Kapitel 9
„Was Ihre Kinder auf sich nehmen, ist beispielhaft", sagte Caleb Bukowski anerkennend zu Greg Winters, „Sie können mit Recht stolz auf sie sein. Das wollte ich Ihnen nur gesagt haben."
„Das ist sehr nett", antwortete Winters.
„Ich hoffe, dass meine Kinder eines Tages genauso reif und verantwortungsbewusst sind im Angesicht der Härten des Lebens."
„Ihr Pavel ist ja nicht gerade auf dem besten Weg, wie man hört", erwiderte Winters, der offenbar keinen Grund sah, eine Schmeichelei zurückzugeben.
„Das ist das Alter. Aber Sie haben Recht, wir machen uns Sorgen um ihn. Meine Frau fürchtet, er könne ein Taugenichts werden."
„Wie alt ist er denn?", fragte Fenian.
„17", sagte Bukowski, „Noch nicht ganz trocken hinter den Ohren, aber auch nicht mehr grün. Er glaubt, er wisse alles besser, dabei weiß er gar nichts von der Welt und der Wirklichkeit und wenn er so weiter macht, wird es auch nie etwas davon kennen lernen. Er ist ein ziemlicher Faulpelz. Ja, ich sage das ganz offen, weil ich nicht will, dass hinter meinem Rücken über ihn oder mich geredet wird. Ich bin nicht glücklich mit ihm, aber vielleicht wird er jetzt, wenn ich nicht mehr da bin, die Augen aufmachen. Vielleicht muss man ihm nur ein wenig Verantwortung übertragen, damit er in die Spur kommt."
„Und Sie sind bereite dafür zu sterben?", warf Sam Meyer ein.
„Sicherlich nicht", sagte Bukowski, „Aber man muss versuchen, immer die positiven Aspekte einer Situation zu betrachten. Zugegeben, es gibt nicht sehr viele hier, aber am Ende etablieren sich immer die guten Sachen und die schlechten werden vergessen. So ist das mit der Geschichte."
Fenian war sich nicht sicher. Seiner Erfahrung nach, setzten sich nicht die Guten, sondernd die Gewinner durch, die sich danach als die Guten feiern ließen. Wer gut war, entschied sich immer erst, wenn es vorbei war. Wer weiß, dachte er, vielleicht werden wir eines Tages die Demokratie als großen Fehler betrachten. Wenn der Faschismus sich in Europa durchsetzte, war es möglich, dass der Tag nicht allzu fern sein würde.
Was wir glauben, das gut ist, ist zumeist nur das einzige, das von vielen Alternativen übrig geblieben ist und Fenian ahnte bereits, wer bei der Auseinandersetzung in Harlan County am Ende wen schlecht aussehen lassen würde.
Es stimmte nicht, dass Fenian kein Verständnis für abweichende Positionen hatte. Er glaubte nicht an böse Absichten, den Teufel oder dergleichen. Er glaubte viel mehr daran, dass die Menschen egoistisch waren und der Egoismus einzelner gefährlicher war als der Egoismus vieler, wenn man das so ausdrücken konnte... Fenian vertraute nicht auf die Güte, ebenso wie er nicht an das Böse glaubte. Dennoch fand er, dass es schlechte, unmoralische und ungerechte Entscheidungen geben konnte, dass Menschen rücksichtslos und unwissend handelten, dass sie ignorant, kaltherzig oder desinteressiert waren. Manchmal gebar auch die schnöde Ungeduld verhängnisvolle Dekrete.
Fenian wusste, dass es den Kohlegesellschaften nicht gut ging. Er wusste, dass auch sie kämpfen mussten, um zu überleben, aber bei ihnen ging es um den Fortbestand einer Mine, nicht um Menschenleben. Die Mine konnte zur Not auch ohne die Bosse betrieben werden. Die Mine ging nicht weg, wenn die Kredite gestrichen wurden. Sie selbst war ein Wert und irgendjemand würde sich immer finden, der sie betreiben wollte. Schließlich wurde die Kohle gebraucht.
Ja, rote Zahlen schrieb niemand gerne und auf Dauer konnte es sicherlich so nicht bleiben, aber jetzt und hier gab es akute Probleme. Die Arbeiter und ihre Familien brauchten etwas zu essen. Jemand musste Geld in die Hand nehmen, um ihnen zu helfen und wenn es die Kohlegesellschaften nicht konnten, dann musste es eben die Regierung tun. Aber alles, was die Regierung schickte, waren Soldaten, die dafür sorgen sollten, dass niemand sich mehr beschwerte.
Fenian konnte verstehen, dass das Misstrauen gegen Regierung, Polizei, Garde und Vertreter der Gesellschaften größer wurde. Die Atmosphäre war vergiftet. Niemand wollte mehr reden. Niemand wollte mehr zuhören. Also blieb ihnen allen nur, eine Flinte zur Hand zu nehmen.
Dem ganzen lag eine gewisse komische Tragik zu Grunde: Man war aufeinander angewiesen, hielt sich aber gegenseitig für betrügerisch. Die Arbeiter glaubten, dass die Bosse mehr Verzicht üben sollten, um ihre Firmen zu retten, die Bosse glaubten, die Arbeiter sollten sich im eigenen Interesse, ihren Arbeitsplatz nicht zu verlieren, mehr anstrengen. Jeder sollte irgendwas. Die Krise verlangte es, dabei wusste niemand, woher diese Krise gekommen war und wer sie ausgelöst hatte. Wer trug die Schuld daran? Fenian wusste es nicht, wenn er ehrlich war. Und etwas nichts zu wissen oder zu verstehen, war die größte Hilflosigkeit, die er sich vorstellen konnte.
„Wisst ihr, was ich seltsam finde?", fragte plötzlich Harry Turner.
„Was denn, Schwachkopf?", entgegnete Sam Meyer.
„Wir sitzen hier ganz ruhig, dabei wissen wir, dass wir bald sterben werden. Wieso sind wir so ruhig? Wieso haben wir keine Angst?"
„Hast du keine Angst?", fragte Gene Waters, „Dann bist du gefestigter als ich."
„Ich für meinen Teil habe eine Scheißangst", gab Fenian zu.
„Ich weiß nicht, was Angst bringen soll", sagte Greg Winters, „aber ich nehme an, man kann sie ohnehin nicht kontrollieren. Ich habe jedenfalls keine. Zumindest keine große."
„Ich würde lügen, wenn ich das von mir behaupten würde", sagte Caleb Bukowski, „Ich habe Angst und ich bin traurig, weil ich meine Familie im Stich lasse."
„Aber Sie sind alle so gelassen dabei. Und ich auch. Ihre Gelassenheit färbt sicher auf mich ab, aber ich kann sie mir nicht erklären", sagte Turner, „Ich glaube, ich bin vielleicht bereit zu sterben."
„Sagen Sie sowas nicht!", rief Fenian.
„Wieso nicht? Es ist doch besser, er schließt damit ab, als dass er sich hier in die Hosen scheißt und Rotz und Wasser heult", meinte Sam Meyer.
„Sie haben also auch keine Angst?", fragte Turner.
„Ich bin dazu ausgebildet, keine Angst zu haben."
„Dann haben Sie sich einen Teil Ihrer Menschlichkeit abtrainieren lassen", sagte Greg Waters, „Darauf sollten Sie nicht stolz sein."
„Ich bin es aber, denn es zeigt, dass ein Mensch durchaus über sich hinauswachsen kann."
„Um dann sowas zu werden wie Sie?", fragte Fenian abfällig, „Nein, danke, da bleibe ich lieber ein Untermensch."
„Das bleiben Sie sowieso, Mister McKenna. Das irische Blut ist nicht zum Herrschen gemacht. Aber zugegeben, leidensfähig seid ihr. Leider bin ich kein Mensch, der andere für ihr Leiden respektiert."
„Nein, Sie respektieren niemanden!", sagte Gene Waters.
„Dafür respektieren Sie umso inflationärer, was Ihren Respekt irgendwie wertlos erscheinen lässt."
„Respekt ist keine Währung!"
„Das ist etwas, das ihr Kirchenkasper nicht versteht: Alles ist eine Währung!", behauptete der Gardist, „Alles, vom Respekt über die Liebe bis hin zum Aufwand, den man betreibt, um Sie loszuwerden. Je mehr Kugeln ich Ihnen nachschieße, umso beliebter werden sie in bestimmten Kreisen und je weniger Aufmerksamkeit ich ihnen schenkte, umso weniger werden Ihre Interessen ernst genommen und ich deshalb sollten Sie mir dankbar sein, Mister Mac. Ich bringe Sie in die Zeitungen."
„Glauben Sie wirklich, dass Liebe eine Währung ist?", fragte Gene Waters entsetzt.
„Wir sind alle Prostituierte, wenn sie es so formuliert haben wollen. Sie verkaufen sich für Geld, Ehre, Zuneigung, Anerkennung, Macht. Selbstlosigkeit ist ein Irrtum und eine Dummheit, die uns und damit der Gesellschaft mehr schadet als nutzt."
„Glauben Sie dann also, dass man Kranke und Alte Menschen im Stich lassen sollte?"
„Nicht nur die, auch jene, die zu faul oder zu dumm zum Arbeiten sind. Sehen Sie, am Ende tragen die Starken die Last der Schwachen und das schwächt sie, sodass sie irgendwann weniger Last tragen können, wovon dann wiederum niemand etwas hat."
„Sie wollen die Gesellschaft von menschlichen Ballast befreien?", rief Fenian dazwischen, „Dann jagen Sie sich selbst eine Kugel in den Kopf!"
„Warum so aufbrausend? Gefällt Ihnen die Realität nicht? So funktioniert die Natur. Der Stärkere überlebt, der Schwächere wird gefressen."
„Das ist nicht wahr!", behauptete Fenian, „Auch Tiere sammeln sich in Rudeln und helfen einander durch schlechte Zeiten."
„Weil es ihnen einem individuellen Vorteil bringt, in der Gruppe zu agieren", sagte Meyer.
„Sie behaupten also, jegliche Emotion, jegliches Mitgefühl sei unnatürlich? Wieso existiert es dann? Wieso lieben wir unsere Frauen, wenn wir nur Interesse daran haben dürften, uns fortzupflanzen? Wieso lieben wir unsere erwachsenen Kindern, die auf eigenen Beinen stehen und unseren Schutz nicht mehr benötigen? Nein, Meyer, da ist mehr als nur Nützlichkeit in der Welt. Da ist Aufrichtigkeit und Würde und der Wunsch nach Glück und Zufriedenheit. Und der Mensch ist nicht glücklich, wenn er allein ist. Er ist nicht zufrieden, wenn er sein Leben nur auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse ausrichtet."
„Und Gemeinschaft ist kein Bedürfnis, das er sich mit Großzügigkeit erkauft?"
„Wer das tut, ist ein Heuchler!", spie Fenian aus, „Kinder, die sich Freunde mit Geschenken kaufen wollen, finden keine, das wissen Sie, weil sie so ein Kind gewesen sind, habe ich Recht?"
„Oh, Sie wollen wissen, was für ein Kind ich gewesen bin? Wollen Sie eine Psychoanalyse an mir durchführen, Mac?"
„Ich will, dass sie einsehen, was für ein Dreckskerl Sie sind!"
„Die Chancen stehen in etwa so gut, wie die, dass Sie einsehen, was für ein Dummkopf Sie sind", entgegnete Meyer kühl.
„Wissen Sie, was wirklich nutzlos ist?", warf Harry Turner ein, „Ihre Sticheleien. Es ist Energieverschwendung, finden Sie nicht. Sie werden von hier drinnen aus doch sowieso nichts mehr ändern."
„Warum streiken Sie nicht, Mister Turner?", fragte Fenian prompt zurück, „Die meisten Männer in Ihrem Alter nehmen die Verantwortung ihrer Zukunft gegenüber ernst, warum Sie nicht?"
„Weil ich eine Verantwortung gegenüber der Gegenwart habe", sagte Turner, „Wenn wir jetzt nicht alles dafür tun, um die Produktion aufrecht zu erhalten, wird es in Zukunft keine Jobs mehr geben, die besser bezahlt werden können. Sie sägen den Ast ab, auf dem Sie sitzen, Mister McKenna."
„Sie meinen, wir sollten uns mit unserer Abhängigkeit abfinden?"
„Jeder ist von irgendwas abhängig und die Gesellschaft hängt von ihren Arbeitern ab. Jeder, der Menschen hat, die von ihm abhängen, sollte verantwortungsvoll handeln und wenn ich die Gesellschaft unterstütze, dann helfe ich ihr dabei uns zu unterstützen."
„Glauben Sie diesen Irrsinn wirklich?", mischte sich Greg Winters ein, „Ihnen hat man wirklich das Gehirn einmal kräftig durchgequirlt. Die Gesellschaft hat doch gar kein Interesse an Ihrem Wohlergehen. Es gibt genug Arbeiter, die Sie ersetzen können. Sie sind eine Ressource, kein Individuum in deren Augen."
„Also sollte man alles dafür tun, um unersetzlich zu werden und einen guten Job zu machen. Ich denke, man hätte sich an mich erinnert, als jemanden, der loyal geblieben ist. Das hätte mir Vorteile eingebracht", sagte Turner.
„Sehen Sie, der Junge denkt natürlich. Er hat seinen Vorteil erkannt und nutzt ihn, um weitere Vorteile für sich geltend zu machen. Man muss gegen den Strom schwimmen, wenn man etwas bewegen will", sagte Sam Meyer plötzlich anerkennend.
„So ganz unrecht hat er nicht", gab Caleb Bukowski zu, „Fleiß ist etwas, das niemanden schändet. Gier schon."
„Sie halten die verhungernden Kinder dort oben für gierig?", empörte sich Fenian, „Was sind denn dann die Geschäftsführer und Vorsitzenden und Gesellschafter dieser beschissenen Kohlegrube? Doch nicht etwa altruistisch?"
„Instrumentalisieren Sie nicht immer die Kinder. Deren Eltern handeln unverantwortlich! Sie können nicht erwarten, dass der Staat dafür aufkommt, wenn Eltern ihre Pflichten vernachlässigen. Nicht in einer Krise wie dieser hier!", sagte Bukowski.
„Das ist ihre Meinung?", rief Gene Waters angeekelt.
Und wieder die Frage nach der Schuld, dachte Fenian. Wer hat die Kinder auf dem Gewissen? Wirklich die Eltern, die es nicht einsahen, sich selbst zu zerfleischen oder doch eher die Garde, die brutal gegen Demonstranten vorging? Oder die Politiker, die die Nationalgarde einberufen hatte? Oder diejenigen, die diese Krise verursacht hatten? So viele Dinge geschahen, die niemand begreifen konnte und deren Zusammenhänge völlig schleierhaft blieben. Sie geschahen so schnell, unvorhergesehen und gleichzeitig, aber am Ende traf es immer die Schwächsten, die die Misere ausbaden mussten. Und dann musste man sich auch noch als „gierig" beschimpfen lassen, weil man das alles nicht mehr hinnehmen wollte...
Fenians Kopfschmerz weitete sich aus. Wenn es das Böse nicht gibt, fragte er sich, was bekämpfen wir? Die Dummheit oder den Zynismus?
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