Kapitel 18

„Und Ihr idealer Mensch, Mister Mac, wie sieht der aus? Ist es der Faulpelz mit dem Feuerzeug oder was?"

„Es gibt keinen idealen Menschen, Mister Meyer, es gibt nur Menschen. Passen Sie sich an die Realität an, das haben Sie mir doch angeraten. Die Realität zeigt, dass Menschen, wenn sie unzufrieden sind, es nicht hinnehmen, dass sie im Stich gelassen und ungerecht behandelt werden. Sie haben Recht, Mister Meyer, jeder will überleben. Aber sehen Sie sich doch mal auf den Straßen um. Ist da noch Leben? Sie, ja Sie persönlich, verbreiten Angst unter den Anwohnern, Sie vertreiben Leute aus Ihren Häusern und sogar von Ihren Arbeitsplätzen, wenn sie es wagen in die Gewerkschaft einzutreten. Sie würden die Menschen verhungern lassen, weil Sie Suppenküchen für eine zu starke Belastung der Reichen erachten. Sie setzen Menschen Gefahren aus, weil Sie es für zu kostspielig halten, die Arbeitsplätze unter Tage sicherer zu gestalten. Sie betrachten Arbeitskraft als Ressource und Menschen als Werkzeuge. Fällt einer aus, gibt es genug andere, die sich schinden lassen. Wenn die Not groß genug ist, glauben Sie, kriegt man die Arbeit zu einem günstigen Preis und das nennen sie gerecht und chancengleich. Ich habe mir Ihren Sermon jetzt eine ganze Zeit lang angehört und ich kann nicht anders als angewidert sein. Vielleicht habe ich fünf Menschen und mich selbst auf dem Gewissen. Wie viele haben Sie bedroht und verletzt, vertrieben, ihrer Existenzgrundlage beraubt. Auf wie viele Leute haben Sie mit ihrer Flinte geschossen und wie vielen Leuten haben Sie Angst gemacht. Wie viele Frauen und Kinder haben Sie damit eingeschüchtert und wie vielen Menschen haben Sie suggeriert, sie hätten kein Recht für sich selbst und Ihre Bedürfnisse aufzustehen und zu sprechen? Es gibt keinen idealen Menschen, Mister Meyer, wir alle brechen irgendwann zusammen. Sei es wegen des Drucks, der Angst, des Arbeitspensums, des Hungers oder weil wir alt und krank werden. Das Leben eines Menschen ist kein Perpetuum Mobile und das Leben der Menschheit ist es auch nicht. Noch nicht einmal die verdammte Wirtschaft dieses Landes funktioniert ohne Zusammenbrüche."

„Ihre ganze Argumentation besteht daraus, dass Sie nein sagen und das Gegenteil behaupten", sagte Sam Meyer.

„Wenigstens geben Sie zu, dass Sie selbst nichts anderes tun, als behaupten", erwiderte Fenian, „Aber Ihrer ganze Argumentation besteht doch darin zu sagen: Wenn wir nichts regeln, läuft es schon irgendwie, also dürfen wir nichts regeln."

„Never change a winning system", sagte Meyer.

„Sie wollen uns vor dumm verkaufen!", rief Fenian, „Das System ist am Ende! Es ist gegen die Wand gefahren und was Sie tun wollen, ist, Vollgas geben! Es ergibt sich kein Sollen aus dem Sein, verstehen Sie das nicht? Nur weil etwas so ist, heißt das nicht, dass es auch gut und richtig und sinnvoll und nützlich ist. Die Natur ist grausam, Mister Meyer, und sie hat keine Interessen. Sie braucht uns nicht. Wenn sie uns vernichten, oder wenn wir uns selbst vernichten, dann existiert sie weiter, nur wir sind krepiert. Ferner ist es natürlich Unfug zu behaupten, in der Natur gäbe es keine, von Ihnen so genannte, Irrationalität. Zusammenarbeit und Solidarität ist ein ebenso wahres Naturprinzip wie das Überleben des Stärksten. Und auch für den Menschen ist das Zusammenfinden in Gruppen eine Überlebensstrategie. Gewerkschaften, Mister Meyer, sind eine natürliche Entwicklung."

„Sie sagen es doch selbst. Der Natur ist es egal, ob und wie wir uns gegenseitig ausrotten...", meinte Meyer, „Die Gewerkschaftsbewegung ist nur der erste Schritt auf dem Weg in die Verdammnis. Sie wissen, mit was dieser Weg gepflastert ist?"

„Ihren guten Absichten, ein rechtloses System würde wie durch Zauberei Gerechtigkeit und Wohlstand entstehen lassen", sagte Fenian.

„Würde der Menschen einem Ideal nacheifern, hätten wir sicher eine prosperierende Wirtschaft. Leider glauben die meisten, das, was Sie ihnen erzählen: Dass es keine Ideale gibt und niemand sie je erreichen kann, weswegen Sie es nutzlos finden, ihnen nachzueifern. Das ist die Definition von Faulheit und macht am Ende diese Gesellschaft kaputt."

„Der Glaube an Ideale macht die Menschen kaputt", entgegnete Fenian, „Zumal natürlich nicht jeder dem gleichen Ideal folgt und Sie wissen, dass Ihr System nur das Streben nach Ihrem Ideal belohnt. Finden Sie das gerecht? Was ist zum Beispiel Ihr Ideal, Mister Turner?"

Harry Turner war es ein wenig unangenehm, in dieses Streitgespräch involviert zu werden. Er wusste nicht viel zu sagen und konnte sich nicht recht entscheiden, wem er Recht geben sollte. Sein Gefühl sagte Ihm, Sam Meyer berührte den ein oder anderen wunden Punkt, aber Fenian bewegte sich näher an der Realität, denn natürlich hatte er Recht, wenn er die Zustände auf den Straßen von Harlan beschrieb und auch die Gewerkschaftsbewegung ließ sich sicher nicht aufhalten mit dem Argument, dass all das Elend akzeptiert werden müsse.

Er sagte schließlich: „Ich denke, der ideale Mensch ist fleißig und strebsam. Dann hat er auch ein Anrecht auf ein angemessenes auskommen. Es kann nicht sein, dass Leute von ihrer Arbeit nicht leben können, es kann aber auch nicht sein, dass Leute ohne zu arbeiten genauso gut leben wie Leute, die arbeiten."

„Und wer schuldlos nicht arbeitet?", fragte Fenian, „Weil er ausgesperrt wird, weil er Mitglied der Gewerkschaft ist, weil er überhaupt keine Anstellung bekommt oder weil er krank oder verkrüppelt ist?"

„Ich weiß es nicht", gab Turner zu, „Ich will nicht herzlos erscheinen, aber ich will auch nicht, dass ich für fremde Leute aufkommen muss. Ich hab doch selber nicht viel."

„Und was ist mit Ihnen, Mister Bukowski?", fragte Fenian, „Wie sieht ihr Ideal aus?"

„Der Junge hat Recht, wenn er sagt, dass Fleiß eine Tugend ist", sagte Bukowski, „Ich denke, wer fleißig ist, darf nicht verarmen. Aber ich glaube nicht, dass wir eine solche Gesellschaft haben. Niemand ist dazu verdammt arm zu sein. Mein Ideal ist daher neben Tüchtigkeit auch Sparsamkeit."

„Mister Waters?", fragte Fenian.

„Ich denke, der ideale Mensch, ist bereit, sich für andere aufzuopfern. Selbstlosigkeit ist ebenso wie Fleiß eine Tugend. Wer arbeiten kann, hat die Pflicht, es zu tun und er hat die Pflicht, sich um andere zu kümmern", sagte Gene Waters.

„Ihr Ideal ist also ein Sklave", sagte Fenian und Sam Meyer nickte unmerklich.

„Mein Ideal ist Schuldlosigkeit", sagte Waters, „Wenn ich etwas nehme, muss ich dafür etwas geben."

„Aber Sie müssen nicht mehr geben, als sie eingenommen haben", fand Fenian.

„Messen Sie doch nicht alles in Geld", sagte Waters, „Ich gebe Arbeitskraft und bekomme Geld. Ich gebe Geld und bekomme Waren oder Dienstleistungen. Ich gebe diese an Bedürftige und bekomme Dankbarkeit und Freundschaft."

„Das können Sie nicht essen", sagte Meyer, „Davon haben Sie nichts, außer dass Ihnen abhängige Menschen am Rockzipfel hängen, die nie auf die eigenen Beine kommen werden."

„Und doch ist es notwendig, wenn wir keine unterernährten Kinder in unseren Straßen betteln sehen wollen", sagte Waters, „Ich gehe nicht mit Ihnen konform, was den Egoismus angeht. Egoismus nutzt niemandem. Er ist dumm und menschenverachtend. Sie laufen durch die Straßen und sehen das Elend nicht. Aber nicht, weil da objektiv keines ist, sondern will Sie es sich abtrainiert haben. Es gefällt Ihnen, dass Sie eine einfache Antwort zu diesen Fragen gefunden haben: So ist der Lauf der Dinge, niemand hat die Pflicht, einzugreifen! Sie zucken mit den Achseln und bedecken die Armen in Ihren Gedanken mit Schimpfworten, ohne ihre konkrete Situation zu kennen. Sie pauschalieren ganze Gruppen und werten sie und ihre Bedürftigkeit ab. Das gefällt Ihnen, denn offensichtlich sind Sie mit einem Bild von Menschen erster, zweiter und dritter Klasse aufgewachsen und in Arkansas pflegt man das, wie ich gehört habe, immer noch. Es wundert mich, dass gerade Sie nichts gelernt haben."

„Woraus gelernt?", fragte Meyer.

„Aus dem Bürgerkrieg natürlich. Die Wunde schmerzt Sie immer noch, nicht wahr? Sie halten Ihre Niederlage immer noch für ungerecht", meinte Waters.

„Ungerecht...", sinnierte Meyer, „Ich würde es nicht so nennen. Der ganze Krieg war unklug und er hat zu einem Ergebnis geführt, das die Unnatürlichkeit in diesem Land nur noch mehr befördert. Was bringt es, vermeintliche Rechte immer mehr auszuweiten? Sehen Sie, was uns als Recht verkauft wird, ist eigentlich eine Pflicht. Glauben Sie ein Nigger kann im gleichen Maße rational entscheiden und wirtschaften wie jemand der in der vielleicht fünften oder sechsten Generation einen Betrieb geführt hat? Ihm fehlt die Bildung und ihm fehlt die Voraussetzung, sich diese anzueignen. Er hat kein Vermögen, er ist nicht kreditwürdig, ihm fehlen alle nötigen Fähigkeiten, um zu studieren. Trotzdem gewährt man ihnen alle möglichen Rechte, obwohl sie den Pflichten, die daran hängen, nicht gewachsen sind. Halten Sie das für klug? Und es geht ja noch weiter. Frauen. Wen lassen wir als nächstes wählen? Kinder? Affen? Rinder? Haben wir vielleicht bald einen Ochsen als Präsidenten? Nun, er könnte es nicht schlechter machen als die derzeitige Regierung, aber denken Sie doch mal nach, wohin uns dieser Gleichheitswahn geführt hat und führen wird!"

Fenian hörte zu und konnte in seinem Geist Gwen auf die Barrikaden klettern sehen. Hatte dieser Nationalgardist Frauen gerade mit Affen und Rindern verglichen? Wenn er ehrlich war, amüsierte es ihn sogar ein wenig, weil es so absurd war. Er sagte: „Ich würd eher einen Ochsen wählen, als Sie, Mister Meyer. Ein Ochsen kann immerhin einen Karren ziehen. Sie können nur die Peitsche schwingen."

„Das wundert mich nicht", sagte Meyer, „Ihr Menschenbild zeugt ja bereits davon, dass sie von einem Menschen nicht mehr erwarten als von einem Tier."

„Es war Ihr Vergleich, nicht meiner", sagte Fenian, „Aber Mister Winters hat uns noch nicht seinen idealen Menschen vorgestellt. Was denken Sie, Mister Winters?"

Greg Winters räusperte sich und brummte dann langsam, so als müsste er während des Redens noch überlegen, ob er das überhaupt aussprechen sollte: „Der ideale Mensch liegt sechs Fuß tief unter der Erde und weder hat er Probleme, noch verursacht er welche."

„Er widerspricht Ihnen schon bei Ihrer ersten Prämisse, Mister Meyer", sagte Fenian, „Das Leben als bedingungslos erstrebenswert. Sehen Sie, dass Ihr Modell praktische Schwächen hat und dieses System hier ebenso, wenn es Leute zu solchen Aussagen treibt."

„Sie instrumentalisieren Ihn", meinte Sam Meyer.

„Lassen Sie ihn ruhig", meinte Winters, „Lassen Sie ihn. Ich bin ja nicht allein mit meiner Ansicht, Was glauben Sie, wie viele Leute sich allein in Harlan dieses Jahr das Leben genommen haben? Ich allein kenne drei. Drei Männer. Familienväter wie ich. Das trifft einen irgendwie härter als die Erkenntnis, dass diese Männer einfach zu schwach für die Realität gewesen sein müssen. Ändern wir den Menschen oder ändern wie die Realität? Cal, ich glaube, du würdest dich nicht ändern wollen oder deine Frau? Harry, würdest du wollen, dass deine Freundin sich in einen kalten, selbstverliebten Fisch verwandelt? Willst du, dass so jemand die Mutter deiner Kinder wird? Ich sage Ihnen, was ich verändern wollen würde: Ich möchte mir keine Sorgen um die Arztrechnungen meiner Frau machen. Ich will, dass sie gut behandelt wird, damit sie sich nicht damit abfinden muss, einen sinnlosen Tod zu sterben. Ich will, dass meine Kinder überleben, dass sie ihr Leben nicht wegwerfen müssen, sondern glücklich werden. Und Sie, Cal, wollen doch sicher auch lieber eine Frau, die glücklich sein kann und nicht ständig unter ihren Sorgen zusammenbricht. Sie würden Ihren Sohn gerne lieben, so wie er ist. Also tun Sie's, verdammt noch mal! Sie können die Realität ändern, ohne dafür ein Bedürfnis oder sich selbst aufzugeben. Wir müssen keine Maschinen werden, um mithalten zu können. Wir sollten uns nicht vom System kontrollieren lassen, sondern wir sollten das System kontrollieren."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top