Kapitel 8
„Es tut mir leid", sagte Fenian, „Das mit Ihrer Frau. Wie schwer krank ist sie denn? Wenn sie sich bei unseren Leuten meldet, wird ihr sicher geholfen werden, da müssen Sie sich keine Sorgen machen."
Es klang so falsch, aber irgendetwas musste er sagen. Natürlich machte Greg Winters sich Sorgen, er hatte sich die ganze Zeit um nichts anderes Sorgen gemacht als um seine Frau und seine Kinder und ein paar nette Worte konnten da weder trösten noch helfen. Trotzdem hatte Fenian das Gefühl, dass sie ausgesprochen werden mussten. Alles musste ausgesprochen werden, damit niemand sagen konnte, es wären nicht alle Möglichkeiten diskutiert worden. Nur, dass es hier keine Möglichkeiten gab und keine Diskussion, nur die Befriedigung eines schlechten Gewissens.
„Sie ist bettlägerig", sagte Winters unbeteiligt, „Sie braucht Medikamente, die wir uns nicht leisten können, aber gesund würde sie damit auch nicht mehr. Sie würde vielleicht etwas länger leben..."
„Und ihnen zur Last fallen", fiel Sam Meyer ihm ins Wort, „Denken Sie doch mal nach, Greg, der Tod würde sie erlösen und Sie hätten die Möglichkeit neu zu heiraten und ihre Kinder besser zu versorgen."
„Ich werde niemanden mehr heiraten, Sam, und das sage ich nicht nur, weil wir hier unten festsitzen."
„Seien Sie doch nicht so pessimistisch. Eine blinde Ex-Hure könnte Sie als gute Partie betrachten..."
„Halten Sie die Klappe!", fuhr Fenian den Gardisten an, „Wie alt sind denn Ihre Kinder?"
„William ist 22, Winifred wird demnächst 20, Getrud ist 16, Daniel zwölf und James ist letzte Woche neun geworden."
„Können die Älteren denn nicht die Pflege Ihrer Frau übernehmen?", fragte Caleb Bukowski.
„William könnte sie zu sich nehmen. Seine Frau könnte sich um sie kümmern. Aber dort wäre sie nicht sicher, verstehen Sie? Will befindet sich im Streik. Jeden Tag könnte er erschossen oder er und seine Familie aus ihrem Haus geworfen werden. Winifred wohnt zwar noch zu Hause, aber ihr Verlobter ist Gewerkschaftsmitglied. Ich weiß nicht, was aus ihr werden soll? Wo soll sie leben? Wie soll sie leben? Und was ist mit den Kleinen? Gertrud ist nicht einfach. Ständig läuft sie davon und wir müssen sie suchen. Ich weiß nicht, wo sie alle hin sollen. Nicht, weil ich hier unten sterben werde, sondern weil wir schon seit Monaten nicht wissen, wie es weiter gehen soll. Sehen Sie, Dan wird vermutlich diesen Sommer nicht überleben und mein Jüngster sieht nicht ein, wieso er die Schule besuchen soll, wenn sein Bruder zu Hause bleiben darf. Wir haben Probleme auf allen Ebenen und manchmal bleiben da essentielle Dinge auf der Strecke. Armut bedeutet nicht, dass man sich nicht seine Wünsche erfüllen kann, es bedeutet, nicht mehr schlafen zu können, weil man sich im freien Fall befindet, weil man nicht aufgefangen wird und ein Schicksalsschlag den nächsten bedingt. Arme Leute sterben nicht, weil sie es müssen, sie sterben, weil sie nicht anders können."
Fenian schwieg, denn er hatte das Gefühl, dass er nichts sagen konnte, um die Situation weniger schlimm erscheinen zu lassen. Und wenn er es gekonnt hätte, so wäre es Heuchelei gewesen, denn an dieser Situation gab es nichts zu verbessern. Wenn man den eigenen Tod als weniger schlimm als das Schicksal der Überlebenden betrachtete, lief etwas schief.
Genau damit hatte es angefangen, mit dem Eindruck, dass etwas schief lief. Anfang des Jahres wurden die Löhne der Minenarbeiter um 10% gekürzt. Weil alle wussten, dass die Wirtschaftskrise der Harlan County Coal Operators Association zu schaffen machte und sie bereits seit einiger Zeit ihre Kohle unter Kostendeckung verkaufte, wussten die Leute, dass dies wahrscheinlich nur der Anfang war. Wenn man diesen Einschnitt hinnahm, so würden sie andere Einschnitte versuchen, dachte man in der Arbeiterschaft und begann darüber nachzudenken, sich zu organisieren.
Fenian las davon nur in der Zeitung. Damals war er noch in Chicago gewesen und widmete sich ehr theoretischen Arbeitskämpfen als praktischen. Die Situation in Kentucky war damals dennoch nicht mehr als eine Randnotiz gewesen. Fenian glaubte zunächst, dass nicht viel dabei heraus kommen würde, am Ende gaben die Arbeiter immer klein bei. Am Ende sahen sie immer ein, dass es besser war einen schlecht bezahlten Job zu haben als gar keinen. Aber Fenian irrte sich.
Die Familien in Harlan County waren bereits so verarmt, dass sie weitere Einschränkungen nicht überlebt hätten. Es herrschte überall Hunger und Elend. Kinder verwahrlosten, wurden krank, konnten nicht behandelt werden und starben.
Als erste Gewerkschaft versuchten die United Mine Workers of America die Arbeiter zu organisieren und eine angemessene Bezahlung zu erwirken. Aber es zeigte sich, dass Bosse keineswegs an einer friedlichen Beilegung des Konflikts waren. Sie sprachen nicht nur nicht mit den Vertretern der Gewerkschaft, sie erachteten bereits den Beitritt zu einer derartigen Vereinigung als Insubordination und einen Kündigungsgrund. So wurden Arbeiter, bei denen bekannt wurde, dass sie sich einer der UMW angeschlossen hatten, umgehend gefeuert und aus ihren Häusern verjagt.
Aus ihren Häusern verjagt? Als Fenian davon hörte, wurde er stutzig. Wieso konnten die Bosse freie Bürger dieses Landes aus ihrem zu Hause vertreiben? Mit welchem Recht? Mit welcher Rechtfertigung?
Es stellte sich heraus, dass es in ganz Harlan County nur drei Ortschaften gab, die nicht vollständig den Bergbaugesellschaften gehörten. Ganze Städte waren für die Arbeiter gebaut worden, Straßen, Wohnhäuser, Schulen, Kirchen, Geschäfte, Kneipen. Was zunächst aussah wie eine nette, soziale Geste, erwies sich im Endeffekt jedoch als Druckmittel. Denn ein Arbeiter konnte sein Haus nicht einfach von der Gesellschaft abkaufen. Ihm gehörte das Land, auf dem er lebte, nicht. Die Waren, die er einkaufte, ließen das Geld, das er mit seiner Hände Arbeit verdiente, genau dorthin zurückfließen, wo es herkam. Fast ganz Harlan war ein geschlossener Wirtschaftskreislauf und diejenigen, die nichts besaßen, waren nur so lange geduldet, wie sie zu arbeiten bereit waren. Wer sich weigerte, bekam die ganze Gewalt der Eigentumsrechte zu spüren.
Als Fenian davon las, fühlte er sich in seiner Annahme bestätigt, dass Eigentum sich nahezu automatisch vermehrte, solange die Eigentumslosen keine Ansprüche stellten, die über ein knappes Auskommen hinausgingen. Es war nicht Interesse der Bosse, dass ihre Arbeiter sparten oder eigenen Besitz anhäuften. Sie waren darauf angewiesen, dass die Arbeiter auf sie angewiesen waren und darin lag die Macht einer Gewerkschaft.
Lohnarbeit unterschied sich nur in einem Punkt von Sklaverei: Der Möglichkeit, sich zu organisieren und als Kollektiv Forderungen zu stellen. Wenn es hieß „Arbeit oder Hunger", musste man sich eben eine eigene Alternative aufbauen und die Gesellschaften vor die Wahlstellen: „Gerechtigkeit oder Stillstand!"
Die Realität sah anders aus. Fenian las einen Bericht über die Stadt Evarts, in die zahlreiche vertriebene Gewerkschaftsmitglieder geflohen waren. Evarts war eine der drei eigenständigen Städte des Countys und die dort ansässigen Bürger zeigten Solidarität mit den Minenarbeitern.
Es war eine eigennützige Form der Solidarität, aber immerhin eine, die funktionierte.
Und dann begann der Streik. Und dann kamen die privaten Sicherheitsleute, die kurzerhand mit den vollen Rechten eines Deputy-Sheriffs ausgestattet wurden. Was folgte, war eine Eskalation, die der eines Bürgerkrieges nicht unähnlich war. Sheriff Blair stellte sich voll auf Seiten der Gesellschaften und ließ damit den größten Teil der Bevölkerung im Stich, die sein Vorgehen als nichts weniger als ein Terrorregime beschrieben.
Blair selbst sah jedoch die Gefahr woanders: Die Roten, sagte er, brächten das Chaos, würden die Leute aufwiegeln, seien Schuld an der Gewalt und den Unruhen, bei denen immer häufiger auch Schüsse fielen. Gardisten gegen Streikende, Streikende gegen Streikbrecher. Im Mai diesen Jahres starben vier Männer bei einem Schusswechseln in Evarts, daraufhin wurde die Nationalgarde einberufen und was zur Beruhigung der Lage beitragen sollte, führte zu mehr und größerer Gewalt.
Wer geglaubt hatte, die Nationalgarde sei hier, um die Bevölkerung, die Arbeiter – Streikende und Streikbrecher – zu schützen und für einen Dialog zu sorgen, der irrte. Die Gardisten ersetzten die Privatwächter nicht, sondern ergänzten sie. Mit Tränengas wurden Streikposten und Kundgebungen aufgelöst und Sheriff Blair schränkte eigenmächtig das Recht auf Versammlungsfreiheit für Gewerkschaftsmitglieder ein.
Die Maßnahmen waren erfolgreich. Die Gesellschaften machten kein einziges Zugeständnis und doch waren bis zum Frühsommer alle Gruben wieder in Betrieb. Die UMW hatte auf ganzer Linie versagt.
Und dann kam Fenian mit seinen Leuten...
Es lief gut in den ersten Wochen. Sie hatten Ideen, sie sahen das Glänzen in den Augen der desillusionierten Arbeiter, sie brachten Hoffnung und sie brachten Essen und eine Basis-Gesundheitsversorgung. Für ein paar Wochen konnten sie helfen, aber das County blieb eine Gefahrenzone und die NMW tat nichts, um die Situation zu entschärfen.
„Wir sind hier, um euch zu helfen", hatte Fenian gesagt, „Aber wir sind auch hier, um etwas zu verändern, damit ihr in Zukunft keine Hilfe mehr benötigt. Aber um das durchzusetzen, benötigen wir hier und heute eure Hilfe."
Der Erfolg blieb bescheiden. Viele Menschen hatten Angst, sich offen mit Kommunisten gemein zu machen, andere hatten Vorbehalte wegen der aufrührerischen Reden oder der Ablehnung mit den Kirchengemeinen zusammenzuarbeiten.
Da hieß es: „Ihr seid nicht von hier. Was wisst ihr schon von uns?"
Und es stimmte, dachte Fenian jetzt, sie wussten nicht viel von den Menschen hier. Sie sahen lediglich, dass sie litten, hungerten und bedroht wurden. Ihre Mentalität zu verstehen, machten sie sich keine Mühe. Ein Fehler, wusste Fenian nun. Bekannte oder befreundete Menschen, hätte er nicht in die Luft jagen können, aber weil sie ihm unbekannt blieben, weil er sie nur als eine Masse wahrnahm, fand er den Gedanken, dass ein paar wenige vielleicht für die größere Sache sterben könnten, nicht so schlimm.
Jetzt aber saß er hier, selbst jemand, der für die größere Sache sterben würde und bei ihm waren fünf Männer, die er immer besser kennen lernte und denen er inzwischen alles, nur nicht den Tod, wünschte – nicht einmal Sam Meyer.
Fenian musste ihm lassen, dass Meyer eine angenehm pragmatische Sicht auf die Situation hatte. Er redete nicht von Schicksal, Gott, Strafe oder Prüfung. Er sagte, was wirklich Sache war, auch wenn Fenian es nicht gefiel, wenn er hören musste, dass er allein die Verantwortung für all das trug. Immerhin ein Mensch. Immerhin etwas, das man erklären konnte, ohne an irgendetwas glauben zu müssen.
Meyers Zynismus war unerträglich, aber Gene Waters Güte schmerzte. Sie ließ Fenian sich erinnern, dass Moral existierte und dass er sich davon abgewandt hatte. Und das hatte er nie gewollt. Das hatte er auch nicht erwartet, als er sich der NMW anschloss. Er dachte, er sei automatisch im Recht, wenn er für die Schwachen und Armen kämpfte, ganz egal welche Mittel er anwendete. Er begann dies nun zu hinterfragen.
Weil ihn die Gedanken quälten, wünschte sich Fenian, wieder einschlafen zu können. Er schloss die Augen, aber in seinem Kopf hämmerte ein Dröhnen, befände sich in seinem Schädel ein Überdruck, der nicht entweichen konnte.
Catharina Jenkowic hatte seine Gedanken eingenommen und er fürchtete sich vor ihn, ohne sie zu kennen. Vielleicht gerade, weil er sie nicht kannte.
Das eigene Leben für jemand anderen aufzugeben, war das moralisch? Oder war es dumm? War es nützlich? War es erfüllend? War es gut? Bedeutete Selbstlosigkeit Selbstauflösung oder Anpassung?
Fünfzig Musiker, die ein Lied spielen, sind noch lange kein Orchester, dachte Fenian, es braucht jemanden, der sie zusammenhält und den Takt vorgibt. Ein Orchester funktioniert nur als Kollektiv ohne Individuen – wie ein Bienenschwarm. Aber War dieses große, wundervolle Amerika wirklich nichts weiter als ein gigantischer Bienenstock? Und wenn ja, wer schöpfte am Ende den Honig ab?
Fenian möchte überhaupt keine Orchestermusik, er mochte es nicht, wenn alle Menschen gleich gekleidet und gleich frisiert waren, sodass man sie nicht wieder erkannte. Er mochte es, wenn es schiefe Töne gab oder der Rhythmus ein wenig holperte. Er mochte es, wenn Amateure Instrumente spielten, weil ihm das bewies, dass es nicht schlimm war, nicht perfekt zu sein, wenn man nur Freude an dem hatte, was man tat.
Es war eine typisch irische Sache, die Hausmusik einem professionellen Konzert vorzuziehen und es war Fenians persönliche Sache, dass er Honig nicht mochte. Was aus dem Hinterleib eines Tier gequetscht wurde, fand Fenian, sollte man nicht essen.
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