17
[ORION]
Noch eine halbe Stunde.
Die Zentralstation der Alarmanlage lag offen vor Orion - Drähte und Platinen. Ein wildes Durcheinander. Schweigend sah er sich alle Details genau an. Zwar hatte er bereits die Ausbildung bei Grace begonnen und sie sagte auch, er sei soweit, das alleine hinzubekommen, doch bei diesem Anblick blieb ihm dennoch kurz die Luft weg.
Stumm sandte er ein Gebet an die Götter, ehe er sich mit den Gerätschaften an die Drähte und Kabel wandte. Zwar sollten die anderen erst in einer halben Stunde hier wieder rauskommen, doch je früher Orion den Alarm ausschaltete, desto mehr Zeit konnte er sich lassen. Wenn sie schneller als nach Plan sein würden, hätte er vielleicht nicht genügend Zeit, um sie unbeobachtet da rauszuholen.
Die ersten Kabel löste er vorsichtig aus ihren Halterungen, durchtrennte aber keines.
Zu Riskant.
Zu auffällig, würde mal jemand das Sicherheitssystem überprüfen.
Die Stromverbindung einfach zu unterbrechen, wäre ebenfalls keine schlaue Lösung, das würde nur einen weiteren Alarm auslösen. Der Stromkreis musste also umgeleitet werden.
Orion hielt den Atem an, als er ein Stück Draht zurecht bog und die Enden an die richtige Stelle rückte. Sofort steckte er den Kupferdraht in eine andere Öffnung. Noch vierzehn Sekunden, dann würde der Alarm losgehen, sollte er bis dahin nicht den richtigen Code eingeben. Orions Herz flatterte vor Aufregung.
Grace hatte ihm die Alarmanlage genaustens erklärt. "Ich kenne das Modell", hallte ihre Stimme in seinem Kopf wieder. "Sobald ein Eingriff erfolgt, startet ein Countdown von fünfzehn Sekunden. Innerhalb dieser Zeit musst du den Code eingeben. Ansonsten geht der Alarm los und wir fliegen auf."
Orion biss sich auf die Unterlippe. Noch zehn Sekunden.
"Du darfst nicht zählen." Wieder Grace' Stimme. "Du darfst die Sekunden nicht zählen. Das macht dich nur nervös. Entweder du schaffst es, den Code einzugeben oder..."
"Ruhe.", keifte Orion und die Stimme verstummte wirklich.
Zwei Sekunden. Eine. Null.
Orion ließ die Hände sinken. Fast schon rechnete er damit, dass die Sirene losging, doch alles blieb ruhig. Erleichtert atmete er aus. "Es hat geklappt." Sein Herz wummerte noch immer wie wild gegen seine Brust und mit geballten Fäusten, um das Zittern in seinen Händen zu unterdrücken, starrte er noch eine Weile auf das geöffnete System vor sich.
Irgendwo im Hintergrund rauschte ein Wasserfall und ein Fluss, doch die Geräusche gingen in Orions abflauender Aufregung unter. Schnell packte er die ganzen Sachen zusammen und schaltete die kleine Taschenlampe aus. Die Scheibe drehte sich ein letztes Mal, sank dann auf in seine Handfläche und blieb regungslos liegen.
Jetzt lag es an den anderen, dass der Auftrag erfolgreich erfüllt wurde.
Ein Geräusch ließ ihn herum fahren, doch als er mit vor Schreck geweiteten Augen in die Dunkelheit starrte, konnte er nichts außer die Silhouetten einiger Bäume ausmachen. Orion schüttelte den Kopf. Das Adrenalin welches immer noch durch seine Venen floss, machte ihn ganz offensichtlich paranoid.
"Reiß dich zusammen.", brummte er zu sich selbst, bevor er sich wieder seiner Ausrüstung widmete. Er packte alles zusammen, steckte es in seinen Rucksack und schulterte ihn. Dann drehte er sich um und suchte sich ein Versteckt. Die Gefahr, dass hier draußen jemand kommen könnte - eine Wache des Ratsherrn -, die durch Zufall zurück kam und ihn entdecken könnte, war zu groß.
Der Plan besagte, dass er hier auf Grace warten sollte, die, nachdem sie das Tor geöffnet hatte, zu ihm kommen wollte. Anschließend würden sie sich gemeinsam verstecken und auf Scorpion und Viper warten, die mitsamt der Statue aus dem Haus kommen sollten. Die Hoverbikes standen bereit und so mussten Orion und Grace nur aufspringen, dann konnten sie weiter fahren. Gemma sollte unterwegs ebenfalls dazu stoßen.
"Also musst du nur leise warten.", sprach Orion zu sich und duckte sich hinter den nächsten Baum. Vorsichtig spähte er an der Rinde vorbei, doch die Dunkelheit der Nacht legte sich immer tiefer über den kleinen Wald, in dem er hockte. Die Nacht war kalt und eisiger Wind zog durch die Bäume, ließ das Laub rascheln und als Orion seinen Blick nach oben richtete, fielen ihm ein paar Schneeflocken auf das Gesicht.
Sie schmolzen auf seiner Nase und eine angenehme Kühle durchfuhr ihn.
Doch da hörte er es wieder. Ein Rascheln. Das Knacken von Ästen. Das Knirschen von Schnee. Er fuhr herum, doch wieder konnte er nichts sehen. Das Rauschen des Wasserfalls rauschte wie das Blut in seinen Ohren. Laut und unbändig.
Schnell zückte er die flache Scheibe, sie schwebte und breitete ihr silbernes Licht aus. Langsam schlich sich Orion durch die Bäume. Inspizierte die Umgebung und ließ keinen Busch und keinen Baum aus den Augen. Das Rauschen stieg an.
Die Scheibe schwebte nach vorne, leuchtete seinen Weg, doch er konnte nichts sehen. Der Wasserfall tat sich vor ihm auf, fiel tosend in die Tiefe und durchbrach die Eisschicht an dieser Stelle. Der Rest des kleinen See's war zugefroren und auch der Fluss, der von ihm abführte, war vollkommen vereist.
Plötzlich - neben ihm das Rascheln. Mit einer fließenden Handbewegung zückte er seine Waffen, deren beiden Klingen zusammen einen Kreis bildeten und hielt - in jeder Hand jeweils eine dieser Waffen - gekreuzt vor sich. Die leuchtende Scheibe drehte sich und als Orion einen Schatten sah, warf er eine der Klingen nach vorne. Sie beschrieb einen silbernen Bogen und bohrte sich in das Ziel. Ein dumpfer Aufprall ertönte, ein animalisches Quieken durchschnitt die Nacht und Orion zuckte zusammen.
Sorgsam näherte er sich seinem Fang und als die Scheibe ihn erleuchtete, wich die Angst aus dem Blick des jungen Mannes. Seine grünen Augen füllten sich mit Trauer, als er das blutende Wildschwein sah. Das Rot tränkte den hellweißen Schnee und bildete einen starken Kontrast, der in Orions Augen stach. "Tut mir leid. Vergib' mir, Obergott Edur.", flüsterte und strich sich drei Striche auf die Stirn.
Plötzlich wurde er nach vorne gestoßen und ein heißer Schmerz schoss durch seinen Kopf. Taumelnd kam er zum stehen und drehte sich um. Eine verhüllte Gestalt hob sich aus den Schatten, in der Hand einen dicken Ast.
Doch den ließ er fallen. Er griff an seinen Rücken und zückte zwei Dolche, deren Klingen dunkelschwarz glitzerten. Er drehte sie zwischen seinen Fingern und instinktiv wich Orion einen Schritt nach hinten. Ein kurzer Blick über die Schulter genügte, um ihm klar zu machen, dass er bei einem Stoß des unbekannten Gegners den Abhang hinunter stürzen und auf dem Eis landen würde.
Er blickte zu besagtem Schatten - gerade rechtzeitig. Er war auf ihn losgestürmt und Orion konnte den Klingen nur ausweichen, weil er im letzten Moment seine Waffen hoch riss. Metall traf Metall. Die Gestalt hatte eine dunkle Maske auf, wodurch Orion jegliche Sicht auf sie verwehrt wurde. Die Kapuze war ebenfalls tief ins Gesicht gezogen.
"Wer bist du?", fragte er mit zusammengebissenen Zähnen und stemmte sich gegen seinen Gegner. Er war groß und der Grünäugige hatte Mühe, sich aufrecht zu halten. Anhand der Statur konnte er ausmachen, dass es sich um einen Mann handelte. "Zur königlichen Garde kannst du nicht gehören. Die tragen silberne Rüstungen und helle Umhänge. Also sag, was willst du von mir?"
Seine Stimme zitterte nicht. Nicht, wie er erwartet hätte. Er schlitterte, duckte sich und rollte sich weg. Dann sprang er auf, griff in seine Tasche und holte die Nadelbomben raus - seine neuste Erfindung.
"Waffen sind dann eine Sünde, wenn sie mit Giften oder Explosivstoffen versehen sind. Das Töten ist nicht zu vermeiden. Aber es muss auf ehrliche Weise geschehen. Das Zischen der Klingen, die Verteidigung des Glaubens und die Suche nach dem Licht Edur's sind die Handlungen, die euch in den Schutz der Götter leiten.", erinnerte sich Orion an 'Das Buch der Vernunft'. Doch seine Hände kribbelten. Denn Seine Nadelbomben beinhalteten zwar Strychnin in seiner Kristallform, doch für die Zündung der Kapsel hatte er Ethanol benutzt. Die entzündliche Flüssigkeit würde die Hülse explodieren lassen, wodurch die Kristalle zerbersten und sich in feinem Staub über den Gegner legen würde.
Dieser würde Atemnot bekommen, seine Muskeln würden verkrampfen und es wäre ein leichtes ihn in Gewahrsam zu nehmen. Die kleinen Metallteile fühlten sich kühl in seiner Handfläche an. Mit seinem Daumen drückte er auf den kleinen Knopf und mit einer schwungvollen Bewegung hatte er die Nadelbomben auf die verhüllte Gestalt geworfen.
Wie er es vorausgesehen hatte, explodierten sie und feiner Staub legte sich zwischen ihn und den Unbekannten. Doch nicht, wie er erwartet hatte, verstifte sich dieser, oder ging zu Boden - nein. Er trat näher und schwang seine Dolche durch die Luft. Er trat Orion, der vollkommen verwirrt da stand, in die Magengrube, stieß ihn den Abhang hinunter und sprang hinterher.
Ein Stöhnen verließ Orions Kehle, als er auf dem kalten Eis aufkam. Es hatte leicht geknirscht und langsam rappelte er sich auf. Er hörte, wie der Angreifer die Dolche wegsteckte und sich ihm langsam näherte. Mit einer Grimasse des Schmerzes rappelte sich der Grünäugige auf und kassierte direkt einen weiteren Schlag. Seine Hüfte schmerzte und wie Regen prasselten die Tritte und Schläge schonungslos auf ihn ein.
Sie erfolgten so gezielt und binnen kurzer Sekunden auf ihn ein, dass er sie nicht voraussehen konnte. Brutal und hemmungslos wurde auf ihn eingeschlagen, der Unbekannte schien nicht außer Puste zu kommen. Der nächste Schlag traf Orion so rabiat, dass es ihn nach hinten beförderte.
Er lag auf dem Eis und rang nach Atem. Der Schmerz ließ ihn schwindeln. Frisches Blut lief über seinen Kiefer, drang aus seinen Lippen und kurz hustete er, wodurch ein warmer Schwall der roten Flüssigkeit seine Klamotten benetzte. Der Umhang lag unter ihm ausgebreitet und würde man von oben auf ihn daraufgucken, dann - so war sich Orion sicher - würde es den Anschein erwecken, er läge auf einer Decke.
Die verhüllte Gestalt stand regungslos ein paar Meter von ihm entfernt und rieb sich über die Knöchel. Rote Platzwunden hatten seine Hände verunstaltet vollkommen konzentriert rieb er sich über die wunden Stellen.
Orion wollte sich aufrichten, doch er brachte keine Kraft auf, sich zu bewegen. Das Tosen und Rauschen des Wasserfalls nahm er nur am Rande wahr. Sein Blick war in den Himmel gerichtet. Wolkenlos und voller Sternen. Der Mond leuchtete in seiner vollen Größe und strahlte so hell, dass es Orion beinah in den Augen brannte.
Das Reiben von Metall auf Metall erklang und Orion drehte langsam den Kopf. Sein Angreifer hatte wieder die Dolche gezückt und ging langsam, fast schon schleppend auf sein liegendes Ziel zu. Zitternd rappelte sich Orion auf. Obwohl seine Hände schmerzten, sein Gleichgewicht verschwunden war, so stand er doch auf.
Blut lief ihm aus dem Mund, lief sein Kinn runter und zog klebrige Spuren über seinen Hals. Sein Umhang flatterte nervös um seine Beine. Blutiger Speichel tropfte neben ihm auf das Eis. Dann, plötzlich, hatte er das Gefühl zerrissen zu werden. Er schrie auf, kniff die Augen zusammen und als er an sich herunter sah, konnte er durch tränenverschleierte Augen erkennen, dass der Unbekannte den schwarzen Dolch in seiner Brust herumdrehte und ihn wieder herauszog. Das Heft war bis zum Anschlag mit Blut beschmiert.
Orion taumelte, hob seine zitternden Finger und wurde nach hinten gestoßen. Er stürzte, spürte, wie das Eis unter seinem Gewicht nachgab und zersplitterte. Kälte umschloss ihn, gepaart mit tiefschwarzer Finsternis. Rote und schwarze Punkte trafen aufeinander und verschleierten langsam seine Sicht. Die Strömung des Flusses zerrte an ihm, schien ihn zu durchbohren und Orion spürte, wie seine Muskeln versagten.
Seine Atemzüge wurden immer flacher bis die Dunkelheit das Sternenkind vollständig verschlungen hatte.
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