18
[GEMMA]
Das sanfte Brummen der Hoverbikes lenkte Gemma nicht von den Gedanken ab, dass ihr Bruder bereits auf dem Rückweg war. Zumal es Gemma eigenartig vor kam, dass er sich nicht gemeldet hatte. Nachdem sie den Auftrag abbrechen mussten, hatte sie von allen eine Antwort bekommen - außer von ihrem Zwilling.
"Hey, ihm wird es gut gehen.", sprach Viper, der einen Blick über die Schulter riskiert hatte. Gemma klammerte sich etwas fester an den Mann.
"Mich lässt das Gefühl nicht los, dass etwas passiert ist." Sie biss sich fest auf die Lippe, damit Viper das Zittern nicht merkte, welches sie durchlief.
"Er ist bestimmt schon losgegangen, weil er die Wachen vom Ratsherrn bemerkt hat. Bestimmt hat er sie gesehen, hatte das Tor bereits geöffnet und sich in Sicherheit gebracht."
"Aber Orion geht nicht einfach weg, ohne Bescheid zu sagen. Zumal er auch kein Hoverbike hat, um weit zu kommen." Gemma's Stimme war lauter geworden, doch der Fahrtwind riss ihre Worte in die Finsternis der kalten Winternacht.
Viper lenkte hinter Scorpion her, der sich einen Weg durch die Bäume suchte. Jetzt noch auf dem Hauptweg nach Hoplor zu fahren würde für Aufsehen sorgen, zumal bestimmt die königliche Garde noch nach dem Bluttöter suchte, der draußen sein Unwesen trieb.
Die kahlen Bäume flogen an ihnen vorbei und der Druck in Gemmas Magen stieg immer weiter an, als sie bemerkte, dass sie die Hälfte des Weges fast geschafft hatten. Der Schwarzsee lag noch vor ihnen, doch sobald sie ihn umrundet hatten, befanden sie sich in Gebirgen und dichten Wäldern, sodass sie mögliche Verfolger abhängen können.
"Scheiße." Scor drehte sich zu Viper und gab ihm ein Handzeichen, was aus verschiedenen Fingerbewegungen bestand. Es war die Zeichensprache, die sich die beiden die letzten Jahre ausgedacht hatten, um auch untereinander zu kommunizieren, falls sie kein Geräusch von sich geben sollten. Zwar hätte Scor auch einfach sagen können, was ihm gerade aufgefallen ist, doch der Wind wurde immer stärker und verwehte die Worte im Wind.
Die Zeichensprache nützte Gemma nichts. Viper jedoch verstand und blickte erneut über die Schulter. Dieses Mal galt sein Blick jedoch nicht der jungen Frau, der die Schneeflocken im Haar klebten, sondern dem Wald dahinter. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und schnell blickte er wieder nach vorne, ehe er das Tempo beschleunigte und hinter Scor herhetzte.
Gemma hatte Mühe sich an Viper festzuhalten, ohne vom Bike zu fliegen, weshalb sie nicht nach hinten blickte, sondern sich enger an den Mann drückte. "Was ist los?", schrie sie.
"Wir werden verfolgt.", antwortete Viper.
Wie Gemma es gedacht hatte. Die königliche Garde wurde alarmiert und wenn sie diese nicht schnell abhängen würden, dann landeten sie schneller im Verließ des Palastes, als dass sie Raubzug sagen könnten.
Die Bäume lichteten sich langsam, rechts konnte sie den zugefrorenen Fluss erkennen, der als silberne Ader durch den Erdboden kroch. Plötzlich wurde Gemma nach vorne gerissen. Das Hover-bike surrte lauter, knisterte leicht und dann stieg Dampf aus dem hinteren Getriebe auf.
"Fuck." Viper versuchte den Motor wieder anzuschalten, doch das Bike gab noch ein paar klägliche, erstickende Laute von sich, ehe es nach unten sackte. Gemma und Viper waren aber nicht die einzigen, die eine Minute später im Schnee standen und auf das nicht funktionierende Hover-bike starrten. Scorpion und Grace kamen auf sie zugejoggt.
"Bei euch sieht's nicht besser aus als bei uns.", meinte Scor und machte sich einen schnellen Zopf. "Wie kann das sein? Mein Hover-bike war doch erst kaputt?"
"Es scheint, als habe sich der Motor überhitzt oder unterkühlt. Vielleicht auch beides, was aber nicht möglich ist.", sagte Viper, der sein Bike genauer untersuchte, doch er kam nicht weiter, denn Gemma fasste an seine Schulter. "Es ist egal, wir müssen weg. Unsere Verfolger machen sich nichts daraus. Sie werden trotzdem auf ihren Bikes versuchen uns einzuholen."
Viper warf einen Blick nach hinten und nickte dann. "Okay, los." Stolpernd fingen die vier Clanmitglieder an zu rennen. Gemma hatte nur einen Blick über die Schulter geworfen, das reichte, um zu sehen, dass die Verfolger bereits näher waren, als ihr lieb war. Eine Schneewolke wurde hinter ihnen aufgewirbelt, während sie näher und näher kamen.
Als die Bäume schließlich aufhörten und eine saubere Grenze zum Schwarzsee bildeten, blieben sie stehen. Viper warf Scorpion einen Blick zu und Gemma fragte sich, ob nur sie die stumme Kommunikation zwischen ihnen mitbekam? Ob nur sie die Anspannung an Viper erkennen konnte?
Wie seine Wangenknochen höher und kräftiger hervortraten, weil er seinen Kiefer anspannte? Wie seine rechte Augenbraue vor Nervosität zuckte? Wie er langsam nickte und schließlich Gemma's Hand packte.
"Ihr seid verrückt. Der See wird uns nicht halten. Wir wissen nicht wie dick die Schicht ist. Wenn wir einbrechen und untertauchen, wird uns die Kälte und Tiefe des Wassers verschlucken!", rief Grace aufgebracht. Der Wind fegte stark und eiskalt über den See und wirbelte die Schneeschicht auf dem zugefrorenen See auf, sodass es wirkte, als befänden sie sich inmitten eines dicken Nebels.
"Wir haben keine Wahl. Der Weg um den See herum würde uns fast einen ganzen Tag zu Fuß kosten. Wir müssen weiter kommen. Und hier haben wir keine Hindernisse.", entgegnete Scorpion und seine Worte ließen keinen Zweifel oder Widerspruch dulden.
Gemma nickte entschlossen und rannte schließlich mit Viper hinter Scorpion und Grace hinterher. Leise knirschte das Eis unter ihren Stiefeln und mit halb geschlossenen Augen kämpften sie sich durch den Wind, der so feine Schneeflocken in ihre Gesichter wehte, dass es sich wie feine Glassplitter auf der Haut anfühlte.
Plötzlich knallte neben Gemma etwas ins Eis. Ein Loch entstand und feine Risse zogen sich von da aus entlang. Sie wagte einen Blick über die Schulter und sah fünf Schemen am Rand stehen. Sie standen im Schutz der Bäume und zielten auf die vier Flüchtlinge. Zischend schossen die Kugeln an Gemma vorbei. Sie trafen in das Eis, das Muster annahm, welche an die Äste eines Baumes erinnerten.
Halb springend, halb schlitternd wichen sie den Geschossen aus. "Sie drängen uns zum Rand!", rief Viper nach vorne, der bereits mitbekommen hatte, dass die Verfolger die linke Flanke beschossen, sodass sie nach rechts getrieben wurden - auf die Bäume und den Wald zu. "Scorpion!"
"Ich weiß, Vi. Lass mich nachdenken!", antwortete der Mann und betrachtete angestrengt seine Umgebung. Er war mit wehendem Mantel stehen geblieben, doch wurde von keiner Kugel getroffen. Die Verfolger hatten Mühe sie noch auf dem See ausmachen zu können, doch sie bewegten sich langsam am Rand in ihre Richtung zu, während sie ihre Richtung neu berechneten und schließlich die Clanmitglieder neu anvisierten. "Es nützt nichts. Rennt einfach weiter.", befahl Scor. "Anscheinend gehen sie nicht über den Fluss, sonst hätten sie das längst getan. Wenn wir weiter rennen und Entfernung aufbauen, sind wir aus ihrer Schussbahn und können sie loswerden."
Zustimmendes nicken folgte. Gemma wusste, dass sie keine andere Wahl hatten. Nicht nur, dass Scorpion ihr Anführer in fast jeder Mission war, nein. Sein Plan war eindeutig und sie fand kein Gegenargument. Grace rannte bereits los, Scorpion direkt hinter ihr, doch Gemma drehte sich kurz um. Ihr Blick galt den Bäumen. Das Gefühl, Orion dort zu lassen, ließ sie nicht los.
Eine Kugel traf haarscharf neben ihr ins Eis. Gemma zuckte zusammen. Sie schüttelte sich, riss ihre Gedanken von den Bäumen los und rannte los - blieb jedoch kurz darauf wieder stehen, als sie Viper weiter rechts nahe am Ufer ausmachen konnte. Er stand da, den Kopf gesenkt, die Hände zu Fäusten geballt, die Haare voller Schnee. Er rührte sich nicht.
"VIPER!", schrie Gemma. Sie war vielleicht zehn Meter von ihm entfernt.
Warum ist er so nah ans Ufer gegangen? Er hatte doch Scorpions Anweisung gehört?
Sie blickte erneut nach hinten, dieses Mal jedoch, konzentrierte sie sich auf ihre Verfolger. Sie schienen Viper ebenfalls bemerkt zu haben. Ohne lange zu überlegen rannte Gemma los. Sie stürmte auf den dunkelblonden Mann zu und kam schlitternd ein paar Meter hinter ihm zum Stehen, als eine Kugel zwischen ihr und ihm ins Eis einschlug.
"Viper, verdammt. Was soll das? Hast du Scorpion nicht verstanden? Wir sollen vom Ufer weg. Was machst du hier? Komm jetzt. Die Kugel hätte dich beinah getroffen." Vorsichtig näherte sie sich Viper. Er hatte sich noch immer nicht bewegt und erst, als Gemma erneut fragte, was los sei, hob er ruckartig seinen Kopf.
Eine weitere Kugel traf in das Eis. Nur ganz knapp neben Vipers Fuß. Er zuckte nicht einmal zusammen. "Nicht.", befahl er und hob seine Hand.
"Aber, Viper, was..."
"Geh', Gemma." Er drehte seinen Kopf leicht, doch nur so weit, dass Gemma seine Augenbraue sehen konnte, die zitterte. Irgendetwas stimmte da nicht.
"Viper. Du kommst sofort mit mir.", sagte sie und versuchte ruhig zu bleiben. Ihre Stimme bebte vor Kälte und der Schnee verdichtete sich.
Eine weitere Kugel traf das Eis. Zog Risse. Breite Risse. Der Schnee wirbelte auf und entblößte einen dunklen Schatten unter dem Eis.
Gemma runzelte die Stirn. Sie trat noch näher, doch dieses Mal schien Viper sie bemerkt zu haben, denn er drehte sich um und hielt Gemma zurück. "Gemma.", sagte er und sie sah ihn an - ihr Herz zog sich zusammen. Tränen standen in seinen Augen und ein schmerzvoller Ausdruck lag in seinen Augen. Seine Augenbraue zitterte - er hielt sich zurück. "Ich habe gesagt, du sollst gehen."
Doch Gemma blendete ihn aus. Die Oberfläche des Eises war glatt. Beinahe so durchsichtig wie Glas und der dunkle Schemen war nun als Gestalt auszumachen. Langsam legte Gemma ihr Hände auf Vipers Arme und drückte ihn von sich. Sie trat einen Schritt an ihm vorbei und ignorierte seine Stimme.
"Gemma."
Es kam nur brüchig an und doch hatte sie es gehört. Den Schmerz in seiner Stimme. Die Angst. Die Verzweiflung.
Entschlossen sah sie nach unten - und erstarrte.
Es war wie ein Schlag in den Magen, als sie in das Gesicht blickte, dass sie von der anderen Seite der Eisschicht mit starrem Blick ansah. "Nein...", flüsterte Gemma und fiel auf die Knie. Den Schmerz, der aufgrund des Aufpralls durch ihre Beine jagte, spürte sie nicht. Ihre Hände legten sich automatisch auf die kalte Oberfläche des Eises, doch sie spürte die Kälte nicht. Sie hörte nicht den Wind, der heulend immer mehr zu einem Schneesturm wurde. "Nein...", flüsterte sie erneut.
Es war, als würde sie in ihr Spiegelbild blicken. Die grünen Augen wirkten nur leblos und leer, das Haar war im Wasser aufgewirbelt und Blut klebte am Kiefer und am Kinn. Es war den Hals hinabgelaufen und doch waren seine Lippen zu einem feinen Lächeln verzogen. An der Brust konnte sie ein Loch erkennen - man hatte ihn erstochen.
Tränen brannten in Gemmas Augen, sie ballte die Faust und schlug auf das Eis. "ORION!", schrie sie und schlug immer und immer wieder auf die Eisschicht, die nur langsam Risse bekam. Ihre Knöchel rissen an den scharfen Kanten des Eises auf und ihr Blut vermischte sich mit dem schwarzen Wasser, was aus den Rissen nach oben strömte. "Orion, Orion." Ihre Stimme war voller Verzweiflung und mit zugeschnürtem Hals schlug sie auf das Eis ein.
Das Eis platzte, dennoch war es noch immer verschlossen und ohne eine Lücke, damit sie ihren toten Bruder aus dem Wasser ziehen könnte. "Orion, Orion." Der Name war zu einem beständigen Murmeln geworden und langsam wurden Gemmas Finger taub. Ihre Knöchel waren längst gebrochen, doch sie schlug immer weiter und weiter auf das Eis ein.
Plötzlich wurde sie an den Schultern gepackt und nach hinten gerissen. Orions Leiche sank langsam nach unten und das Wasser strömte vermehrt aus den Rissen, wusch Gemmas Blut weg und floss auf die Fläche hinaus. "NEIN!", schrie sie und wehrte sich gegen die Arme, die sie festhielten und von Orion wegzogen. Sie trat um sich, doch ihre Hände waren kraftlos und ihre Lunge schien nicht mehr Sauerstoff aufzunehmen.
Die Schüsse vermehrten sich, das Eis knackte. Viper zog Gemma mit sich und sie ließ es geschehen. Kraftlos stolperte sie hinter dem Mann her - ihr Blick galt der blutig eingeschlagenen Stelle auf dem See.
Ihr Brustkorb zog sich zusammen, der Schmerz in ihrem Herzen stieg an, ihr Kopf dröhnte und ein hoffnungsloser Schrei verließ ihre Kehle.
"ORIOOOOON!"
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