Kapitel 16
„So? Was glauben Sie denn, halte ich für eine Tugend?", fragte Fenian.
„Sie halten Zerstörung und Tod für Tugenden", meinte Sam Meyer, „Sie machen es sich passend, wie Sie es brauchen, Sie haben keine Grundsätze. Bei Ihnen kann alles einfach alles bedeuten und wenn etwas nicht funktioniert, drehen und wenden Sie es so, bis jemand anderes schuld ist."
„Und Ihre Grundsätze?"
„Vernunft, Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein, Fokussierung, Effektivität, Integrität, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Stolz, Produktivität", sagte Sam Mayer.
„Phrasen!", rief Fenian sofort, „Sie zählen nur schön klingende Schlagworte auf."
„Es ärgert Sie, weil Sie die gleichen aufgezählt hätten, nicht wahr?"
„Ich hätte Unabhängigkeit gesagt", sagte Fenian, „Jeder Mensch sollte selbst entscheiden können, welchen Werten er folgt."
„Na, dann frage ich mich, wieso Sie so ein großes Problem mit meiner Auswahl haben."
„Weil Sie nicht von Ihrer persönlichen Überzeugung sprechen, sondern von der, die Sie jedem Menschen überstülpen wollen. Es geht um den idealen Menschen, nicht um Sie!"
„Ich halte mich für recht nahe dran", sagte Sam Meyer.
„Und sind Sie deshalb besser als jemand, dessen Grundwerte anders lauten? Familie, Gemeinschaft, Frieden, Selbstverwirklichung zum Beispiel. Oder wenn wir Mister Turner nehmen: Ein luxuriöses Leben, Erfolg. Für Mister Winters ist es vielleicht Gesundheit und für Mister Bukowski Bescheidenheit. Dinge, für die wir gerne in den Spiegel blicken. Ihr Egoismus ist gegen ein Kollektiv im Nachteil."
„Mister McKenna, stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind. Das sage ich Ihnen jetzt zum zweiten Mal. Sich einem Kollektiv anzuschließen kann für das Individuum einen Vorteil darstellen, aber dann ist seine Handlung immer noch egoistisch motiviert."
„Trotzdem sind Sie nicht bereit Kompromisse einzugehen", wand Fenian ein.
„Sie denn?"
„Wenn wir das verraten würden, wären wir doch gleich im Nachteil. Die Gewerkschaft fordert, der Betrieb muss reagieren", sagte Fenian.
„Es ist also alles nur Taktik, keine echte Überzeugung und es sind keine echten Forderungen", stellte Sam Meyer fest.
„Ich glaube, Sie bevorzugen eher die brachialeren Methoden."
„Sie natürlich nicht..."
Fenian ging nicht mehr darauf ein und erwiderte stattdessen: „Ihre Besessenheit, alles zu beurteilen und einzuordnen, kann sich ebenfalls nachteilig auswirken. Wenn Sie zum Beispiel jemanden verletzten oder aufhetzen oder Sie geraten selbst ins Abseits. Mir scheint außerdem, Sie propagieren hier einen uneingeschränkten Wettbewerb jeder gegen jeden."
„Was finden Sie schlecht daran? Wettbewerb erzeugt Druck. Unter Druck entstehen Innovationen."
„Und viel Müll. Es ist Kraftverschwendung und außerdem eine Illusion. Jedes Unternehmen strebt doch danach, dem Wettbewerb zu entgehen. Und so geht es auch Menschen. Niemand will sie ständig mit jedem bekriegen. Lieber konzentriert man sich auf das, was man kann, um besser zu werden."
„Aber welchen Ansporn sollte man dazu haben?", fragte Sam Meyer, „Sie können Leute nicht nach Bedürftigkeit bezahlen. Leistung muss der Maßstab sein."
„Und Angst ist der Motor", sagte Fenian.
„So ist das Leben", meinte Meyer nur lapidar.
„Wir können es gestalten", erwiderte Fenian, „Ihre Form der Strebsamkeit befördert, den Aufstieg von Eliten, die andere Unterdrücken. Waren Sie nicht mal für Freiheit?"
„Freiheit bedeutet nicht Gleichbehandlung. Es bedeutet Chancengleichheit."
„Die ist doch aber unrealistisch in einem System, indem eine Elite die Macht und das Eigentum für sich behält. Sie könnten außerdem auf die Idee kommen, dass es für sie am vorteilhaftesten ist, wenn sie ihren Untergebenen Wissen vorenthalten. Die Macht dazu haben Sie. Ihr System ist totalitär, aber Sie waschen sich Ihre Hände in Unschuld, weil sie glauben, alles sei automatisch so passiert, weil es berechenbar und unabänderlich ist."
„Ich halte Sie für zynisch, Mister Meyer", fand Gene Waters
„So, finden Sie? Haben Sie nicht vorhin gemeint, ich würde Gewalt gutheißen? Das Gegenteil ist der Fall. Sie ist ein Laster und ich sage das aus vollster Überzeugung. Fragen Sie mal unseren Mac, wie er das sieht? Er findet bestimmt, dass man das situationsabhängig machen muss."
„Sie winden sich um die Frage, wer angreift und wer verteidigt", sagte Greg Winters dumpf, „Was ist schon Gewalt? Jemanden verhungern lassen oder ein Brot stehlen?"
„Mein Problem ist", sagte Fenian, „dass Sie angeblich für die Freiheit sind, den Leuten aber ständig verschreiben, was sie denken, tun oder wonach sie streben sollen. Sie wollen abstrahieren, nehmen aber Ihre eigene Prämisse nicht ernst und schränken die logischen Schüsse aus Ihren Forderungen ein."
„Was finden Sie unlogisch an der Forderung, dass jeder gemäß seiner Leistung profitieren soll? Jeder bekommt, was er verdient. Wir sind Nutznießer unseres eigenen Handelns. Wenn das nicht Freiheit ist, weiß ich es nicht."
„Menschen bleiben auf der Strecke", meinte Gene Waters, „Ferner können Sie bestimmte Gefühle nicht rational kontrollieren. Selbstlose Liebe, Mitleid oder Sympathie, Menschen, die Hilfe brauchen, versagen Sie diese, weil sie davon keinen Nutzen haben. Aber das ist völlig unrealistisch. So ist der Mensch nicht."
„Und was ist mit kranken Menschen, die geheilt werden könnten, sich aber keinen Arzt leisten können?", warf Greg Winters ein.
„Und was ist mit Menschen, die Skrupel haben", fiel Fenian ein, „Sie werden übervorteilt werden von denen, die bereit sind, zu unterdrücken, zu versklaven, zu vertreiben und zu zerstören. Das Gute setzt sich nicht durch, wenn der Schnellste und Rabiateste siegt."
„Skrupel sind Fehler", befand Meyer.
„Und der Mensch ist fehlbar", erinnerte Fenian.
„Und aus Fehlern kann man lernen."
„Das ist mir zu dünn", meinte Fenian.
„Wieso?", wollte Harry Turner wissen, „Wenn alle fehlbar sind, ist die Chancengleichheit doch wieder hergestellt. Jeder hat die gleichen Chancen es zu verbocken."
„Nur fragt sich, ob das Verbocken wirklich ein Verbocken war. Erfolg kann sich erst langfristig zeigen. Mister Meyer ist aber auf kurzfristigen Profit aus", sagte Fenian.
„Wer sagt das? Das implizieren Sie. Leben Sie im Jetzt, das habe ich gesagt, aber irgendwann ist die Zukunft das Jetzt und dann lacht derjenige, der auf langfristigen Erfolg gesetzt hat."
„Wenn er dann noch da ist und nicht aufgefressen wurde."
„Sie immer mit Ihren Metaphern, Mister Mac", Meyer lachte müde.
„Halten Sie eigentlich unterlassene Hilfeleistung für Gewalt?", wollte Fenian wissen.
Sam Meyer drückte sich vor der Antwort und druckste ein wenig herum. Dann sagte er: „Es ist dumm, denn wer hilft, dem wird geholfen. Hilfe kann eine rationale Tat sein. Sie kann also eine Tugend sein."
„Und ein Laster? Wenn es keine Hoffnung auf eine Erwiderung der Gefälligkeit gibt?", fragte Greg Winters.
„Nun..."
„Das sind dann wohl die hässlichen Seiten Ihrer Philosophie", befand Caleb Bukowskis.
„Alles hat hässliche Seiten. Das Leben ist kein Wunschkonzert", sagte Sam Meyer, „Auch wenn es Ihnen nicht gefällt, Sie müssen sich mit diesem Fakt arrangieren."
„Mister Waters hat Recht, Sie verkennen den Einfluss von Emotionen", sagte Fenian, „Kein Verstand der Welt ist in der Lage, Gefühle zu ignorieren."
„Gefühle dürfen den Verstand nicht behindern. Sie können uns allerdings helfen, zu bewerten und uns motivieren."
„Sie nutzen Ihren Verstand und Ihre Gefühle als Werkzeug", schloss Gene Waters, „Was ist denn dann noch übrig, das Sie erhalten und schützen wollen? Ein Körper ist schließlich auch nur ein Hilfsmittel. Aber zu welchem Zweck?"
„Leben", sagte Meyer.
„Wie wertvoll ist ein Leben, das nur aus Werkzeugen zum Selbsterhalt besteht? Sind wir nicht mehr als die Summe unserer Teile?"
„Sie fragen nach dem Sinn des Lebens, Mister Waters? Da ist keiner außer dem Leben selbst. Oder wollen Sie etwa sterben?"
„Ich finde, bei einem Punkt, hat er nicht Unrecht", gestand Fenian, „Es ist sinnvoll, sich über Ursachen und Wirkungen von Emotionen klar zu werden. Irrationale Handlungen sind meistens schädlich."
„Hören Sie auf Ihn, der Herr spricht aus Erfahrung", sagte Meyer.
„Das ist aber auch eine Binsenweisheit", sagte Caleb Bukowski.
„Dafür ist seine These, dass das Leben das einzige Lebensziel sein soll, umso kruder", sagte Fenian.
„Das habe ich nicht gesagt. Leben ist nicht das Ziel, es ist..."
„Ein Werkzeug", vervollständigte Fenian, „Nein. Sie meinen, dass man bereits zufrieden soll, wenn man im Elend leben darf, weil der Tod schlimmer ist. Man soll alles hinnehm, weil man schließlich auf tot sein könnte und das wäre schlimmer. Sie sagen also: Egal, was ist, es ist nicht das Schlimmste, was möglich ist. Nicht Leben sollte das Ziel sein, sondern Glück. So steht es auch in der Verfassung!"
„Da steht, jeder hat das Recht auf das Streben nach Glück, nicht das Recht auf Glück", präzisierte Harry Turner.
„Exakt!", bestätigte Sam Meyer, „Die dürfen Streben, aber sie haben keinen Anspruch."
„Na, so ein Pech!", sagte Fenian.
„Wenn Sie nicht gut genug sind..."
„Ach, reden Sie keinen Mist! Wer bekommt denn in diesem Land einen gerechten Lohn? Die meisten verdienen mehr, als sie bekommen und einige verdienen weniger, bekommen aber exorbitante Gehälter. Finden Sie das gerecht? Wer entscheidet, wer was verdient und bekommt? Es gibt in Ihrem System keine Kontrollinstanz, es gibt nur einen Markt."
„Sie haben ein Problem mit dem Konzept eines Marktes. Sie wollen nicht kaufen, sondern stehlen. Das habe ich schon begriffen", sagte Meyer.
„Ich will den Bestohlenen Ihr Eigentum zurückgeben", sagte Fenian.
Sam Meyer schaute ihn mitleidig an: „Ich glaube sowieso nicht, dass Ihre Definition von Glück mit der anderer korreliert. Zum Glück sind die Interessen verschieden, das macht den Konkurrenzkampf erträglicher."
„Sie meinen die Zwietracht und den Neid."
„Ich meine, was ich sage. Eine Möglichkeit muss ausrechen. Geschenke können nicht verteilt werden, wenn andere sie erwirtschaften müssen. Neid entsteht dann, wenn einer mehr bekommt als er nach seiner Leistung verdient. Wir sollten keine Faulheit subventionieren."
Fenian grinste: „Ich kenne ein paar Leute, die mehr bekommen, als sie verdienen und einige, bei denen es umgekehrt ist. Meinen Sie nicht, dass unter solchen Umständen, ein Streik angebracht ist?"
„Sie haben mich eben gefragt, wer entscheidet, was gerecht ist. Ich kann Ihnen eins sagen: Sie sind es nicht!", sagte Meyer, „Niemand hat das Recht dazu."
„Wenn man sich niemandem unterwirft", philosophierte Fenian, „dann trägt niemand die Verantwortung für die Verelendung der Arbeiterschaft."
„Ich habe Ihnen eben erklärt, wer die Verantwortung trägt!", beharrte Sam Meyer.
„Demnach bin ich nicht schuld an unserer Misere hier", sagte Fenian, „Denn: Es gibt überhaupt keine Schuld. Nur Eigenverantwortung und Schicksal."
„Tun Sie nicht so, als wäre das ein Triumph für Sie!", mahnte Caleb Bukowski.
„Wie soll ich es denn sonst auffassen?"
„Als eine Tat wider die Natur!", meinte Gene Waters.
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