Kapitel 20
„Aber wir arbeiten doch zusammen", meinte Sam Meyer, „Es führt nur nirgendwo hin. Wir sitzen fest. Wir hier. Die da draußen. Sie überlassen den Klugen die Wahl des Weges, aber die Dummen wählen das Ziel. So scheitert die Zivilisation."
„Sie wollen also einen starken Anführer?", fragte Fenian, „Sehen Sie sich in Europa um. Gehen Sie dort hin, wenn sie ein Problem mit der Freiheit haben, so wie unsere Verfassung sie versteht!"
„Natürlich misstrauen Sie Eliten grundsätzlich, Mister Mac", stellte Meyer fest, „Etwas anderes habe ich von Ihnen auch nicht erwartet, so ganz dumm sind Sie ja nicht. Sie misstrauen nur den Richtigen und rennen den Falschen hinterher."
„Das Leben hat kein Ziel, Mister Meyer", sagte Fenian so ruhig wie möglich, „Der Weg ist alles, was existiert und die Wahl der Richtung muss der ganzen Gesellschaft überlassen werden. Wer ist schon klug? Diejenigen, die das selbst von sich behaupten?"
„Diejenigen, die qualifiziert sind, eine Entscheidung zu treffen", sagte Meyer.
Es war jetzt stockdunkel und Fenian überlegte ganz kurz, dass er ihm nur an den Hals herumdrehen müsste, um für den Rest seines kurzen Lebens Ruhe zu haben, aber er hielt sich zurück.
„Sehen Sie, Sie sind nicht qualifiziert. Niemand hier ist es. Mister Bukowski vielleicht. Er ist der Vorarbeiter. Aber sonst... Eine Aktion scheitert immer dann, wenn einer in der Befehlskette zaudert. Erledigen Sie Ihre Arbeit selbst und reichen Sie sie nicht weiter."
„Falsche Entscheidungen können viel fatalere Folgen haben als keine Entscheidung", erwiderte Fenian und um seinen Punkt zu illustrieren fügte er hinzu: „Sagt der Mann, der eine Bombe in einer Kohlemine hochgehen ließ. Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung, eine Entscheidung, es geschehen zu lassen. So wie Sie es immer befürworten. Der Natur ihren Lauf lassen. Was Erfolg wirklich verhindert, sind Fehler, Mister Meyer. Banale und menschliche Fehler! Sie reden von Freiheit und befürworten den Zwang zu leben und den Zwang zu sterben. Daraus leiten Sie Ihre Moral ab. Aber es gibt keine Moral und kein unveränderliches Schicksal. Auch sind Entscheidungen nie vollkommen richtig oder vollkommen falsch. Konsequenzen sind nicht immer zu berechnen. Das Senken der Löhne rettet vielleicht das Unternehmen, aber das Aufstand der Arbeiter zerstört den Betrieb. Wer trägt nun die Schuld? Welche Entscheidung ist qualifiziert und welche Seite ist gut?"
„Gut, Mister Mac? Sie reden von Güte? Keine Seite ist gut. Aber eine Seite wird gewinnen und ist stehe immer gerne auf der Seite der Sieger. Das ist meine Moral. Sieh, dass du auf der Seite der Sieger stehst! Geld machte den Menschen nicht gut. Erfolg macht ihn nicht glücklich. Beides ist eine Bürde und wer reich und erfolgreich sein will, der muss sie mit Würde tragen."
„Mir kommen die Tränen", sagte Fenian, „Geld, Mister Meyer, ist ein Götze und es wird verehrt wie ein goldenes Kalb. Man verwendet es als Gratmesser für den Wert und die Tüchtigkeit einer Person und wertet damit andere Eigenschaften wie Liebenswürdigkeit, Freundlichkeit, Bescheidenheit und Selbstlosigkeit ab. Geld ist ein Druckmittel und ein Lockstoff. Gier ist soziales Gift wie Neid und Eifersucht. Armut hingegen ist eine echte Bürde, nicht Reichtum, wenn – wie Sie es verlangen – keine Verantwortung und keine Pflichten daran geknüpft sind!"
„Halten Sie endlich die Klappe!", beschwerte sich Harry Turner, „Das ist ja nicht zum Aushalten! Sie sind beide so schrecklich verbohrt!"
„Gönnen Sie uns eine Pause", stimmte Gene Waters zu, „Wir sind alle müde, hungrig und durstig. Ich glaube, wir alle können ein wenig Ruhe gebrauchen. Ich schätze es ist längst Nacht da draußen."
„Ich bin nicht müde", behauptete Fenian, aber es war eine Lüge und er spürte, dass sich niemand mehr für seinen Vortrag interessierte.
Also setzte er sich so bequem wie möglich auf den steinigen Boden und starrte in die Schwärze, die ihn umgab. Er hörte die anderen schwer atmen. Er hörte sich selbst atmen. Und sein Herz schlug. Das war es, dachte er, meine letzten Worte vielleicht und ich bin allen damit auf die Nerven gegangen. Es machte ihn traurig und ärgerte ihn weniger, als er es sich vorgestellt hatte. Was nutzte es denn auch noch?
Nach einer Weile döste er ein und er dachte erneut an Gwen. Ihr Vater würde erfreut sein. Er stellte ihn sich wieder beim Frühstück mit der Zeitung vor, die von diesem Vorfall in Harlan berichtete und die Namen der identifizierten Leichen aufführte. Er hatte immer eine Zeitung bei sich. Fenian konnte ihn sich gar nicht ohne Zeitung vorstellen. Er liest zu viel Zeitung, fand Gwen und sie sagte es scherzhaft, wenn er ihre Rauchgewohnheiten kritisierte.
Nie wieder Scherze, dachte Fenian und seufzte. Das Leben war ernst geworden. Konnte man es dann überhaupt noch „Leben" nennen?
„Hören Sie auf zu flennen!", sagte jemand, aber er meinte nicht Fenian, denn er weinte nicht.
Es war die Stimme von Caleb Bukowski gewesen und er hatte offensichtlich Harry Turner gemeint, der schniefte und meinte: „Es ist nur, weil es so unfair ist."
„Was?"
„Dass ausgerechnet wir sterben müssen. Wir haben doch alles richtig gemacht, uns immer an alle Regeln gehalten. Mister Jenkowic sagte mir einmal, dass er mich für einen Feigling hält, weil ich nicht streike. Dabei bin ich es, der für seine Entscheidung zum Tode verurteilt ist."
„Es ist nicht recht, sich einen anderen an seiner Stelle zu wünschen, wenn man in einer ausweglosen Situation ist", sagte Gene Waters.
„Es ist nicht recht lebendig begraben zu werden, obwohl man nichts getan hat!"
„Es tut mir leid", flüsterte Fenian noch einmal, aber das machte es natürlich nur noch schlimmer.
Harry Turner begann wieder zu weinen: „Catharinas Vater ist solidarisch mit der Gewerkschaft, weil er die Läden der Kohlegesellschaften aus dem County weg haben will, die für ihn eine Konkurrenz sind. Ihm gefiel es nie, dass ich kein Mitglied bin. Immerzu musste ich mich rechtfertigen, musste Catharina mit Geschenken überzeugen, bei mir zu bleiben. Ständig sah man mich abschätzig an, wenn ich durch die Straßen ging. Ich wurde bedroht. Evarts Straßen sind ein Spießroutenlauf für mich. Alle wussten es, aber ich hab mich nicht unterkriegen lassen, wissen Sie. Ich dachte, meine Entscheidung ist richtig, aus mir kann was werden, ich bin fleißig und folgsam. Ich bin jung und kann aufsteigen. Ich dachte, es gäbe eine Gerechtigkeit. Nichts gibt es. Nur Gewalt. Man ist immer bloß Opfer. Sie diskutieren hier für nichts und um nichts. Wer hört Ihnen zu? Wem bedeutet es etwas? Wen wollen Sie überzeugen? Mich? Lassen Sie mich in Ruhe!"
„Ich bin sicher, Ihre Catharina wird Sie sehr betrauern und Ihr Vater wird einsehen, was für ein passabler Kerl Sie gewesen sind", sagte Bukowski, aber das war natürlich nur ein schwacher Trost.
Fenian ertrug es nicht. Er presste sich die Hände auf die Ohren, sodass es Turners Weinen nicht mehr hören musste. Er hörte nichts mehr, nur das Rauschen der Blutzirkulation in seinen Händen vielleicht. So saß er da wie erstarrt, unbequem, verkrampft. Er wollte so sterben, gleich hier und jetzt. Dann wäre es vorbei.
Es dauerte eine Weile. Vielleicht Stunden, vielleicht einen ganzen Tag. Fenian glaubte, zu Stein verhärtet zu sein, als jemand ihn am Ärmel zog.
„Wachen Sie auf, Mister McKenna!"
Die Hand, die nach ihm gegriffen hatte, schüttelte ihn und er kehrte zurück aus der Leere in die Hölle.
„Wachen Sie auf! Hören Sie das nicht?"
„Nein", sagte Fenian, „Was?"
„Auf der anderen Seite graben Sie nach uns!"
„Sind Sie sicher?", fragte Fenian. Er wusste immer noch nicht, mit wem er sprach. Der dünnen Stimme nach zu urteilen war es Gene Waters.
„Ja, sie rufen nach uns!"
„Rufen Sie zurück!", sagte Fenian, plötzlich wieder Lebensgeister in sie spürend.
„Bukowski hat schon geantwortet."
„Und?"
„Sie holen uns raus!"
„Sind Sie sicher?", fragte Fenian. Er spürte, wie ein wenig Kohlestaub von der Decke auf ihn herab rieselte.
„Schnappen Sie sich eine Hacke und helfen Sie!", rief Bukowski ihnen zu, „Wir graben ihnen entgegen!"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top