20
[VIPER]
Die Sonnenstrahlen lugten hinter den Wolken hervor und kündigten das baldige Untergehen der Sonne an. Seit Mittag hatte es aufgehört zu schneien und die Mitglieder der White Skulls haben sich durch den Wald nach Hoplor durchschlagen können. Viper hatte den ganzen Weg über Gemmas Hand gehalten, sie gestützt und aufgemuntert weiterzulaufen. Seit zwei Tagen schwieg sie und geschlafen hatte sie auch nicht. Ein paar Mal war sie beim Lagerfeuer eingenickt, schreckte aber kurz darauf wieder auf. Und weil Viper auf Gemma aufpassen wollte, hatte er ebenfalls nicht geschlafen. Er vermutete, dass sie alle mitgenommen aussehen mussten.
Mit steifen Gliedern stiegen sie den Berg zum Haus hoch, waren froh im Dorf niemandem begegnet zu sein, und öffneten schließlich die Tür. Die Kohle im Kamin glühte und die Asche war noch heiß. Bryan nutzte das Haus noch, die White Skulls waren sozusagen seine Kellerbewohner, doch von oben drang kein Geräusch nach unten und da die Holzscheite neben dem Kamin ausgegangen waren, ahnte Viper, dass ihr Anführer bereits unten sein musste. Grace öffnete den Geheimgang, sie alle gingen hindurch und stiegen die Treppe hinab.
Viper sah sich in der Höhle um. Es war totenstill und das bereitete ihm etwas Sorgen. Sie waren mehrere Tage unterwegs gewesen. Der Auftrag war schiefgegangen und sie hatten keine Möglichkeit gehabt Bryan zu kontaktieren. Er musste sich Sorgen machen. Doch der blonde Mann war nirgends zu sehen.
"Bring Gemma ins Bett, sie muss sich wärmen und ausruhen. Ich komme nachher nochmal vorbei", sagte Grace und lächelte Viper müde zu. "Ich gönne mir erst einmal eine heiße Dusche."
Viper nickte und ging langsam mit Gemma zu ihrem Zimmer. Das Licht im Flur flackerte und seine Stiefel hinterließen nasse Abdrücke auf dem dunkelgrünen Teppich, der ausgelegt war, um wenigstens ein bisschen heimische Atmosphäre in die Höhlen zu bringen.
"So, jetzt leg dich erstmal hin." Viper führte Gemma zum Bett, die sich stumm darauf niederließ. Ihre Finger zitterten und waren an den Spitzen, wo die Handschuhe sie nicht mehr bedeckten, rot vor Kälte. "Ich bringe dir einen heißen Tee. Zieh dir den nassen Mantel aus." Gemma blickte ihn nicht an und Viper wusste auch nicht, ob sie ihn gehört hatte, doch er wollte schnell heiße Getränke holen.
Mit flinken Schritten ging Viper durch den Flur zurück, hinunter in die Küche. Die eingebauten Heizungsrohre, die Bryan verlegt hatte, wärmten den Boden und heizten gleichzeitig die Zimmer auf. Viper kochte Wasser, füllte Teeblätter in eine Kanne und goss dann das heiße Wasser auf. Seine Gedanken hingen bei Gemma. Er sah sie vor sich. Sah, wie ihre Fäuste immer und immer wieder auf die gefrorene Seefläche einschlugen. Wie ihr Blut sich mit den Splittern mischte. Wie ihr Schrei in seinen Ohren widerhallte. Er sah sie vor sich - und gleichzeitig Orion. Das leblose Gesicht im Wasser, wie seine Haare aufgewirbelt wurden. Wie paradox das Lächeln auf seinen Lippen gewirkt hatte.
Er verbrannte sich die Finger, als er die Kanne zu lange in der Hand hielt. Fluchend machte er sich mit zwei Tassen auf den Weg zurück. Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Er drehte sich um. Es war Bryan, der in T-Shirt auf ihn zukam.
Wie albern, dachte Viper. Wir streifen tagelang durch die Wälder, mitten im Winter, spüren kaum die Wärme und Bryan läuft rum, als wäre es Sommer.
"Viper. Schön dich zu sehen. Ich habe mir schon Sorgen gemacht", begann Bryan und klopfte dem Mann auf die Schulter. "Ich habe Grace kurz getroffen. Sie hat mir flüchtig erzählt, dass eure Bikes kaputt waren und ihr laufen musstet."
Viper nickte knapp. „Es ist weit aus mehr passiert, als nur kaputte Bikes." Er legte seine Hand an die Klinke von Gemmas Tür.
„Dann berichte es mir."
Viper hatte die Tür geöffnet, aber nur einen Spalt. Gemma saß noch immer in ihren nassen Klamotten auf dem Bett. Selbst die Stiefel trug sie noch als hätte sie sich keinen Zentimeter bewegt, seit Viper das Zimmer verlassen hatte – und das hat sie vermutlich auch nicht.
„Vielleicht solltest du später wiederkommen. Oder frag Scorpion", entgegnete Viper müde.
„Scorpion ist gerade duschen. Und da ich in einer halben Stunde weg muss, habe ich nicht die nötige Zeit, um bis dahin zu warten."
Viper seufzte. Er war zu müde, um gegen Bryans Ungeduld zu diskutieren. „Orion ist tot", sagte er knapp. Bryan schwieg. Einen Moment lang glaubte Viper, er habe es nur in Gedanken gesagt und nicht laut ausgesprochen, doch dann griff der Mann nach Vipers Arm. „Tut mir leid. Ist Gemma..."
„Sie hat die ganze Rückreise nicht geschlafen oder gegessen. Sie ist vollkommen abwesend. Ich weiß nicht, was sie mitbekommt und was nicht." Viper sah wehleidig zu Gemma. Ihr Kopf war gesenkt und mit leerem Blick starrte sie auf ihre Finger. „Ich sollte jetzt wirklich..."
„Ich komme kurz mit rein. Wenn ich darf?" Bryan starrte ebenfalls durch den Spalt und in seinen Augen lag ein eigenartiger Ausdruck. War das womöglich Trauer? Viper konnte es nicht sagen. Stattdessen nickte er nur und öffnete die Tür ganz.
„Schau mal, Gem. Ich habe Tee mitgebracht. Der wird dich wärmen." Viper stellte die Kanne und beide Tassen auf den Nachttisch und kniete sich dann vor sie, um ihre Stiefel zu öffnen.
„Orion." Es war nur ein Hauchen. Es hätte auch nichts sein können, doch Viper war ihr so nah, dass er es gehört hatte. Er schluckte und blickte in das Grün, welches mit dem ihres Zwillings übereinstimmte.
„Gem..."
"Wo ist Orion?", unterbrach sie ihn. Sie blinzelte ein paar Mal und einzelne Tränen glitzerten in ihren Augenwinkeln.
„Es tut mir leid, Gemma." Das war Bryan. Er stand hinter Viper und blickte mit hinter dem Rücken verschränkten Armen zu der Frau.
Panik und Angst mischten sich in Gemmas Blick. „Was..." Ihre Stimme war heiser, brüchig und ihre Augen huschten hinter Viper umher. Sie sucht ihn, wurde Viper schlagartig klar und sein Magen drehte sich um. Für einen Moment schloss er seine Augen.
"Wo ist Orion?", fragte sie erneut. Dieses Mal war ihre Stimme lauter und ihr Blick lag wieder auf Viper. Wut und Angst mischte sich und verdunkelte ihre Augen.
"Gemma..."
"Wo ist mein Bruder?!", schrie sie, stieß Viper nach hinten und sprang auf. Einzelne Tränen traten aus ihren Augen und mit einer schnellen Handbewegung wischte sie sie weg. Viper rappelte sich auf und sah kurz zu Bryan, der an der Tür stand. Keine Regung durchfuhr den Anführer, doch Viper konnte anhand seiner Körperhaltung erkennen, dass er Gemma aufhalten würde, sollte sie versuchen aus dem Zimmer zu rennen.
„Gem, bitte..." Viper legte seine Hand auf ihre Schulter, doch sie schlug seinen Arm weg. "Fass mich nicht an," zischte sie und ging an ihm vorbei.
Wie Viper es geahnt hatte, schnellte sein Arm zur Seite und hinderte Gemma somit daran aus dem Zimmer zu gehen. „Gemma, bitte beruhige dich", sagte er und schob sie zurück in das Zimmer.
"Nein. Ich habe genug. Wo ist mein Bruder? Wo ist Orion?"
Viper zuckte zusammen. War es möglich, dass Gemmas Trauer Orions Tod verdrängt hatte? Allein bei dem Gedanken daran, sie weinen zu sehen und ihr zu sagen, dass ihr Bruder tot war, brach ihm das Herz. Er spürte das schmerzhafte Ziehen in seiner Brust und doch wusste er, dass er es tun musste. Dass es nicht Bryan sein sollte, der es ihr sagte. Deshalb griff er nach ihrer Hand und zog sie zu sich. Ihre Augen sprühten Funken und die Tränen auf ihren Wangen schien sie nicht wahrzunehmen.
„Hör mir zu", sagte er eindringlich und packte sie an den Schultern. Ihre Augen lagen auf ihm. Er sah die Wut und Trauer in ihren Augen. Sah, dass sie sich am liebsten von ihm losgerissen hätte, doch er ließ es nicht zu. „Erinnerst du dich an die letzten Tage?"
Ihr Mund verzerrte sich, sie versuchte loszukommen, doch er zog sie noch näher zu sich. Ihm war egal, dass Bryan noch immer im Zimmer stand. „Gemma. Woran erinnerst du dich?", fragte er. Dieses Mal ernster und drängender.
„Wir hatten...einen Auftrag", murmelte sie. „Wir sollten....eine kleine Statue klauen. Der...Der Ratsherr war nicht zuhause, doch dann...es kamen welche und..." Ihre Augen vergrößerten sich. „Der Plan ging schief." Sie wehrte sich weniger, doch Viper ließ nicht locker. „Wir flüchteten, doch die Verfolger kamen näher. Ich...ich habe mich gewundert wo Orion war." Tränen schossen in ihre Augen. „Er war weg und dann..." Ihre Atmung beschleunigte sich und Panik schoss durch sie. Ihre Finger fingen an zu zittern. „Ich habe ihn gesehen."
Gemma sah Viper nicht an. Ihr Blick lag auf seiner Brust. Sie hob langsam ihre aufgeplatzten Hände und blickte auf die gebrochenen Knochen. Die Verbände waren schmutzig und blutverschmiert. „Orion." Gemma schloss die Augen und fiel dann gegen Viper. Ihr Körper zuckte und als sie zu schluchzen begann, brach Vipers Herz. Es fühlte sich an, als würde Gemmas Trauer einen Damm in ihm brechen. Er ging auf die Knie und schloss die Frau fest in seine Arme.
„Es tut mir so leid, Gem", flüsterte er und drückte ihr einen Kuss in die Haare. „Es tut mir so leid."
Bryan stand an der Tür, blickte auf die beiden hinab. „Der Plan ging schief?"
Viper strich Gemma beruhigend über den Rücken. Sie zitterte und klammerte sich an ihn. „Ja", antwortete er dann. „Wir waren drinnen. Orion hatte die Tür für unseren Fluchtweg geöffnet, es ging kein Alarm los. Alles lief super. Gemma hatte vom Berg aus das Haus im Blick. Doch dann kamen plötzlich welche. Scorpion und ich hatten zum Glück schon die Statue in den Händen, also sind wir nur noch nach draußen." Viper hörte noch immer die Schüsse in seinen Ohren, doch das stetige Streicheln von Gemmas Rücken beruhigte ihn irgendwie.
„Als wir rauskamen war Orion nirgends zu sehen, doch Grace hatte ihn schon bei ihrer Ankunft nicht mehr getroffen. Wir nahmen an, dass er sich vor den Angreifern versteckt hatte oder schon zurück nach Hoplor gegangen ist. Wir hatten außerdem Verfolger hinter uns, sonst hätten wir nach Spuren gesucht, doch wir sind einfach nur weggefahren. Nach einigen Kilometern gaben unsere Bikes den Geist auf. Wir mussten zu Fuß weiter."
Bryans Augenbrauen zogen sich zusammen und eine verwirrte Falte entstand. „Wieso habt ihr mich nicht kontaktiert?"
Jetzt war es Viper, der verwirrt zu dem Anführer aufschaute. „Wie hätten wir dich kontaktieren sollen? Die Funkgeräte waren nur unter uns miteinander verbunden und wir hatten keine andere Möglichkeit, um dich zu erreichen."
„Doch, die hattet ihr."
Viper horchte auf und auch Gemma hörte auf zu Schluchzen. Sie regte sich in seinen Armen und drehte den Kopf zu Viper.
„Was sagst du da?" Mit wackeligen Beinen stand Gemma auf. Viper stellte sich neben sie.
„Ihr hättet mir bescheid geben können", wiederholte sich Bryan. „Jeder von euch hatte ein GPS-Signal an seinem Funkgerät. Timbers, ich oder ein anderes Mitglied hätte euch finden können, sobald wir das Signal ausfindig gemacht hätten. Ich hatte Scorpion davon erzählt bevor ihr losgegangen seid. Er fand, dass es ein guter Punkt für den Plan war, den er erstellt hatte."
Gemma ballte ihre Hände zu Fäusten. Viper wusste genau welcher Moment ihr in Erinnerung kam. „Solltet ihr in Gefahr sein, dann zerstört eure Funkgeräte. Unsere Feinde könnten sonst das Signal bis nach Hoplor zurückverfolgen und durch die Zerstörung wird ein Notruf in die Zentrale geschickt."
„Ich bringe ihn um." Gemma schnaufte auf und verließ den Raum. Dieses Mal hielt sie Bryan nicht auf.
„Gemma..." Viper sprintete hinter ihr her. Gemma, eben noch abwesend und gerbrochen, rannte die Treppe hinunter und betrat die Höhle. Sie lief auf den Tisch zu, an dem Scorpion mit feuchten Haaren stand und auf die Karte blickte. Dort, wo der Plan aufgezeichnet war. Scorpions Plan.
„Du verfluchter Bastard, du!" Gemma hob ihre Faust und als Scorpion aufsah, konnte er nicht mehr ausweichen. Mit voller Wucht schlug Gemma dem zweiten Anführer ins Gesicht. Die Wucht ließ ihn nach hinten taumeln und mit geschlossenen Augen hielt er sich die Nase. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hindurch. „Du bist schuld." Ihre Worte prallten wie eiserne Fäuste auf ihn nieder und verwirrt wich Scor einem weiteren Schlag aus.
„Gemma, was ist..."
Viper packte Gemma von hinten, nahm ihre Arme in die Mangel und drückte ihren Rücken an seine Brust. Wutgeladen zappelte sie noch eine Weile, bis ihr erneut Tränen über die Wangen flossen.
„Wie konntest du das nur tun? Du hast ihm die einzige Chance genommen, wie wir ihn hätten finden können!", schrie Gemma.
Nun kam auch Grace in die Höhle und blickte fragend zwischen Viper, Gemma und Scorpion hin und her. „Was ist denn hier los?" Als sie Scors blutige Nase sah, schnappte sie erschrocken nach Luft. „Scor, du blutest, was ist..."
„Nein, Grace", zischte Gemma. „Rühr ihn nicht an. Das bisschen Blut ist erst der Anfang für das was er getan hat."
Grace hielt mitten in ihrer Bewegung inne. „Was Scor getan hat? Ich verstehe nicht..."
„Er hat ihn getötet", schnaubte Gemma und ein Schluchzer durchfuhr ihren Körper. Sie wehrte sich nicht mehr, doch Viper hielt sie noch immer fest. „Er ist schuld an Orions Tod."
Grace zuckte zusammen. „Wie kommst du darauf? Gemma, du musst..."
„Ich muss gar nichts." Ihr Blick schien Funken zu sprühen, als sie Scorpion voller Hass ansah. „Er hat gewusst, dass unsere Funkgeräte ein GPS-Signal hatten. Doch das Signal war nur so lange aktiv, wie das Funkgerät auch funktionierte. Durch das Zerstören wurde kein Notruf in die Zentrale geschickt. Das war eine Lüge." Die Worte sprudelten nur so aus Gemma raus. „Scorpion hat meinen Bruder dem Tod ausgesetzt."
Plötzlich riss sie sich von Viper los und sprang auf den zweiten Anführer los. „Ich wünschte ich könnte dir ein Messer in die Brust rammen." Sie packte ihn am Kragen, doch Scorpion wehrte sich nicht. Seine grauen Augen waren verwirrt aufgerissen, panisch und verwirrt blickte er hinter Gemma auf den Boden. „Ich würde zufrieden zusehen, wie das Blut an meinen Händen klebt und dann...", sie näherte sich seinem Gesicht, „...dann würde ich mit einem Lächeln dabei zusehen, wie du verblutest."
Grace war mit nur wenigen Schritten bei Gemma und ehe Viper etwas tun konnte, hatte sie Gemma eine Spritze in den Hals gejagt und die Frau klappte zusammen. „Bring sie in ihr Zimmer", wies Grace Viper an, der sich neben Gemma gekniet hatte. „Sie muss sich beruhigen. Morgen dürfte sie aufwachen." Viper nickte dankbar und sah hinter Grace, wie Scorpion zum Ausgang der Höhle ging und die Treppe hoch rannte. Dann war er verschwunden.
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