25

[GRACE]

Die junge Frau hetzte eilig durch die verwirrenden Gänge des Schlosses.

Der König persönlich hatte nach ihr schicken lassen, denn einer seiner super schicken Finanzberater war schwerst krank. Seine Hofärzte hatten bereits alles versucht, um ihm zu helfen, aber es schien aussichtslos. Wie durch ein Wunder hörte er dann von einer wundersamen Heilerin, die es vermochte jede Krankheit zu heilen. Und dann, einige Tage zuvor, machten einige Wachen sie tatsächlich ausfindig.

Erst dachte Grace, dass die königliche Garde den White Skulls auf die Schliche gekommen war, aber das stellte sich schließlich als falsch heraus. Denn als die Gardisten des Königs ihr Anliegen vorbrachten, Grace möge sie nach Udrium begleiten, wo ein kranker Mann lag, der nicht geheilt werden konnte, zögerte sie keine Sekunde. Zwar waren die Wachen etwas misstrauisch, als sie vor dem Haus warten sollten, sodass sie in ihr Labor eilen und passende Medizin holen konnte, jedoch hatte sie sich so sehr beeilt, dass jede Unbehaglichkeit, die die Wachen zuvor gefühlt hatten, verschwunden war.

Dieses Gefühl wurde durch Hoffnung ersetzt.

Grace hatte sich von allen verabschiedet und meinte sie werde in einigen Wochen wieder zurück sein, hoffentlich bevor ihr bisher größter Auftrag stattfinden sollte. Zuerst wollten ihre Freunde sie abhalten und besonders Scorpion, der nach den jüngsten Ereignissen noch verschlossener wirkte als zuvor, protestierte lautstark, dass sie mit "zwei königlichen Vollpfosten", wie er es ausgedrückt hatte, die gefährliche Reise nach Udrium antrat.

"Hast du nicht gehört was da draußen los ist?! Irgendwer, oder irgendwas schlachtet wahllos Tiere und Menschen ab! Lass mich mitkommen! Dann kann ich dich beschützen."

Aber nachdem sie ihn beruhigt hatte (und nach einem gemeinen Kommentar von Gemma, dass Scorpion sowieso zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um andere zu beschützen und das die Wachen sie vielleicht nicht so schnell sterben lassen würden, wie er ihren Bruder hat sterben lassen - Scor hatte daraufhin mit einem schweren Seufzer den Raum verlassen), verließ sie mit ihrer vollen Tasche das Versteck.

Die Reise nach Udrium brauchte volle drei Tage, denn ohne die aufgemotzten Hoverbikes von Timbers und zwei Pferde als einzige Transportmöglichkeit, war es unmöglich die weite Entfernung in einem Tag zu schaffen. Sie beschwerte sich jedoch kein einziges Mal. Ihre Aufgabe war es einen armen Mann zu heilen, der an einer mysteriösen Krankheit zu leiden schien.

Und jetzt war sie hier, auf dem Weg, oder mehr auf der Suche nach ihrem Zimmer. Zwei Wochen hatte sie bereits im Palast verbracht und doch konnte sie sich immer noch nicht zurechtfinden. Es war als wäre der Palast des Königs mit Absicht wie ein Labyrinth gebaut.

Wahllos drückte sie die nächste Tür auf und blieb abrupt stehen, als sie in kristallblaue Augen starrte, umrahmt von braun-gewellten Haaren. Seine Hände steckten in seinen üblichen, schwarzen Lederhandschuhen und seine schwarzen Stiefel waren noch leicht nass. Er stand auf einer Leiter, die an ein staubiges Regal angelehnt war und die flache, leuchtende Scheibe schwebte neben ihm. Seine Finger verharrten an der Schriftrolle, welche er soeben raus ziehen wollte.

"Grace?"

Besagte Frau wandte ihren Blick von dem Mann ab und starrte in grüne Augen. Kurz musste sie blinzeln, dann verschwand das Bild von Orion und Gemma war zu sehen. Neben ihr schwebte ebenfalls die Scheibe und durch das Licht konnte sie hinter der Frau einen weiteren Schatten ausmachen. Grace brauchte nicht lange zu überlegen, wer das sein könnte - Viper.

"Was macht ihr hier?", zischte sie und schloss schnell die Tür.

"Der Auftrag wurde vorgezogen. Hat Bryan dir nicht Bescheid gegeben?", fragte Gemma.

Grace schüttelte den Kopf. "Das wäre sehr riskant gewesen. Die Wachen beobachten mich rund um die Uhr. Es ist unglaublich schwer sie nicht anzuschreien. Diese skeptischen Blicke habe ich langsam satt." Ihre schmalen Brauen hatten sich zusammengezogen.

"Okay, wenn du schon mal da bist, kannst du uns auch helfen das Archiv zu durchsuchen. Wir müssen diese Schriftrolle für Bryan finden. Und zwar möglichst schnell. Es wird langsam Zeit , dass wir hier raus kommen."

Zustimmend nickte Gemma. "Viper hat Recht. Wir sollten uns nicht zu lange hier aufhalten. Der Palast ist kein sicheres Pflaster für uns. Je schneller wir hier wieder raus sind, desto besser."

Grace nickte. "Nun gut. Im Moment habe ich eh nichts anderes vor gehabt."

Die vier Mitglieder des Clans verteilten sich im Raum und jeder suchte die Regale, Kisten und Tische ab. Es dauerte noch eine ganze Weile ehe Viper einen kurzen Pfiff ausstieß, der sie alle zusammen rief.

"Ich glaube ich hab hier etwas." Viper präsentierte die Schriftrolle, die er in den Händen hielt. Auf ihr war in krakeligen Buchstaben etwas niedergekritzelt. Eilig näherten sich die anderen und blickten allesamt auf die Schriftrolle.

"Was steht da?", fragte Gemma und beugte sich zu Viper rüber.

"Ich kann nicht alles lesen", begann Viper, "hier steht aber etwas über...einen Pandinus-Clan."

„Pandinus-Clan?", fragte Scorpion. Seine Stimme klang brüchig und kurz darauf hustete er in seinen Ellenbogen. „Der Staub", murmelte er, als Grace ihn besorgt musterte.

„Ich glaube, er ist eine Art Legende", fuhr Viper fort.

„Bei Legenden seid ihr bei mir an der falschen Adresse. Da bin ich raus", sagte Gemma und hob abwehrend die Hände. Viper schenkte ihr ein kurzes Lächeln, welches so viele Gefühle beinhaltete, dass es Grace die Luft raubte. Sie wusste, dass die beiden sich immer sehr nah gestanden haben, doch diese plötzliche Vertrautheit und Liebe der beiden überrumpelte sie dennoch. Sie musste mit Gemma unbedingt sprechen, sobald sie wieder zurück waren.

„Warum existiert der Clan nicht mehr?", fragte Grace.

Vipers Augen zuckten über das vergilbte Papier. „Hier steht, dass sie zu gefährlich wurden."

„Zu gefährlich?"

„Der Clan hat alle Verbrecher und Gefahren ausgelöscht. In einer einzigen Nacht sollen sie alle Verurteilten des Landes gefunden und ein Blutbad hinterlassen haben. Wo auch immer sie hinkamen – niemand überlebte. Manche nannten sie ‚Die Geister des Königs', da sie wohl helle Gewänder trugen und sich wie Gespenster völlig lautlos durch die Straßen Elbjens bewegt haben. Sie haben jeden getötet, der vom König zum Tode verurteilt wurde."

„Dieser Clan hat für den König gearbeitet?", hakte Gemma nach.

Viper nickte. „Hier steht, dass der König den Clan persönlich zusammengestellt hatte. Doch er ließ sie töten."

„Das macht keinen Sinn", warf Grace ein und stemmte die Hände in die Hüften. „Warum sollte der König einen Clan zusammenstellen, eine Streitmacht, die alle Verbrecher in nur wenigen Stunden auslöscht, nur um sie zu töten? Nur weil sie gefährlich waren? Der König hatte offenbar Vertrauen in sie gesetzt. Eine Gefahr bedeutet für den König nur Gefahr, wenn er selbst davon betroffen ist."

„Warum also wurden sie ihm zu gefährlich?", fragte Gemma.

Vipers Augen zuckten über die Buchstaben und sein Finger fuhr stückchenweise am Rand der Buchstaben nach unten. „Hier steht...ach man, ich kann es kaum entziffern...Wa-Waff...Waffeln."

„Waffeln?" Grace' Augenbrauen zogen sich verwirrt zusammen. „Was ist an Waffeln denn böse?"

„Ohhh, ich meinte Waffe." Viper grinste. „Nicht Waffeln. Waffeln sind lecker, nicht böse. Es sei denn, jemand vergiftet sie, dann..."

„Viper, komm zum Punkt", unterbrach ihn Scorpion. Der zweite Anführer hatte den anderen den Rücken zugewandt und starrte in die Finsternis des Archivs.

„Ja, natürlich. 'Tschuldige." Viper räusperte sich. „Also, der Clan hatte eine Waffe und...die verschwand."

„Die verschwand?"

Viper nickte. „Als die Leichen der weißen Rächer durchsucht wurden, fanden sie den Stein nicht."

„Der Stein", quietschte Grace und hielt sich schnell die Hand vor den Mund. „Davon hatte Bryan gesprochen. Ein Stein, der einem zu mehr Macht verhilft."

„Und diesen Stein hatte der Pandinus-Clan?", fragte Gemma.

„Ja. Zumindest steht das hier. ‚Der einzigartige Stein verschwand zusammen mit dem einzigen Mitglied, welches den Stein nutzen konnte. Der Stein. Dieser eine Stein.'"

„Ein Mitglied konnte den Stein nutzen? Und dieses Mitglied ist verschwunden? Also hat einer überlebt." Grace war verwirrt. Bis eben konnte sie allem folgen, doch jetzt war es, als würde man eine Filmrolle zerreißen und ein Stück wegnehmen, ehe man die Rolle wieder zusammenklebte. Ein Stück fehlte.

„Hier ist ein Verweis an der Seite", bemerkte Viper und wies auf einen kleinen Kreis hin, der kantig und verwackelt an den Rand gezeichnet wurde. „Blutdiamant, steht hier."

Scorpion hustete ein weiteres Mal, was Grace zusammenzucken ließ. „Ich untersuche dich nach einer Stauballergie, Scor. Huste gefälligst leiser. Die Wände lassen alles zurückschallen und ich weiß nicht, wie schalldicht der Palast gebaut wurde." Scorpion nickte langsam und griff sich an die Brust. Seine Hand verkrampfte sich. „Lasst uns diese Pergamentrolle mitnehmen und dann verschwinden. Wir sind schon viel zu lange hier."

„Das geht nicht. Wir sollen Informationen über den Stein finden. So lautet der Auftrag", erinnerte Viper und rollte das Pergamentblatt zusammen. „Wir haben bisher nur herausgefunden, wo der Stein einmal war. Nicht, wo er jetzt ist."

„Moment mal." Gemmas Hand zuckte zu Viper und packte ihn am Arm, als dieser sich zu dem Bücherregal umdrehen wollte, woraus er die Pergamentrolle hatte. „Als ich vor einigen Wochen Spätdienst in der Herberge hatte, war doch dieser eine Gardist des Königs da – Nadir Woldark."

Vipers Miene änderte sich schlagartig. „Dieser Mistkerl", brummte er. „Wenn ich den in die Finger kriege..."

„Was ist mit dem?", fragte Grace und musste sich das Schmunzeln verkneifen. Sie hatte Viper in all den Jahren nie eifersüchtig gesehen und der Ausdruck von zusammengekniffenen Augen und der hochgezogenen Augenbraue war zu niedlich.

„Woldark hat mir damals erzählt, dass er und seine Leute nach einem Bluttöter suchen, der ganze Blutberge hinterlässt. Wenn ich mir jetzt die Beschreibung des Mörders und die der Mitglieder des Pandinus-Clans ansehe, dann sehe ich da nicht sehr viele Unterschiede."

„Du meinst, dass..."

„...der Bluttöter ist der Überlebende des Pandinus-Clans. Und er hat diesen Stein."

„Es gibt bestimmt noch mehr von diesen Steinen," meinte Viper, doch Gemma schüttelte bestimmt den Kopf. „Da stand, dass der Stein einzigartig ist."

„Und? Es ist eben ein besonderer Stein, der dem Träger Macht verleiht." Viper zuckte mit den Schultern und auch Grace verstand nicht, worauf ihre Freundin hinauswollte.

Gemma seufzte. „Versteht ihr nicht? Einzigartig ist ein anderes Wort für Einmalig. ‚Der Stein. Dieser eine Stein'", zitierte sie die Worte von eben. „Es gibt nur diesen einen und der ist, zusammen mit dem Mitglied verschwunden. Naja, eher gesagt, der Bluttöter nutzt diesen Stein, um Massenmorde zu begehen."

Jetzt hielt auch Viper inne und runzelte die Stirn. „Aber wenn es nur einen Stein gibt und der bei dem Mörder ist, der frei in unserem Land herumläuft, warum schickt uns Bryan dann hierher, damit wir herausfinden wo die anderen Steine sind, wenn es doch nur einen davon gibt?"

Grace zuckte zusammen. „Das ist eine Falle."

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