Die Farben waren verschwunden, aber die Zunge war wieder da. Träume wirken manchmal realistischer als die Realität, dachte Fenian und die Wirklichkeit ist absurder als jede Religion.
Fast musste Fenian lachen, denn was sich nun einstellte, war etwas, das man normalerweise nicht mit der Erwartung des Todes in Zusammenhang brachte: Langeweile.
„Hat jemand ein Kartenspiel?", fragte Samuel Meyer, der nun weniger konfrontativ, aber nicht weniger zynisch auftrat.
Niemand hatte Karten.
Und so schwiegen sie wieder eine Weile, bis Fenian Gene Waters fragte: „Glauben Sie, es gibt Situationen, in denen man sein Leben für das eines anderen opfern kann?"
„Unser Herr hat es getan und damit die gesamte Menschheit erlöst?"
Fenian verdrehte die Augen: „Wovon erlöst? Und wie?"
„Vom Tode, indem er wieder auferstand", entgegnete Waters unbeirrt.
„Ich habe noch nie jemanden auferstehen sehen. Mir scheint, er hat sich, wenn überhaupt, selbst erlöst."
„Er hat dem Tod den Schrecken und damit seine Macht genommen."
„Hat sich dadurch aber wirklich etwas verändert, außer dass die Leute sich jetzt diese nette Geschichte erzählen, um nicht zu verzweifeln?", fragte Fenian.
„Finden Sie, dass das keine Veränderung ist?"
„Ich finde, das ist es nicht. Man hat Verzweiflung durch eine Lüge ersetzt. Es ist ein Rückschritt, keine Revolution."
„Revolutionen sind auch nicht gerade das, was unsere Herr anstoßen wollte", meinte Gene Waters.
„Das ist Ihre Deutung", sagte Fenian kühl und fügte hinzu, „Was ich aber mit meiner Frage eigentlich meinte, war: Ist es möglich, jemanden vor dem sicheren Tode zu bewahren, indem man sich selbst an seine Stelle begibt. Oder enden die meisten Rettungsversuche damit, dass beide sterben? Und wenn beide überleben, war die Rettung dann überhaupt eine Aufopferung? Und ist ein Retter ein Held, wenn er seine Tat überlebt?"
„Na, Sie stellen vielleicht fragen", kommentierte Caleb Bukowski.
„Merken Sie nicht, worauf er hinaus will?", mischte sich Sam Meyer ein.
„Worauf denn?", fragte Harry Turner.
„Er will sich Absolution verschaffen. Gewähren Sie sie ihm ruhig, Waters. Aus der Hölle kann uns niemand retten", sagte Meyer.
„Absolution", spie Fenian aus, „Das ist was für Leute, die das Gewicht ihres Gewissens nicht ertragen."
„Und Sie ertragen es?", fragte Meyer.
„Wir alle müssen es ertragen. Wir sind für unsere Taten verantwortlich."
„Dann haben Sie sich ja schon selbst Ihre Frage beantwortet: Ein Held ist derjenige, der so jung stirbt, dass er nie gesündigt hat", befand der Gardist.
„Sie können sich natürlich eine Situation konstruieren, in der Sie Ihr eigenes Leben gegen das eines anderen tauschen", sagte Caleb Bukowski, „Aber realistisch sind sie nicht. Um Absolution indes sollten Sie an einer anderen Stelle bitten, Mister McKenna. Von uns kann Ihnen die niemand erteilen."
„Das erwarte ich auch nicht", log Fenian. Er hatte sich gewünscht aus jemandes Mund zu hören, dass ihm vergeben sei, dass man seine versuchte Heldentat anerkannte, aber anscheinend wog sein versuchter Mord schwerer.
„Haben Sie Ehrfurcht vor dem Tod?", fragte Fenian in die Runde.
„Was meinen Sie mit Ehrfurcht?", fragte Harry Turner und so langsam gewann Fenian den Eindruck, dass der Junge ein ziemlicher Schwachkopf war.
„Ich meine, ob sie den Tod...", Fenian druckste herum, weil ihm tatsächlich nicht einfiel, wie er es formulieren sollte, „als etwas Großes, Bedeutendes, Wichtiges, Geheimnisvolles, Heiliges betrachten?"
„Was ist schon heilig?", fragte Greg Winters in seiner Ecke. Der Mann redete wenig, aber anscheinend hörte er aufmerksam zu. Fenian war sich nicht sicher, ob er alles verstand, denn er wirkte immer ein wenig wie im Halbschlaf.
„Das Leben vielleicht?", schlug Fenian vor.
„Die Güte, der Frieden, die Gerechtigkeit, die Aufrichtigkeit, die Liebe...", sagte Gene Waters.
„Die Freiheit", sagte Harry Turner.
„Die Familie", fand Caleb Bukowski, „Was sagen Sie, Meyer?"
„Nichts ist heilig, wenn alles verloren ist."
„Ist denn alles verloren?", fragte Winters, „Für Sie, meine ich. Was hatten Sie zu verlieren?"
„Mein Leben? Meine Freiheit?", giftete Meyer zurück.
„Und das ist mehr wert, als das, was wir anderen zurücklassen?"
„In meinen Augen ja. Aber Sie mögen das anders sehen, das weiß ich."
„Halten Sie Ihr Leben also für heiliger als Gregs?", fragte Gene Waters.
„Halten Sie ihr Leben denn für weniger wert als das eines anderen?", fragte Meyer zurück.
„Welchen Wert kann ein Leben überhaupt haben?", gab Fenian zu bedenken, „Wenn es heilig ist – und damit meine ich nicht gesegnet oder so, sondern in einem Maße wertvoll, dass man den Wert nicht messen kann – dann kann man nichts dagegen aufwiegen. Kein anderes Leben und..."
„Und zwei andere Leben?", wollte Meyer wissen.
„Derjenige, der sein Leben für das von anderen gibt... ist derjenige nicht besonders geheiligt?", fragte Harry Turner, „Ein Held, meine ich, ist sein Leben nicht vorbildhafter als das eines Schurken?"
„Messen wir den Wert am Vorbildcharakter?", fragte Fenian.
„Wieso nicht?", meinte Gene Waters.
„Weil es schlechte Vorbilder gibt, die uns als gute verkauft werden", sagte Fenian, „Was, wenn man sich irrt und wir alle nur die Fehler unserer Vorfahren wiederholen?"
„Und was, wenn es keine Fehler gibt, nur Entscheidungen?", fragte Sam Meyer.
„Demnach gäbe es keine Schuld", das Grinsen auf Fenians Gesicht war breiter, als es angemessen war.
„Mord ist keine Ansichtssache", meine Meyer.
„Finden Sie nicht?", fragte Greg Winters, „Was, wenn ich Sie töte, um meine Familie zu retten?"
„Ich bedrohe Ihre Familie nicht, also müssen Sie sie nicht vor mir retten. Es wäre also ein Mord, wenn sie mich töteten und keine Notwehr."
„Das sehe ich anders", knurrte Winters.
„Hat er Ihre Familie bedroht?", fragte Fenian, um Verständnis bemüht.
„Ach, er ist paranoid", Meyer machte eine wegwischende Handbewegung, „Er glaubt, ich stünde nachts vor seinem Haus und ziele mit dem Gewehr auf sein Schlafzimmerfenster."
„Es wäre nicht das erste Mal, dass so etwas hier vorkommt", sagte Fenian.
„Ach, Mister McKenna, Sie konzentrieren sich so sehr auf die Anliegen dieser Rebellen, dass sie uns andere ganz aus dem Blick verlieren. Ich machen Ihnen da keinen Vorwurf. Sie müssen Ihre Leute vertreten, aber wir anderen haben niemanden, der für uns spricht."
„Was meinen Sie denn damit, Mister Winters, wer sind denn „die anderen", Ihrer Meinung nach? Ich bin mir sicher, dass wir auch für Sie kämpfen...", sagte Fenian, aber es klang wie von einem Tonbandgerät abgespult, unehrlich und auswendig gelernt, nicht gültig hier unten.
„Wissen Sie, bevor Sie und Mister Meyer kamen, gab es hier unten auch Sicherheitspersonal, aber in Anbetracht der aktuellen Entwicklung halten die Bosse die althergebrachten Wachdienste nicht mehr für kompetent genug, um für Sicherheit zu sogen und so übernehmen nach und nach diese bewaffneten Hampelmänner in ihren Uniformen Jobs, die zuvor von Leuten aus der Bevölkerung hier ausgeübt wurden. Sehen Sie, ich kenne einen Haufen Arbeiter, die da draußen streiken. Ich kann mich mit ihnen unterhalten und keiner tut mir was, obwohl ich für die andere Seite arbeite. Sie wissen, dass ich eigentlich einer von ihnen bin."
„Ja, und genau das ist das Problem!", sagte Meyer, „Man kann sich nicht auf Sie verlassen. Sie fraternisieren mit dem Feind!"
„Dieser Feind ist das Rückgrat dieser Region und dieser Nation!", sagte Winters, „Und jetzt kommen Sie hier her und sagen mir, dass es nicht so ist, dass ich nicht hart genug arbeite und selbst daran schuld bin, dass meine Frau krank ist und meine Kinder im Dreck leben! Sie erklären mir, dass das Rückgrat der Gesellschaft nicht der Arbeiter sondern der bewaffnete Hampelmann ist, der die Armen vertreibt, vor sich her treibt, damit sie sich bloß nirgendwo niederlassen, und mit ihrer puren Anwesenheit das Prestige dieses Landes in den Schmutz ziehen. Armut soll nicht beendet werden, es reicht, wenn sie nicht mehr gesehen wird. Das ist es doch. Wir sind Ihnen peinlich! Ihnen, den Jungs in Washington und denen in den Vorstandsetagen. Sie sähen uns gerne tot, denn es ist besser, die Menschen sind tot als unnütz, nicht wahr? Aber Mord ist es ja immer nur dann, wenn einer von Ihnen draufgeht..."
„Sie sind es, die diesen Krieg begonnen haben", sagte Meyer.
„Das sehe ich anders", sagte Fenian, „Es ist nicht immer derjenige, der als erstes zu den Waffen greift, der zum Aggressor wird. Eine Waffe kann auch der Verteidigung dienen und diese Menschen dort oben, verteidigen ihr Leben und ihre Freiheit."
„Ihr Recht auf Faulheit, das es nicht gibt", sagte Meyer.
„Ja, ihr Recht auf ein würdevolles, angemessenes Leben, das auch Freizeit beinhaltet."
Sam Meyer lachte in sich hinein: „Freizeit haben sie doch jetzt. Warum verbringen sie sie damit, mit Gewehren an Bahngleisen zu patrouillieren?"
„Sie sind also Wachmann?", fragte Fenian Greg Winters, ohne auf den Gardisten einzugehen, der ihm langsam auf die Nerven ging.
„Noch", sagte Winters, „Ich glaube, ich bin der letzte. Die meisten anderen haben entweder ihren Job verloren oder sind aus Solidarität mit in den Streik getreten."
„Warum streiken Sie nicht, wenn sie doch finden, dass der Streik gerechtfertigt ist?", fragte Fenian.
„Das habe ich doch gesagt: Meine Frau ist krank und ich kann es mir nicht leisten, aus meinem Haus geworfen zu werden. Das würde Gloria nicht überleben."
„Er nennt es arbeiten, aber er weigert sich, eine Waffe in die Hand zu nehmen", kommentierte Sam Meyer.
„Ich schieße nicht auf Nachbarn und Kollegen. Sie schießen auch nicht auf mich."
„Aber es ist Ihr Job."
„Ich werden nicht fürs Morden bezahlt wie Sie!", schnappte Winters.
„Wofür dann? Fürs Saufen ja wohl auch nicht. Sehen Sie es ein, man braucht Sie hier nicht. Sie sind hinderlich. Mit Ihren Methoden werden wir das Chaos nur vergrößern und keine Ordnung mehr herstellen. Man kann mit diesen Leuten nicht reden, man muss sie zurechtweisen."
„Mit der Flinte?"
„Ja, mit der Flinte, Greg!", sagte der Gardist.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top