19

[SCORPION]

Das Adrenalin pumpte durch seine Adern und trotz der klirrenden Kälte war ihm als stünde er in Flammen. Auch wenn er es niemals vor den anderen zugeben würde, die Angst in ihm loderte wie ein Feuer, welches seine züngelnden Finger nach ihm auszustrecken, in zu greifen schien, doch als Anführer war es seine Aufgabe sie alle sicher nach Hause zu bringen und dafür musste er jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Scorpion war durchaus bewusst, welches Risiko sie eingingen, in dem sie über den See rannten. Sie waren auf freiem Feld und somit eine ausgezeichnete Zielscheibe für ihre Verfolger. Aber eine andere Möglichkeit blieb ihnen nicht und sie waren sicher, solange sie eine gewisse Entfernung zwischen sich und die Angreifer bringen konnten.

Nachdem er ihren Fluchtweg neu durchdacht hatte, rannte er Grace in einem Zick Zack Muster hinter her, so war es unwahrscheinlicher von einer der fliegenden Kugeln getroffen zu werden. Erst als er einen Blick nach hinten warf blieb er schlitternd stehen. Viper zog Gemma hinter sich her, welche mit tropfenden Händen eine rote Blutspur hinter sich her zu ziehen schien. Sie schrie.

Der dunkelhaarige Mann runzelte die Stirn und kniff die Augen ein wenig zusammen, um besser erkennen zu können was dort vor sich ging. Der Wind verwehte ihre Worte, doch bei genauem hinhören konnte Scorpion ausmachen, was Gemma von sich gab.

"ORION!", schrie sie. Immer und immer wieder.

Kugeln schlugen neben ihnen ein. Hinter ihnen. Versuchten sie zu treffen oder zu trennen. Scorpion zuckte zusammen, als Grace auf einmal neben ihm stand und eine Hand auf seine Schulter legte. "Was ist los, Scor?" Mit zusammengekniffenen Augen, um den Schnee nicht direkt ab zubekommen, musterte sie den Mann besorgt.

Doch Scorpion schwieg. Er war vollkommen auf Viper und Gemma fokussiert, die sich durch den Schneesturm auf sie zukämpften. Es wurde nicht mehr so häufig geschossen und Scor schlussfolgerte daraus, dass ihre Verfolger sich entweder zurückzogen oder ihre Position veränderten. Seine Gedanken rasten umher und sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

"Wir können hier nicht bleiben. Egal was es ist, wir müssen weiter!" Eindringlich drückte sie seinen Arm. "Sag Gemma und Viper sie sollen sich beeilen."

Hinter Viper und Gemma sah er eine Bewegung. Es war nur eine kurze, unscheinbare Regung im Schnee hinter den beiden, doch das reichte Scor aus. Seine Finger kribbelten und tief holte er Luft. "Grace, ich möchte, dass du weiter rennst. Ganz egal was passiert, du darfst dich nicht umdrehen und du darfst auf keinen Fall stehen bleiben." Er nahm ihre Hand und drückte sie einmal. Selbst durch seinen Lederhandschuh spürte er ihre eiskalten Finger. "Falls wir dich nicht einholen, treffen wir uns spätestens am anderen Ufer."

"Du machst mir Angst. Was ist los?" Ihre Stimme zitterte nicht, doch ihre Augen waren sorgenvoll aufgerissen. Eine Kugel schlug neben ihnen ein.

Scorpion ließ Grace' Hand los und entfernte sich einen Schritt. "Keine Zeit für Fragen. Tu' was ich dir gesagt habe!"

Verärgert sah Grace den Grauäugigen an. "Du bist nicht mein Vater", blaffte sie.

"Aber dein Anführer", zischte er. Er schaute zurück zu Gemma und Viper, die nur langsam voranzukommen schienen. Viper schien das meiste Gewicht von Gemma zu stützen. Was war da nur los?

Grace schnaubte, doch dann schlug eine weitere Kugel neben ihnen ein. Grace hatte ihre Hände schützend vor ihr Gesicht gezogen und blinzelte hinter ihren Fingern hindurch. "Geh!", wies Scorpion sie an, aber mit so viel Nachdruck, dass Grace sich umdrehte und rannte.

Ohne darüber nachzudenken rannte Scorpion in die entgegengesetzte Richtung zum neben ihm liegendem Ufer. Er musste Viper und Gemma Zeit verschaffen, sie beschützen, koste es was es wolle. Während er rannte, versuchte er mit Viper Blickkontakt aufzunehmen, doch dieser schien ihn nicht einmal zu bemerken.

Lass sie zurück! Bring dich selber in Sicherheit! Klick klack.

Die Stimme kam im unpassendsten Moment. Der plötzlich aufkommende Schmerz, der so viel stärker schien als davor lies ihn taumeln und den Halt verlieren. Er sackte zu Boden und hielt sich den Kopf mit der einen Hand, während sich die Fingernägel seiner anderen in das Eis unter ihm gruben. Und genau in diesem Moment sah er ihn. Den Scharfschützen der sich keine 20 Meter von ihm entfernt am Ufer befand. Es schien als würde er ihn nicht einmal bemerken, als er sein Ziel anvisierte.

Viper und Gemma.

Sie waren ein leichtes Ziel, einfach zu treffen, denn sie waren langsam unterwegs und in einer Parallelen zum Ufer. Und wenn Scorpion nichts unternahm, dann würde er hier und heute seinen besten Freund verlieren und das würde er auf keinen Fall zu lassen.

Scorpion biss die Zähne zusammen und griff in seine Manteltasche aus der er einen Dolch zog. Er raffte sich auf und rannte direkt auf den Feind zu und als dieser ihn endlich bemerkte, war es bereits zu spät. Dem Schützen war es gelungen seine Waffe herumzuwirbeln, ob er es schaffte abzudrücken, dass wusste Scorpion nicht. Was er wusste war, dass sein Dolch sich tief in die Stirn seines Gegenübers gegraben hatte. Es war ein perfekter Wurf gewesen.

Schweratmend stand er da, das Adrenalin pumpte durch seine Adern. Langsam ging er auf sein letztes Opfer zu und rümpfte angewidert seine Nase, als er das schmatzende Geräusch hörte, während er seinen Dolch aus dem Kopf zog. Er rammte die Klinge in den Schnee, ignorierte das Knirschen der Eisfläche, die sich unter seinen Füßen befand, bevor er die Waffe wieder zurück an seinen Platz steckte.

"Scorpion!" Der Angesprochene drehte sich um. Viper war auf der selben Höhe angekommen gut 50 Meter von ihm entfernt und schrie ihm entgegen. "Scorpion, mach keinen Scheiß. Hilf mir!" Einige Sekunden starrte Scorpion Viper einfach nur an. Mit einem Ruck löste er sich und sprintete auf Viper zu der Gemmas ganzes Gewicht zu stützen schien. Kaum war er angekommen, nahm er einen Arm, legte ihn sich um die Schulter und so kamen sie Schritt für Schritt voran.

Der Schneesturm war stärker geworden, sodass man noch gerade so seine eigene Hand vor Augen erkennen konnte. Dies war ein klarer Vorteil, denn ihre Verfolger konnten genauso wenig sehen wie sie. Sie hatten offensichtlich aufgeben müssen.

"Viper, was...?", fragte Scorpion und blickte auffällig auf Gemma hinunter die sich abwesend von den beiden Männern über den See schleifen ließ. Ihre Augen waren gerötet und der Blick starr auf den Schnee vor ihnen gerichtet. Sie atmete hektisch und doch gab es Momente, wo er dachte, sie würden nur noch ihre Leiche tragen.

"Scor...Orion, er ist...er ist jetzt bei den Göttern. Sie haben ihn zu sich geholt."

Wie auf Kommando flüsterte Gemma den Namen ihres Zwillings und Scorpion verstand. Er schloss für einen kurzen Moment die Augen und das Bild von Gemmas Zwilling tauchte vor ihm auf. Das zaghafte Lächeln, die sanfte Falte zwischen seinen Augenbrauen und das gewissenhafte Funkeln seiner grünen Augen.
Stillschweigend liefen sie den restlichen Weg bis sie endlich die schemenhaften Umrisse des Ufers erkannten.

Die beiden Männer waren völlig geschafft, als sie endlich wieder sicheren Boden unter ihren Füßen hatten. Ein paar mal hatte das Eis unter ihrem Gewicht verdächtig geknackt, weshalb sie versuchten möglichst schnell voran zu kommen. Doch dadurch, dass sie Gemma, die wie ein Sandsack sich hatte mitschleifen lassen, bei sich hatten, war Geschwindigkeit so eine Sache.

Sie zogen sie noch ein Stückchen weiter in den Schutz der Bäume, bis sie sich sicher waren, dass sie keiner so schnell entdecken konnte und setzten Gemma auf einen Baumstumpf. Gemma war immer noch abwesend und schien von dem Geschehen um sie herum nichts mitzubekommen.

Viper streckte sich und rollte seine Schultern, während Scorpion sich aufmerksam umsah. Im Wald waren sie etwas geschützter vor dem Schneetreiben und er konnte weiter sehen, doch Grace konnte er nicht erkennen.

"Grace!", schrie er aus Leibeskräften.

„Spinnst du? Wenn du so rumbrüllst lockst du die Garde doch direkt zu uns!" Scorpion ignorierte Vipers Kommentar und ging ein paar Schritte weiter. "Grace, wo bist du?" Er wartete einige Sekunden, doch als er keine Antwort erhielt und die junge Frau nirgends sehen konnte, schüttelte er den Kopf.

Besorgnis spiegelte sich in Scorpions grauen Augen wieder, als er seinen besten Freund ansah. "Viper, ich muss sie suchen gehen. Wenn ihr etwas passiert ist, wenn sie doch noch erwischt wurde...ich weiß nicht was ich machen würde."

"Keine Sorge." Scorpion wirbelte herum, als er die andere Stimme hörte. "Die bekommen mich nicht."

Grace hatte ein sanftes Lächeln auf den Lippen als sie hinter den Schatten der Bäume hervor trat. Scorpion sah die Frau an und ging langsam auf sie zu, um sie dann in die Arme zu schließen. Sie hielten sich einige Momente fest umschlossen, als Grace ihm etwas ins Ohr flüsterte.

"Wenn du noch einmal so mit mir redest, dann werde ich dir persönlich die Haut abziehen."

Sie lösten sich von einander und Grace lächelte Scorpion noch für eine Sekunde süß an, ehe sie sich Gemma zuwandte. Sie kniete sich vor ihr hin und suchte Blickkontakt, doch Gemma starrte weiterhin nur ausdruckslos vor sich hin.

"Was genau ist passiert?", wollte sie wissen. Dabei sah sie fragend von Viper zu Scorpion. Als beide ihren Blicken auswichen, stand sie abrupt auf und ging auf Viper zu.

"Ich will wissen was passiert ist. Glaub nicht ich habe nicht Gemmas verwundeten Hände gesehen. Und blind bin ich auch nicht, ich seh' doch wie sehr sie leidet. Raus mit der Sprache, sonst kann ich ihr nicht helfen!"

"Du kannst mir nicht helfen." Die dünne, aber scharfe Stimme zog die Aufmerksamkeit auf sich. "Du kannst mir nicht helfen", wiederholte sie, diesmal etwas lauter und sah Grace mit ihren rot umrandeten, grünen Augen an. "Niemand kann mir helfen. Oder kannst du die Toten wieder lebendig machen? Kannst du? Kannst du das machen?!"

Den letzten Teil schrie die junge Frau so plötzlich, dass Grace zusammenzuckte. Doch langsam dämmerte es ihr was geschehen war. Sie ging wieder langsam zu ihrer Freundin zurück und kniete sich vor ihr auf den Boden. Mit wehleidigen Augen sah sie sie an.

"Gemma, es tut mir so unendlich leid." Ein Bild von Orion, wie er ihr lächelnd im Labor half, zuckte wie ein Blitz vor ihren Augen. "Ich kann mir gar nicht vorstellen, welchen Schmerz du durchmachen musst. Aber bitte, lass mir dir trotzdem helfen."

Grace wies auf Gemmas Hände. Erst jetzt schien ihr wirklich bewusst zu werden, was sie angerichtet hatte und ihre Hände fingen an zu zittern.

"Ich kann dir helfen, wenn du mich nur lässt. Zumindest den Schmerz kann ich ein bisschen lindern, und die Brüche schienen. Besser versorgen kann ich dich leider erst, wenn wir wieder zurück in Hoplor sind."

Wie von der Tarantel gestochen sprang Grace auf. Ihre Stimme zitterte leicht als sie dann sprach: "Scorpion...wie kommen wir zurück nach Hoplor? Wir haben weder die Hoverbikes, noch die technischen Möglichkeiten, die uns zurück in unser Zuhaus lotsen könnten. Scorpion, bitte sag mir du hast einen Plan. Bitte sag mir, dass du uns wieder zurück nach Hause bringen kannst."

Es war eine Frage der Zeit gewesen. Scorpion wusste, dass der Moment kommen würde, in dem sie ihm vertrauten sie sicher wieder zurück zu bringen, aber er wusste nicht wann. Er hatte gehofft, dass er bis dahin zumindest einen Plan haben würde, um sie nicht zu enttäuschen. Aber jetzt war es soweit. Und er hatte keinen Plan. Nicht einmal darüber nachgedacht hatte er.

Wenn du sie anlügst und sie finden das heraus, dann werden sie enttäuscht sein. Klick klack.

Aber Scorpion konnte und wollte seine Freunde nicht enttäuschen. Nicht jetzt, wo sie ihn mehr brauchten denn je. Also straffte er seine Schultern und hoffte, dass sie nicht hinter seine Fassade blicken konnten.

"Okay hier ist der Plan. Wir schlagen uns noch ein wenig tiefer in den Wald. Wenn wir Glück haben, finden wir vielleicht sogar eine Höhle, oder zumindest einen geschützteren Ort, wo wir uns für die Nacht niederlassen können. Gleich morgen früh, wenn die ersten Sonnenstrahlen scheinen, machen wir uns auf den Weg. Am Stand der Sonne werden wir uns Richtung Süden durchkämpfen und wenn wir uns schnell bewegen, sollten wir in ein paar Tagen Hoplor erreicht haben."

"Ein paar Tage? Scor bei allem Respekt, kannst du dir nicht etwas besseres einfallen lassen? Ich bezweifle, dass wir auch nur einen Tag in der Wildnis überleben. Nicht bei dieser Kälte. Wir werden alle nacheinander erfrieren und verhungern. Wir haben keine Vorräte und..."

Scorpion hob seine Hand und brachte Viper zum Schweigen.

"Ich weiß es sieht hoffnungslos aus. Aber wir müssen zusammenhalten und es wenigstens probieren. Das sind wir Orion schuldig."

Zustimmendes nicken folgte.

Vier kleine Lämmchen streifen umher.

Einsam. Verloren. Voller Hoffnung. Der Schatten, der sie führt. Kälte. Eis. Wasser. Umschließt ihn ganz. Knochen. Brechen. Knirschen. Ich höre es genau. Das Blut zieht eine Spur, lässt sie wissen wo ihr seid.

Klick klack.

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