Kapitel 14
„Schläft er schon wieder?", fragte eine Stimme durch den Nebel, der Fenians Gedanken darstellte. Er war tatsächlich weggetreten gewesen und erinnerte sich an ein wohliges Gefühl der Leichtigkeit, das mit der Wahrnehmung der harschen Stimme wie weggeblasen war.
Er war zurück in der Schwärze, der stickigen Luft und der Gewissheit des über ihm lauernden Tod.
„Lassen Sie ihn doch. Wenn er schlafen kann, hat er es doch gut."
„Und er redet nicht, das ist auch ein Vorteil."
Fenian beschloss, zu schweigen, die Augen geschlossen zu halten und zu versuchen, zurück in den Nebel zu gelangen, wo er sich sicher gefühlt hatte und irgendwie glücklich gewesen war.
Wenn man allein in seinem Kopf ist, dachte Fenian, kann man alles glauben, was man will, ohne dass einer einem widerspricht. Vielleicht funktionierte so Religion oder Egomanie. In jedem Fall funktionierten kurzzeitiges Glück und Zufriedenheit so. Er wusste nicht, ob er mit seinen Vorstellungen Recht gehabt hatte, ob sie jemanden überzeugen konnten, ob sie ihn selbst überhaupt überzeugten, aber wen kümmerte das? Er sprach sie ja nicht aus, er versuchte, niemanden zu überzeugen. Hier unten hasste ihn ohnehin jeder. In seiner Situation kam es auch nicht mehr darauf an, Recht zu haben, sondern nicht durchzudrehen. Da leistete die Logik keine Gute Arbeit, Glauben dagegen funktionierte.
Was die anderen wohl glaubten? Wie sie sich wohl ablenkten? Ob sie sich auch in ihren Kopf zurückziehen konnten? Was sie wohl dachten? Fenian wusste, dass einer seiner größten Fehler war, dass es ihm schwer fiel, andere Menschen als eigenständig und ihm ebenbürtig denkende Wesen wahrzunehmen. Er war überheblich und er musste sich zwingen, sich selbst nicht als größer, intelligenter und wichtiger wahrzunehmen, als er war – und vor allem als andere. Er neigte dazu, andere kleinzudenken und sie insgeheim zu entmenschlichen. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als sich auf seinem Niveau auszutauschen. Meistens wurde er enttäuscht. Die, an die er nicht heranreichen konnte, machten ihm Angst und die, auf die er herabsah, erinnerten ihn an Kinder, die man bei allem anleiten musste und das war ihm zuwider und strengte ihn an.
Und wenn man so ein Mensch war, wie Fenian sich selbst entlarvte, dann war alles, was man sagte Lippenbekenntnisse. Und Heuchelei war gefährlich, sie verführte Menschen und sorgte dafür, dass sie Dinge taten, die man selbst nicht wagte, damit sie die Schuld dafür tragen mussten. Demokratie, dachte Fenian, ist eine Ausrede, eine faule Entschuldigung für die, die entscheiden. Wenn es gut läuft, heimsen sie die Lorbeeren ein und wenn es schlecht läuft, sagten sie, das Volk wollte es so und man selbst sei nur ein Instrument des Systems gewesen. Konnte man Leute im Nachhinein zur Rechenschaft ziehen, wenn sie sich darauf berufen konnten, im Auftrag der Bevölkerung gemordet und gefoltert zu haben?
Und Leute wie Sam Meyer, die skrupellos mit dem Leben der Menschen spielten, die behaupteten, Worte und Zynismus könnten nicht töten und die Redefreiheit stünde über dem Recht, nicht belogen oder beleidigt zu werden, brachten ihre Saat auf dem gleichen Feld aus wie Fenian. Sie redeten und behaupteten später, wenn man sie mit den Folgen ihrer Politik konfrontierte, es ja nicht so gemeint zu haben und die Leute seien schon selbst schuld, wenn sie seine Aussagen so oder anders interpretiert hatten. Freiheit bedeutete eben auch die Freiheit, missverstanden zu werden und bestraft werden konnte man nur für eine tatsächliche Aktion und getan hatte Sam Meyer nie etwas. Lediglich verteidigt und Befehle befolgt hatte er.
Fenian aber war es leid gewesen, zu reden und andere die Drecksarbeit machen zu lassen. Wenn was er sagte, Menschen dazu brachte Verbrechen zu begehen, dann war es nur gerecht, wenn er auch als Verbrecher verurteilt wurde. Das hatte er von seinem Onkel. Es war die Tragik der ehrlichen Leute.
Wenigstens hatte er noch ein Gewissen. Sam Meyer hatte nur eine große Klappe und Ausreden. Fenian hasste ihn, weil Meyer rücksichtlos seine Agenda vertrat und man gegen so einen als aufrechter Mann nur verlieren konnte. Deshalb würde Meyer immer mehr Erfolg haben als Fenian. Die Leute fühlten sich zu Skandalen eben mehr hingezogen als zu Zweiflern und auf diese Weise würde sich nie etwas ändern. Immer liefen sie den Charismatikern hinterher, nie denen, die sich Sorgen um ihre Wirkung machten.
Wieso arbeitete er sich so sehr an diesem Idioten ab, fragte sich Fenian. Niemand mit gesundem Menschenverstand nimmt ihn ernst und die Arbeiter hassen ihn und seinesgleichen. Sie werden ihn nicht plötzlich als Helden feiern, weil sie mich verdammen werden. Sie werden froh sein, erinnerte sich Fenian, dass ich einen von ihnen mit in die Hölle gezerrt habe.
Er fragte sich, wie lange sie schon hier unten waren. Er hatte das Zeitgefühl völlig verloren, weil er nicht einschätzen konnte, wie lange er geschlafen hatte. Vielleicht war es jetzt schon mitten in der Nacht, vielleicht war es Nachmittag oder früher morgen. Sein Magen meldete sich. Fenian wusste nicht, ob es Hunger war oder angstvolle Übelkeit. Eine Schwäche in den Gliedern stellte sich ein. Bald würde sich sein Blick trüben, ahnte er, aber das war nicht schlimm. Hier unten gab es ohnehin nichts zu sehen. Eine angenehme Entwicklung war, dass er feststellte, wie die Panik von einer gewissen Gleichgültigkeit abgelöst wurde. Ja, er hatte Angst, aber es war ihm egal. Sein Geist löste sich von seinem Körper.
„Wollen wir vielleicht etwas singen?", fragte Gene Waters. Es war unverkennbar seine sanfte Stimme.
„Ich singe keine Kirchenlieder", sagte Sam Meyer.
„Schlagen Sie etwas vor?", erwiderte Winters.
Same Meyer wand sich ein wenig, konnte der Forderung aber nicht entgehen und begann schließlich mit einer erstaunlich lächerlich dünnen Sing-Sang Stimme eine lächerlich einfache Melodie zu singen:
„I am thinking tonight of the Southland,
Of the home of my childhood days,
Where I roamed through the woods and the meadows
By the mill and the brook that plays"
Es klang wie ein Kinderlied und Fenian konnte nicht anders als prusten. Das war das einzige Lied, das Meyer einfiel? Plötzlich erkannte er die Einfältigkeit, die diesem gemeinen Menschen zu eigen war und die er mit Menschenverachtung zu übertünchen versuchte.
„Haben Sie einen Einwand, Mister McKenna?", fragte Meyer
„Nein, nein, singen Sie nur weiter!", sagte Fenian. Er unterdrückte sein Lachen.
„Haben Sie ein Problem mit der Hymne meines Heimatlandes?"
„Oh nein, keineswegs", sagte Fenian, „Ich kann es nur nicht ernst nehmen, wenn es so eine Hymne hat."
„Singen Sie uns doch was vor!", giftete Meyer, „Auf Ihrer Insel soll es doch so viele patriotische Lieder geben. Genutzt hat es Ihnen nur nichts! A Nation Once Again... Los, singen Sie schon!"
„Danke, ich verzichte", sagte Fenian und krümmte sich vor Lachen. So einfach konnte man einen Nationalgardisten aus der Fassung bringen? Wenn er das gewusst hätte...
„Der Vertreter eines lächerlichen Volks, das es seit hunderten von Jahren nicht auf die Reihe kriegt, sich gegen eine Besatzungsmacht zu wehren, lacht über eine freie Nation. Ihnen ist Ihre eigenen Peinlichkeit nicht klar, McKenna!"
„Ich finde, Sie sollten nicht so respektlos sein!", sagte Gene Waters.
„Ich soll respektlos sein?", rief Fenian immer noch von einem Lachen geschüttelt, „Er kann doch nicht akzeptieren, dass ich Amerikaner bin wie er und dass es viele Amerikaner gibt, die nicht sind wie er. Er trägt Scheuklappen und wünscht sich ein Märchenland, in dem alle Menschen fröhlich über grüne Wiesen hüpfen – übrigens ein sehr irisches Kitschbild. Dabei steht dieses Land am Rande des Zusammenbruchs."
„Was an Leuten wie Ihnen liegt!", rief Meyer dazwischen.
„Vielleicht ist der Zusammenbruch das Beste, was uns passieren kann. Falls es Sie interessiert, ich stamme aus Illinois und habe noch nie einen Fuß auf irischen Boden gesetzt. Wo kommen Sie eigentlich her, Mister Meyer?"
„Arkansas und ich kann Ihnen versichern, dass diese Krise uns niemals ereilt hätte, wenn wir den Bürgerkrieg gewonnen hätten!"
„Augenblick mal!", mischte sich Caleb Bukowski ein, aber Sam Meyer winkte ab: „Lassen Sie's gut sein, Papist!"
„Sie wollen, dass ich was singe?", fragte Fenian immer noch belustigt. Er wusste, dass er eine bessere Stimme hatte als Sam Meyer und er hatte offensichtlich mehr musikalische Bildung. Aber vielleicht stimmte es, dass man als Ire naturgemäß auf die Lieder anderer Länder spöttisch herabblickte.
„Ja, singen Sie etwas!", ermutigte Harry Turner ihn.
Und Fenian begann zu singen:
„Would you have freedom from Wage slavery,
Then join in the grand Industrial band;
Would you from mis'ry and hunger be free,
Then come, do your share, like a man."
„Sie sollten das nicht singen", sagte Greg Winters.
„Wieso nicht?", fragte Fenian, „Was ist falsch daran?"
„Ja, wieso soll er das nicht singen?", fragte zu Fenians Überraschung Sam Meyer, „Es passt doch zu ihm. Den Bastard haben sie aufgehängt und sollten wir jemals hier herauskommen, werden sie unseren Mac hier ebenfalls aufknüpfen."
Fenian schluckte. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Er brauchte also gar nicht auf eine Rettung zu hoffen. Irgendwie war das auch eine Erleichterung.
„Sie haben Joe Hill verurteilt, ohne dass Beweise gegen ihn vorlagen", erinnerte Fenian, „Außerdem wurde er erschossen und nicht gehängt."
„Einerlei", fand Meyer, „Ein Bastard, der es nicht anders verdient hat."
„Haben Sie etwa Angst vor seinen Lieder?", fragte Fenian.
„Ich habe Angst davor, was Lügen anrichten", gab Meyer zu.
„Und Ihr Liedchen ist keine Lüge? Unberührte Wälder? Wiesen? Bäche? Ich wusste gar nicht, dass Arkansas so eine Idylle ist."
„Es war eine, bevor Leute, wie Sie kamen und uns erzählen wollten, was richtig und was falsch ist. Meine Kindheit war nicht leicht, ich konnte es mir nicht leisten, faul oder gierig zu sein, aber ich wusste, dass man lieber auf die Leute hören sollte, die mehr Ahnung hatten als man selbst. Und das ist, was dieses Land zu Grunde gerichtet hat: Sie haben jedem dahergelaufenen Nigger eine Stimme gegeben und jetzt wissen sie nicht mehr, wie sie aus dem Strudel herauskommen, in den sie sich selbst manövriert haben. Sehen Sie, Sie können die Verantwortung nicht dem Pöbel überlassen. Sie brauchen jemanden, der Ahnung hat, der sich nicht vor Entscheidungen drückt und der etwas davon hat, dass er die richtigen Entscheidungen trifft. Wenn Sie einen armen Schlucker ohne Schulbildung entscheiden lassen, dann kommen Sie keinen Schritt vor an."
„Sie misstrauen also unserer Regierung, Mister Meyer?", fragte Harry Turner interessiert.
„Jedem von diesen Halsabschneidern."
„Nein, das ist es nicht", sagte Fenian, „Er misstraut nicht der Regierung, er misstraut der Demokratie. Er will nicht, dass Menschen, die Hilfe brauchen, geholfen wird."
„Oh, Sie würden ein funktionierendes System gerne umdrehen, sodass es nicht mehr funktioniert. Die Arbeiter arbeiten für die Unternehmer. Sie führen deren Anweisungen aus, weil sie selbst keine Ahnung haben, wie sie ein Unternehmen führen müssen. Sie können sich nicht einfach auf die faule Haut legen und verlangen, dass die Unternehmer ab sofort für Sie arbeiten und sie kassieren Sozialleistungen, oder was immer Sie sich vorstellen! Sie können nicht den Nigger die Plantage führen lassen. Sie können den Arbeiter nicht die Fabrik leiten lassen, es würde nicht funktionieren."
„Sie meinen also, die Arbeiter hätten keine Ahnung von ihrer Arbeit?", fragte Fenian, „Glauben Sie Mister Bukowski hat keine Ahnung? Also ich glaube, er hat mehr Ahnung als alle Bosse dort oben zusammen. Und weil er hier unten vor Ort ist, kann er mit Sicherheit sinnvollere Entscheidungen treffen, als irgendjemand sonst."
„Und ruiniert damit die Gesellschaft!", meinte Meyer.
„Ich habe nicht den Eindruck, dass Mister Bukowski nicht mit Geld umgehen kann", sagte Fenian.
„Wollen Sie ihn also zum neuen Chef ernennen? Ich fürchte nur, dass er, wenn er den Betrieb erhalten will, keine anderen Entscheidungen treffen kann wie die Männer, die heute in der Verantwortung stehen. Sehen Sie, sie können fruchtbares Land an die Wilden verteilen, wenn diese aber nichts von Landwirtschaft verstehen, werden sie verhungern und wenn sie was davon verstehen, etablieren sie das gleiche System, das wir heute schon haben. Es gibt keine Alternative."
„Seltsam, dass die Wilden, wie Sie sie nennen, hier Jahrtausende lang gelebt haben, ohne dass sie einander ausgebeutet haben", sagte Fenian.
Sam Meyer lachte müde: „Sie hängen ein paar romantischen Märchen nach, Mister Mac."
„Und Sie sind ein Faschist!", sagte Fenian.
„Ich bin Realist. Ohne Ausbeutung gibt es keinen Fortschritt. Und ohne Fortschritt geht es auch den Ausgebeuteten nicht besser. Und wenn wir die ehemals Ausgebeuteten zum Ausbeuter machen, gibt es bald weder Fortschritt noch Besserung. Dann sind wir alle gleich und alle verdammt. Die Reichen, Erfolgreichen und Mutigen tragen die Welt auf ihren Schultern und sie werden nicht bereit sein, sie länger zu tragen, wenn wir ihnen alles wegnehmen, was sie dazu veranlasst, sich weiter anzustrengen. Sie müssen die Möglichkeit haben, zu profitieren, denn sonst ist jegliche Mühe umsonst."
Fenian verzog das Gesicht zu einem gezwungenen Lächeln: „Die Reichen tragen die Welt auf ihren Schultern? Ist das Ihr Ernst? Ohne die Arbeit und die Anstrengung abertausender Lohnsklaven ginge in diesem Land rein gar nichts! Leute wie Gene Winters hier tragen die Welt auf ihren Schultern und wenn man ihnen Essen, Wohnung und Gesundheitsversorgung versagt, werden sie irgendwann zusammenbrechen oder hinschmeißen! Was glauben Sie passiert, wenn alle Lohnempfänger die Arbeit niederlegen? Sie können das Land lahmlegen. Ein paar beleidigte Industrielle, die ihre Firmen vorsätzlich gegen die Wand fahren oder liquidieren, machen mir da weniger Angst. Aber ich sag Ihnen noch was: Ich verstehe Ihr Argument. Wer zu dumm ist, sich selbst zu versorgen, ist auf Führung angewiesen. Halten wir die Nigger dumm, dann dürfen sie nicht wählen! So denken Sie doch! Halten wir die Landarbeiter dumm, dann werden sie es nicht wagen, nach eigenem Land zu verlangen! Halten wir die Industriearbeiter dumm, dann werden sie nicht wagen, ihre Fabriken zu übernehmen! Sie halten die Menschen in Angst vor sich selbst, damit sie zögerlich und vorsichtig sind und nicht in Frage stellen, was mit ihnen gemacht wird. Aber das wird nicht mehr ewig gut gehen. Die Menschen werden nach besserer Bildung verlangen, weil sie sehen, dass sie nur mit Wissen weiter und aus ihrem Elend herauskommen und wenn Sie ihnen diese Bildung nicht gewähren, dann werden sie sie sich selbst aneignen und dann werden sie sich gegen Sie wenden, Mister Meyer. Und dann reicht Ihnen eine verrostete Flinte und ein hoher Zaun nicht aus, um sich zu verteidigen! Und wenn Sie dann jammern, dass das alles ungesetzlich ist und niemand Ihr Eigentum achtet, dann wird man Sie auslachen, denn es wird andere Gesetze geben, die das würdevolle Leben höher ansehen als das Privateigentum und dann werden Sie arbeiten, weil sie Teil einer Schicksalsgemeinschaft sind und nicht, weil sie fürchten, zurückzubleiben. Dann wird das Leben kein Wettrennen mehr sein, sondern eine zielgerichtete Forschungsreise zum Wohle aller."
„Wenn es keine Gewinner mehr gibt, wird niemand mehr angespornt sein, irgendetwas zu tun", sagte Meyer schulterzuckend.
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