Kapitel 19
„Das sind Sprüche", sagte Meyer, „Durchhalteparolen. Meistens hört man sie von Verlierern. Ich kenne Sie alle. Staat ist Verrat – Hoch das Syndikat! Gegen Ausbeutung und Spaltung – Kollektive Selbstverwaltung... Wie wollen Sie das anstellen? Und dann diese Pseudo-Sinnsprüche: Nicht aus dem Volk aufsteigen, sondern mit ihm... Das bringt doch alles nichts. Das ist Gerede. Ihrer Revolution gleicht einem Debattierclub und Sie schläfern die Leute ein damit, bis sie nur noch davon träumen, ihr Leben lang in der Hängematte liegen zu können. Bei vollem Lohnausgleich natürlich..."
„Haben Sie eine bessere Methode, die nicht direkt in einen Bürgerkrieg führt?", mischte sich Fenian ein.
„Als hätten Sie so etwas, wie ein Gewissen."
„Glauben Sie, ich falle auf dümmliche Sprüche herein?", fragte Greg Winters, „Halten Sie mich für einen Roten? Dann muss ich Sie enttäuschen. Ich kann Sie und Ihresgleichen auch ohne Ideologie verabscheuen. Und Sie, Mister McKenna, sollten sich nicht so viel einbilden. Sie nehmen sich zu wichtig, das ist Ihr Problem. Wenn Sie nicht so enden wollen, wie der da, dann besinnen Sie sich auf Ihre eigenen Angelegenheiten und nicht versuchen Sie nicht, sich in die anderer Leute einzumischen. Denn Sie sind keineswegs so selbstlos, wie Sie tun. Wahrscheinlich merken Sie das gar nicht. Und bevor Sie jetzt wieder anfangen, mir etwas vorzuheucheln, Mister Waters: Nein, ich habe noch genug Selbstachtung, um mich nicht bei Ihrem Verein anzubiedern. Hören Sie auf, anderen Leuten erklären zu wollen, was sie Ihrer Meinung nach brauchen oder tun müssen!"
„Äh... ich glaube nicht, dass wir noch eine Wahl haben, wie wir enden wollen", sagte Sam Meyer, „Dieses kleine Streitgespräch hat uns vielleicht die Zeit vertrieben, aber es hat uns nicht gerettet. Weder Ihr Gott, Mister Waters, noch Ihr Klassenbewusstsein, Mister McKenna haben uns gerettet."
„Ihre Lehre von der Freiheit und der Vernunft aber ebenfalls nicht", sagte Fenian, „Am weitesten ist noch Mister Turner mit seiner Spitzhacke gekommen."
„Er hätte beinahe den ganzen Tunnel zum Einsturz gebracht", erinnerte sich Caleb Bukowski.
„Dann hätten wir es jetzt schon hinter uns", sagte Meyer.
„Eine Schande, dass wir immer noch mit solchen Hacken unter der Erde malochen müssen", fand Harry Turner, der sich im schwächer werdenden Licht sein Arbeitsgerät betrachtete, „Wenn Mister McKenna mit einer Sache Recht hat, dann damit, dass die Arbeit hier verdammt gefährlich ist und verdammt hart. Wenn es wenigstens motorisierte Hacken gäbe... Es würde uns die Arbeit erleichtern."
„Motorisierte Hacken?", fragte Fenian, der sich so etwas nicht vorstellen konnte.
„Oder Fräsen, oder Schaufeln", ergänze Turner, „Darin sollte investiert werden."
„Damit du deinen Job verlierst, Kleiner?", fragte Greg Winters.
„Innovation ist die Grundlage für Wohlstand und wer, wenn nicht Unternehmen forschen in diese Richtung?", fragte Sam Meyer, „Er hat schon Recht. Um effektiver produzieren zu können, werden Veränderungen nötig sein."
„Effektiver zu produzieren bedeutet billiger zu produzieren", erinnerte Fenian, „Und billiger zu produzieren, bedeutetet weniger Leute beschäftigen zu müssen und weniger Leute zu beschäftigen bedeutet, mehr Arbeitslose, die sich Ihre Brennkohle im Winter nicht werden leisten können. Wer Innovationen nur für den eigenen Vorteil etabliert, der schließt die Gesellschaft vom Fortschritt aus. Maschinen ersetzen Arbeiter, aber deren Einkommensverluste ersetzt niemand und am Ende profitieren nur die ohnehin reichen von Innovation und Fortschritt."
„Sie verdrehen mal wieder völlig die Wahrheit", fand Sam Meyer, „Sie verdammen den Schaffenden dafür, dass er etwas erschafft und sie preisen den Plünderer, der den Schaffenden hemmt oder zerstört, was uns allen zu Gute kommen könnte."
„Sie nennen sie „Schaffende", ich nenne sie „Ausbeuter"", sagte Fenian, „Sie nennen sie „Plünderer", ich nenne sie „Rückeroberer"."
„Sie beschönigen Ihre Definitionen. Das ist unlauter", sagte Meyer.
„Sie gehen mir auf die Nerven!", rief Harry Turner plötzlich dazwischen, „Alle beide!"
„Danke, Junge. Du sprichst uns allen aus dem Herzen, glaube ich", sagte Greg Winters.
Sowohl Sam Meyer als auch Fenian warfen ihm einen finsteren Blick zu. Sie wollten es ausfechten. Deshalb sagte Fenian so schnell, dass sich seine Stimme fast überschlug: „In Ihrer Theorie hängt alles nur vom Geld ab. Sie beten es an wie einen Gott. Sie unterwerfen sich dem Markt und wer in Ihrer Welt selbstbewusst und ehrlich ist, der kommt damit nur über die Runden, wenn er entsprechendes Kapital besitzt. Ein armer, selbstbewusster und ehrlicher Mann, verelendet, weil Leute wie Sie Selbstbewusstsein und Ehrlichkeit in Wirklichkeit nicht schätzen. Denn sie nutzen nichts. Es nutzt nur Geld. Schau mich an, ich bin ehrlich und frei, ich bin geboren um unterzugehen!"
„Und Sie werfen mit nichtssagenden Vergleichen um sich. Worte werden nichts verändern, Mister Mac."
„Wissen Sie, was mir an Ihnen so unheimlich auf die Nerven geht? Ihnen ist einfach alles egal. Es ist Ihnen egal, ob andere Ihnen Recht geben, denn Sie blicken ohnehin nur auf sie herab, weil Sie wissen, dass sie gegen Sie nie etwas ausrichten werden können, denn Sie haben die Flinte. Sie geben Sie keine Mühe, andere zu überzeugen, weil Sie das gar nicht müssen, denn die Leute, die Geld haben und entscheiden können, sind bereits Ihrer Meinung. Sie halten nicht viel von Demokratie, weil da auch die Ungebildeten wählen dürfen – vorausgesetzt sie haben die richtige Hautfarbe. Sie halten nicht viel von Gewerkschaften, weil die den Armen eine Stimme geben und Armut halten Sie für ein Fortschrittshemmnis. Am liebsten würden Sie alle diese Leute beseitigen. Ich nehme an, Sie sind ein Freund der Eugenik, Mister Meyer? Ich nehme an, Sie halten den Tod für ein willkommene Maßnahme der Natur, Schwäche auszumerzen, und Sie wollen sich der Natur nicht in den Weg stellen, indem Sie Medizin bereitstellen, um vermeintlich hoffnungslosen Fällen zu helfen? Ich nehme auch an, Sie würden Ihre Mutter einfach so verhungern lassen, wenn sie alt und krank und gebrechlich und allein auf ihrer vermaledeiten Farm ist? Das ist Ihnen alles egal, denn Ihnen wurde die Seele ausgesaugt. Sie sind kein Mensch mehr und das finden Sie gut, denn ein Mensch ist fehlerhaft. Sie aber wachsen darüber hinaus, über die Menschen und die Gesellschaft, auf die sie herabblicken. Kritik berührt Sie nicht. Die reicht nicht an Sie heran. Sie verlangen Hingabe und Aufopferung von anderen und klassieren das als freiwillige Selbsthilfe. Sie selbst aber treiben andere zur Arbeit. Finden Sie das nicht bigott? Finden Sie es nicht heuchlerisch, von Freiheit zu reden und sich die Sklaverei zurückzuwünschen? Finden Sie es nicht doppelmoralisch, von Vernunft und Verstand zu sprechen, dann aber nichts weiter zu tun, als vor Sarkasmus triefende Kommentare abzugeben? Sie wollen sich für Fakten interessieren? Machen Sie die Augen auf, dann sehen Sie, wohin uns Ihre Denkweise geführt hat! Alles ist gut, wenn sich niemand beschwert? Ist das einer Ihrer Fakten? Sie sonnen sich in Ihrer vermeintlichen Unschuld. Oh, Sie haben sich gehörig den Schädel verbrannt! Ihre Thesen sind Thesen oder bestenfalls Metaphern. Sie haben keine nicht zu widerlegenden Argumente, aber das ist Ihnen egal, denn Sie haben ja per definitionem Recht."
Fenian atmete aus und sog erneut von der warmen, modrigen Luft ein. Er beruhigte sich nicht. Wer ließ sich nicht von so einem Idioten vorführen, der vielleicht ruhig und besonnen daherreden konnte, der ihn nicht explizit, aber doch impliziert, fortwährend beleidigte, in Wirklichkeit aber nichts zu sagen hatte, das nicht im Kern offenbarte, das er kaltblütig und realitätsblind war. Fenian war nicht so. Es regte ihn auf, dass Meyer Parallelen zwischen ihnen beiden ausgemacht haben wollte und dass Greg Winters das bestätigte. Es regte ihn auf und das allein machte den Unterschied.
„Sie sagen, Eigennutz sei der Motor der Welt", redete Fenian weiter, „und das Ende der Eigennützigkeit sei das Ende der Zivilisation. Ein Argument dafür bringen Sie nicht. Sie reden in Schlagworten, nicht ich. Die Zivilisation erwächst aus der Gesellschaft und eine Gesellschaft gibt es nur, wenn es eine Solidarität zwischen den Individuen gibt. Eigennutz bedeutet Isolation, die sich vielleicht Ihre Freunde in den Chefetagen leisten können. Die Menschen in den Arbeitersiedlungen aber nicht. Das Ende der Solidarität ist der Anfang der Barbarei, Mister Meyer und Sie sind hier, weil es schon begonnen hat. Dummerweise kämpft die Nationalgarde auf der falschen Seite und wird den Kampf zur Eskalation bringen. Sie werden den Aufstand vielleicht niederschlagen, aber damit lösen Sie nicht den Konflikt. Sie faseln etwas von Moral, aber auch das ist nur eine These. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft halten Sie für verbrecherisch, dabei führen Sie hier selbst einen staatlichen Auftrag durch, indem Sie irgendeine scheinbar gottgegebene Ordnung wiederherzustellen versuchen. Wie wollen Sie Revolutionen aufhalten, wenn der Staat keine Gewalt ausüben darf? Der Staat mag unnatürlich sein. Aber die Revolution ist es nicht. Ihre Vorstellung von Freiheit ist es ebenfalls nicht, aber sie ist instabil. Der Mensch steht ihr im Weg und das ist gut so!"
„Nun ist es aber gut, Mister Mac", sagte Sam Meyer und Fenian musste an sich halten ihm keine reinzuhauen. Die ruhige, fast schon amüsierte Stimme des Gardisten brachte ihn nur noch mehr zur Weißglut.
„Es ist nichts gut!", Fenian standen die Tränen in den Augen, aber das konnte niemand sehen, denn die Lampen waren dabei, den Geist aufzugeben."
„Die Versorgung der Menschen ist so schlecht, weil alle sich auf staatliche Organisation verlassen", behauptete Meyer.
Fenian verdrehte die Augen: „Staatliche Organisation würde Vermögen umverteilen. Da das nicht passiert, gibt es auch keine Versorgung. Sie können nicht verdammen, dass etwas nicht funktioniert, wenn es gar nicht da ist! Ich für meinen Teil hätte kein Problem damit, die Versorgung einiger weniger, die ohnehin gut versorgt sind, zu beschneiden, um viele, die schlecht versorgt sind, besser zu versorgen!"
„Das können Sie nicht mal bezahlen, wenn Sie alle Unternehmer enteignen. Und selbst wenn Sie es tun, wie soll es dann mittel- und langfristig weitergehen?", fragte Meyer, „Selbstlosigkeit ist die Ursache für das Elend in all Ihren geliebten sozialistischen Ländern."
„Achso?", rief Fenian, „Nicht etwa die Misswirtschaft, die dazu geführt hat, dass es zu einer sozialistischen Revolution gekommen ist? Auch nicht der Verfall der gesamten Weltwirtschaft, den wir gerade erleben? Was reden Sie nur? Was wir gerade erleben, ist der Verfall des Kapitalismus und die Ursache dafür ist der Eigennutzen, dem alle so ergeben sind."
„Und Sie wollen alles umsonst. Es gibt keine Welt ohne Geld. Schaffen Sie das Geld ab und die Leute treiben Tauschhandel oder zahlen mit Zigaretten. Die können den Handel nicht verbieten. Alles ist käuflich. Alles ist eine Ware. Auch Ideen, Erfolg, Liebe... Wir sind nicht mehr als unser Körper, unser Geist und unsere Leistungen."
„Das Selbst ist mehr als die Summe seiner Teile", sagte Fenian, „So wie die Gesellschaft mehr ist als eine Gruppe von Egoisten. Und Erfolg ist mehr als der Profit, den ein Psychopath einheimst, indem er andere Menschen körperlich und emotional ausbeutet. Sie mögen es vielleicht für unredlich halten, ein schlechtes Gewissen oder Schuld zu empfinden, wenn man egoistisch empfindet und handelt. Lieber reden Sie denen ein schlechtes Gewissen ein, die sich gegen diese Ausbeutung wehren."
„Spötter wie Sie sind die wahren Ausbeuter", behauptete Meyer lapidar, „Sie nutzen den Erfolg eines Menschen, um die Misserfolge anderer auszumerzen. Das halte ich für unredlich."
„Sie nennen mich einen Spötter? Ausgerechnet Sie?", rief Fenian, aber er wurde von Greg Winters unterbrochen, der es nicht mehr aushielt.
Er sagte: „Sie haben beide ein limitiertes Menschenbild. Mister McKenna glaubt, alle Unternehmer sind unfähig und unfair. Mister Meyer glaubt das gleiche von den Arbeitern."
„Die Tragik ist, dass die fähigen Unternehmer so einen schlechten Ruf haben. Sie gewährleisten den Fortschritt, aber die Unfähigen kontrollieren die Moral, weshalb ich das, was heute als solche bezeichnet wird als vollkommener Schwachsinn bezeichnen muss."
„Ein limitiertes Weltbild geht damit einher", fuhr Winters fort, „Es gibt sowohl unter den Arbeitern als auch unter den Unternehmern Fähige und Unfähige, Faire und Unfaire, Moralische und Unmoralische."
„Nur dass die unfähigen Unternehmer schnell weg vom Fenster sind, während die unfähigen Arbeiter dort oben durch die Straßen streifen und zerstören, was sie nicht schon haben herunter kommen lassen", sagte Meyer.
Fenian platzte fast vor Wut, aber Greg Winters war an der Reihe und er sagte: „Erfolg basiert nicht nur auf persönlichen Fähigkeiten, sondern auch auf den Umständen und dem Einsatz von Mitarbeitern und Kollegen. Es kann nicht sein, dass ein Unternehmer allein als erfolgreich dasteht, wenn seine Arbeiter für ihn den Betrieb am Laufen halten, Mister Meyer. Geht das in Ihren Kopf nicht hinein? Es geht immer nur um Zusammenarbeit und nicht um ein Gegeneinander, wie Sie es hier beide herbeireden."
Fenian atmete die Luft, die er für eine Antwort eingeatmet hatte, wieder aus.
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