sie los. Allesamt", befahl Bryan und warf Yuris die Schlüssel zu. Verwundert ging er zu einem kleinen Kasten an der Wand und drehte den Schlüssel in eine Öffnung. Nacheinander öffneten sich die Handfesseln und die Gefangenen stürzten auf den Boden. Sofort war Viper an Gemmas Stelle und hielt sie an den Armen. Ihr Blick galt aber nur Scorpion, der noch immer an der Decke hing. Grace stellte sich hin und sah zu Scorpion. Yuris blickte wieder zu Bryan und eine Falte bildete sich zwischen Scors Augenbrauen. In den Augen des Jungen lag ein Ausdruck, den er nicht deuten konnte.

„Bryan, es gibt da etwas, was du wissen solltest." Viper sah zu dem blonden Mann, doch dieser schien ihn nicht einmal wahrzunehmen.

„Scorpion. Wie lange bist du schon in meinem Clan? Wie lange bist du zweiter Anführer? Wie lange hast du mein Vertrauen erhalten? Rechne es dir selber aus", sagte er spöttisch und senkte die Waffe. Yuris hatte sich der Tür genähert und ging langsam aus der Zelle. „Und dann erfahre ich, dass du es bist. Dass du der Überlebende des Pandinus-Clans bist. Dass du derjenige bist, der den Stein der Macht besitzt."

Scorpion schluckte. „Bryan, dieser Stein..."

„Ist hier." Yuris hielt den Beutel hoch und ging zu Bryan. Und jetzt wusste Scorpion, was das für ein Ausdruck in den blauen Augen des Jungen war: Zuneigung. Er und Bryan scheinen sich zu kennen und auch die anderen schienen den Zusammenhang trotz Verwirrung zu verstehen.

Bryan griff nach dem Beutel und sah Yuris in die Augen. „Danke, Bruder."

„Bruder?", fragte Grace.

Bryan lächelte und legte einen Arm um Yuris Schulter, während er mit der anderen den Beutel mit dem Stein anhob und ihn betrachtete, als könne er den Stein durch den Beutel hindurch sehen. „Der Blutdiamant", hauchte er und holte den glitzernden Stein aus dem Beutel. Seine braunen Augen waren weit aufgerissen und ein diabolisches und fanatisches Grinsen schlich sich in sein Gesicht. Der Stein war bereits von einem tiefen Riss durchzogen, doch das schien Bryan nicht zu stören. Seine Augen starrten wie gebannt auf den Kristall, der ein zartes, rötliches Leuchten von sich gab. "Wie lange habe ich danach gesucht. Und wie lange hast du ihn vor mir geheim gehalten. Wie lange habe ich nur auf diesen Moment gewartet." Wütend funkelte er Scorpion an, der blutig vor ihm hing.

„Ich habe auch lange auf diesen Moment gewartet", sprach Yuris und zückte einen Dolch. „Ich werde endlich die Rache bekommen, die mir zusteht." Mit einem fast schon stolzen Ausdruck blickte Yuris zu Bryan auf. Bryan ließ den Arm sinken und seine Augen blitzten auf. „Nein, Yuris", sagte er dann und verwirrt erwiderte Yuris den Blickkontakt. „Du wirst gar nichts bekommen. Und weiß du auch warum? Weil du vor drei Jahren schon alles verloren hast." Und mit einer raschen Bewegung, so schnell, dass selbst Scorpion sie nicht gesehen hatte, drehte Bryan dem Jungen das Genick um. Mit einem Knacken fiel der leblose Körper von Yuris auf den Boden.

Grace hielt sich die Hand vor den Mund und Gemma sah zwischen Bryan und Yuris hin und her. „Was..."

„Dieser einfältige Junge hat doch tatsächlich geglaubt, dass er dich töten kann. Pff, wie leichtsinnig." Bryan stieg über die Leiche hinweg und öffnete den Beutel. „Ich brauche noch etwas von dir, Scorpion. Vielleicht weißt du es ja nicht, aber damit der Stein aktiviert wird, braucht er dein Blut. Dein dunkles Blut."

Scorpions Augen verengten sich.

Der Moment naht.
Lasse dich fallen.
Es wird dir gut tun.
Klick klack.

„Einen Moment noch." Gemma stand auf und hielt sich zitternd an der Wand fest. Ihr Blick war fest auf Scorpion gerichtet. „Ist er deswegen tot?" Scor wusste direkt, wen Gemma meinte. „Ist Orion deswegen tot?"

„Nein", beantwortete Bryan die Frage. „Orion ist nicht wegen Scorpion gestorben." Der blonde Anführer grinste Gemma an. „Ich habe ihn getötet." Gemma schnappte nach Luft und blickte mit Tränen in den Augen zu Bryan. „Du weißt ja nicht, wie gut es sich angefühlt hat, als ich ihm die Klinge zwischen die Rippen gestoßen habe. Als ich sah, wie das letzte Licht aus seinen Augen gewichen ist."

„Du verdammter Bastard!", schrie Gemma und stürzte sich auf Bryan, doch Viper hielt sie am Arm fest, sodass sie zurück stolperte.

Bryan richtete die Pistole auf Gemma und Viper. Grace stand neben ihnen ganz steif. Ihre Augen waren angsterfüllt und ihre zitternden Hände krallten sich in ihren Arztkittel. Wie gerne würde Scorpion jetzt ihre Hände in seine nehmen, ihr in die Augen schauen und sagen, dass er sie liebte, doch genau in diesem Punkt zögerte er auch. Würde sie ihn überhaupt noch an sich heranlassen?

„Komm mir nicht zu nahe, du kleine Götterschlampe. Ich hatte ja gedacht, dass du dich selbst auf den Weg zu euren abscheulichen Göttern begeben würdest, wenn du merkst, dass dein ach so geliebter Zwillingsbruder tot ist – doch ich hatte mich getäuscht. Und Schuld daran warst du." Wütend funkelte er Viper an. „Eure kleine Romanze ist nicht unentdeckt vor mir geblieben und meine liebe kleine Gemma, ich habe dir gesagt was mit denen passiert, die du mit deinem Glaubensgeschwafel verpestest. Sie werden alle sterben."

„Du bist doch krank", fauchte Grace.

Bryan grinste. „Bald schon, werdet ihr andere Sorgen haben, sobald ich nur diesen Stein aktiviert habe." Er tauschte die Pistole mit dem Dolch aus, der an Yuris' Leiche lag, stieß die Klinge in Scorpions Seite und zog sie quer bis zu Scorpions Burst. Frisches Blut quoll aus der Wunde. Der Hängende brüllte vor Schmerz.

Scorpions Blickfeld verschwamm und er spürte wie das Brennen in seinen Augen und das Ziehen in seinen Muskeln stärker wurde. „Fass...ihn nicht...an...", keuchte Scorpion. Tränen verschleierten ihm die Sicht und der unscharfe Umriss von Bryan tauchte vor ihm auf. Er nahm seinen Daumen und stieß in langsam in die frische Wunde. Scorpion stöhnte schmerzerfüllt auf.  Als Bryan seinen Finger wieder herauszog hörte er ein schmatzendes Geräusch. Grinsend strich er mit seinem blutigem Daumen über den Stein.

Ein Ziehen schoss durch Scorpions Körper und seine Muskeln verkrampften sich. Er spürte das Metall der Manschetten, das sich in seine Handgelenke schnitt, spürte wie seine Finger sich verkrampften und verdrehten. „Zu spät!", schrie er und Bryan sah kurz auf. „ZU SPÄT!", schrie Scorpion noch lauter und beugte den Rücken durch. „Klick klack. Das Verderben. Klick klack. Zu spät. Klick klack."

Außer Atem keuchte er auf und ein heftiges Brennen durchzog seinen Rücken. Plötzlich, als hätte er eine weitere Ladung Eiswasser über den Rücken gegossen bekommen, öffnete er seine Augen und holte tief Luft.

Bryan stand vor ihm, den Blick auf den Stein gerichtet. Zunächst geschah nichts und der Anführer grinste. "Von wegen nur du könntest seine Macht beherrschen. Ich werde..." Mit einem Mal wurde sein Körper von einem Zittern erfüllt. Seine Finger krampften sich an den Diamant, der eine immer kräftigere, rötliche Tönung annahm. Sein Mund öffnete sich und der lautlose Schrei verwandelte sich in ein ohrenbetäubendes kreischen. Es klang beinahe animalisch. Seine Beine zitterten und dann fiel er auf die Knie. Sein Gesicht verlor an Farbe und seine freie Hand wanderte zu seiner Brust. Sein Mund öffnete und schloss sich. Ein stummer Schrei verließ seine Kehle.

"Der Stein,...er zieht das Blut...aus deinem Körper...du wirst...wirst es nicht überleben.  Tod...Blut..." murmelte Scorpion, die Augen bereits halb geschlossen. Der Stein und die Götter raubtem ihm seine letzte Energie.

Der Boden schien zu vibrieren und Steine bröckelten von der Decke. Risse zogen sich durch das Gestein und nur bei halbem Bewusstsein bekam Scorpion mit, wie sich Grace, Gemma und Viper an der Höhlenwand entlangschoben. Ob sie zum Ausgang wollten oder zu Scorpion, um ihn zu befreien, wusste er nicht.

Das Bersten von Knochen hallte durch den Höhlenraum und kurz darauf knickte Bryan zur Seite. Der Blutdiamant schien an seinen Fingern zu kleben. Mit einer Hand krallte sich Bryan in sein blondes Haar und zog daran. Seine Beine verdrehten sich eigenartig und seine Augen rollten nach hinten.

Dann schrie er.

Es war ein ohrenbetäubendes Kreischen, das puren Wahnsinn ausstrahlte. Das Blut in seinen Adern schien zu kochen, ein Dröhnen durchfuhr die Höhle und die Erde vibrierte. Bryan bog seinen Rücken durch, riss seinen Kopf in den Nacken.
Ein lautes Knacken war zu hören, Blut strömte aus seinen Augen, dann fiel er zusammen und blieb leblos liegen.

Grace, Gemma und Viper starrten ungläubig, zitternd und fertig mit den Nerven an die Wand gepresst. Der ganze Raum schien zu vibrieren. Grace schnappte nach Luft und brauchte zwei Anläufe ehe sie Worte formen konnte. "Wir müssen ihn holen und dann hier verschwinden."

Scorpion spürte, wie das Bewusstsein ihn langsam verließ. Er spürte Hände auf seinem Körper, wie sie ihn berührten, hielten, stützten. Und dann spürte er nichts mehr.

Er trieb in einem dunklen Strom aus Nichts.

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