Kapitel 12

„Warum sind Sie nicht Priester geworden?", fragte Greg Winters, „Sie haben es doch vorgehabt, nicht wahr?"

„Ja", sagte Waters, „Und ich spiele immer noch mit dem Gedanken. Das heißt... Ich spielte."

„Wieso?"

„Weil ich so am ehesten etwas hätte zurückgeben können", sagte Waters, „Ich hätte vielen Menschen helfen können, aber so lange ich mir das Studium nicht leisten kann... Sie wissen schon."

„Seine Familie kann nämlich auch nicht mit Geld umgehen", sagte Greg Winters zu Fenian und mit einem Augenblinzeln in Richtung Caleb Bukowski.

„Wer kann das schon?", fragte Fenian, „Geld ist so ein schmutziges Zeug. Man hat nie genug und wenn man genug hat, hat man in Wirklichkeit zu viel."

„Haben Sie das in einem Ihrer Handbücher gelesen?", fragte Sam Meyer.

„Gesunder Menschenverstand, das ist alles, was man braucht", sagte Fenian, „Wenn einem der allerdings abhanden gekommen ist, weil man zu viel mit dem Gewehr rumgeballert hat, hält man die grünen Scheinchen wahrscheinlich wirklich für wertvoll."

„Sie reden alle Dinge schlecht, die Sie nicht haben, um sich selbst froh zu machen", sagte Meyer, „Was Sie nicht tun, ist der Realität ins Gesicht sehen."

„Es reicht mir, wenn ich Ihnen ins Gesicht sehen muss, um zu wissen, dass diese Realität verändert gehört!", erwiderte Fenian.

„Rhetorik. Ihre ganze Bewegung besteht nur aus Rhetorik und Zerstörung. Konstruktive Arbeit ist Ihnen vollkommen fremd!", sagte Sam Meyer.

Fenian beließ es dabei, er hatte keine Lust sich fortwährend provozieren zu lassen. Wozu? Wozu sollte er sich das jetzt noch antun. Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie es sich wohl anfühlte zu sterben.

Es ist wie Einschlafen, mutmaßte er. Man merkt es gar nicht und dann ist man weg. Und es wird niemals ein Grab mit meinem Namen darauf geben. Man wird mich vermissen und sich fragen, wo ich abgeblieben sei und vielleicht werden sie in Chicago von dieser Geschichte hier hören, aber sie werden nicht glauben, dass er etwas damit zu tun gehabt haben könnte. Nicht er. Fenian McKenna war kein Mörder, er war ein guter Mensch, der das beste für alle wollte. Sie dachten viel zu gut von ihm, das fiel ihm jetzt auf. Sie hatten ihn viel zu oft gelobt, obwohl er es nicht verdient hatte. Gwen hatte ihn geliebt – vielleicht – obwohl er ungebildet und arm war und ihr nichts bieten konnte. Ihr Vater konnte ihn nicht ausstehen, aber er hatte ihn nie offen beleidigt oder seiner Tochter verboten, sich mit ihm zu treffen.

Wie gut es ihm gegangen war zu Hause, bemerkte er erst jetzt. Wieso war er damals so unglücklich gewesen? Ein schlechtes Gewissen? Generelle Schwermut, die vor allem diejenigen befällt, die von Langeweile und Sorglosigkeit geplagt waren?

Fenian fragte sich, was denn eigentlich Glück und Zufriedenheit war. Er stellte fest, dass es zumeist das war, was man nicht hatte, das, was man verloren hatte, das, was unerreichbar war. Jetzt, wo er zurückdachte, konnte er seine eigene Trägheit nicht mehr nachvollziehen. Er ekelte sich gerade zu vor seiner eigenen Vergangenheit, die gedankenlos und leichtsinnig gewesen war.

An den Tod zu denken, macht uns zu Menschen, unser Leben zu leben, macht uns zu Kreaturen, schlussfolgerte Fenian. Hatte man nicht ständig den Tod vor Augen, so fällte man leichtfertige, unüberlegte Entscheidungen. Hier unten erschienen sie ihm nichtig und dumm. Sein ganzes Leben war bedeutungslos gewesen und alles was von seinem Dasein in Erinnerung bleiben würde, war, dass er zusätzlich zu sich selbst fünf weitere unschuldige Männer mit in den Tod gerissen hatte und sie würden ihn dafür ganz sicher nicht als Helden feiern. Er würde in die Geschichte eingehen als Monster, als Schurke, als jemand, der seiner eigenen Sache einen Bärendienst erwiesen hatte.

Wie war er nur auf die Idee gekommen, dass es schon nicht so schlimm war, eine geringe Zahl von Männern dem Tod preiszugeben, um das Leben von vielen zu gefährden. Denn dass die Gewerkschaft gewinnen würde, schien mehr als aussichtslos. Fenian wusste, dass Organisationen wie die Union immer verloren. Erreichten sie ihre Ziele, wurde sie unnötig und löste sich auf, erreichte sie ihre Ziele nicht, wandten sich die Mitglieder von ihr ab und verloren sich in Hoffnungslosigkeit oder destruktiver Militanz.

Vielleicht war es genau das, was mit Fenian passiert war: Er hatte das Scheitern der Gewerkschaft geahnt und bei einer Verzweiflungstat mitgemacht, die zu keinem Zeitpunkt irgendetwas bewirken konnte, außer die Gesellschaft in Harlan County noch mehr zu spalten und noch mehr Hass zu sähen. Ein schneller Tod, dachte er bei sich, ist besser, als dahinzusiechen und allen Beteiligten eine falsche Hoffnung zu belassen.

Und jetzt war er hier mit fünf Männern, die ihn hassten, weil er sich zu spät besonnen hatte. Fünf Männer, die einander kannten, aber ihn nicht, teilten sich wenig außer der Abneigung gegen ihn. Fenian erkannte, dass er sehr lange Zeit einem überheblichen Irrtum aufgesessen war: Er kämpfte zwar für die Arbeiter der Kohlegruben, nahm sich aber selbst nie als einer von ihnen wahr, sondern sie als eine Gruppe gleichförmiger, gleichagierender Wesen ohne einen Funken Geist in ihren Augen. Wie überheblich er auf sie herabgeblickt hatte, erkannte er erst jetzt, da er diese fünf Männer kennen gelernt hatte, die zwar zur gleichen Klasse gehörten, aber doch völlig unterschiedlich waren in ihren Ansichten, Beweggründen und Motivationen. Sie konnten sich ja noch nicht einmal gegenseitig leiden, wie hatte Fenian da annehmen können, zu einer homogenen Masse zu sprechen, als er vor den Streikposten gesprochen hatte.

Ich hatte geglaubt, was diese Leute brauchen, ist ein Anführer, der sie hinter sich vereint, dachte Fenian, aber das war falsch. Jeder Anführer sorgte dafür, dass sie Menschen, die er zu vertreten glaubt ein Stück ihrer Individualität aufgeben mussten. Nicht die Anführer gingen Kompromisse ein, sondern die, für die sie eigentlich reden und streiten wollten. Denn am Ende kämpfte jeder für sich und wer sich vertreten ließ, der gab seine Persönlichkeit mit seiner Selbstverantwortung ab.

Und er hatte diese fünf Männer sterben lassen wollen, weil er geglaubt hatte, Menschen mit anderen Ansichten, die sich weigerten, ihm zu folgen, durften ohne weiteres geopfert werden, weil sie ihm nicht nützlich waren. Denn wer immer über andere Menschen als sich selbst redete, redetet über Nützlichkeit in irgendeiner Art und Weise. Entweder man hatte einen Vorteil durch eine Beziehung oder man konnte sie ohne Weiteres fallen lassen. Und wenn es nur um die Bestätigung des eigenen Egos ging... Fenian begann eine tiefe Selbstabneigung zu entwickeln, die einherging mit einer plötzlichen, generellen Menschenfeindlichkeit.

Das Problem war, dass er begann Sam Meyers Standpunkte zu verstehen, wenn gleich er sie eher als Provokation vorbrachte, denn als ernstgemeinte Diskussionsbeiträge. Fenian war irritiert, wie vielen seiner Ideen er folgen konnte, bevor sie in Hass und Herabwürdigung mündeten. Der Mann, den er am meisten hassen sollte, kam seiner Persönlichkeit am nächsten.

Er fragte sich, was Meyer wohl über ihn dachte und ob er genauso schockiert über die Erkenntnis ihrer charakterlichen Ähnlichkeit war.

Er zieht die falschen Schlüsse, versuchte Fenian sich zu beruhigen, er hat die richtigen Ausgangspositionen und biegt dann irgendwo falsch ab, weil er ein Heuchler ist, weil er nichts ernst nimmt und weil es ihm egal ist, ob Menschen sterben...

Fenian knirschte mit den Zähnen. Was für ein schrecklicher Fehler ist Gewalt! Was für eine Dummheit, mit ihr Probleme lösen zu wollen!

Wahrscheinlich, dachte Fenian, gibt es überhaupt nur deshalb überhaupt immer neue Probleme, weil irgendjemand Gewalt gegen jemand anderen ausgeübt hat. Irgendjemand wird immer unterdrückt. Irgendjemand verliert immer. Die Frage war: Wie ging man mit den Verlieren um? Wie ging man mit den Feinden um? Tötete man sie? Versuchte man sie zu überzeugen? Inkludierte man sie? Setzte man sich ihrer Kritik aus?

Wie sicher war man sich eigentlich mit seiner Position, wenn man Kritik nicht aushielt, sondern underdrücken wollte? Hatten diese fünf Männer nicht allesamt nachvollziehbare Gründe für ihre Ablehnung des Streiks?

Caleb Bukowski war zu alt, um sich in einen Arbeitskampf zu stürzen, der ihn die Existenz kosten konnte. Er hatte Familie und offensichtlich kam er über die Runden. Wer war Fenian, ihm einzureden, dass er mehr haben könnte und verlangen sollte? Wer war Fenian, dass er ihn töten wollte? Was hatte er damit Bukowskis Familie angetan? Er hatte Kinder. Die hatte er der Armut preisgegeben zusammen mit ihrer schwermütigen Mutter – was immer das hieß...

Harry Turner war jung, hatte das Leben noch vor sich und Pläne. Er hatte Hoffnung und glaubte nicht an die hoffnungslosen Thesen, die Fenian und seine Leute verbreiteten. Seine Welt sah anders, besser aus. Wer war Fenian, ihm seine Ambitionen ausreden zu wollen? Wer war Fenian, dass er ihn töten wollte? Sicherlich glaubte Fenian, dass Harry Turner dumm war, dass alle seine Träume zerschmettert würden, aber am Ende was das nicht seine Angelegenheit. Fenian konnte niemanden zu seinem Glück zwingen, denn Zwang war niemals Glück.

Gene Waters war gutherzig, hatte nur die besten Absichten und konnte für keine seiner Entscheidungen als Egoist oder Spalter beschuldigt werden. Er war mehr Praktiker als Fenian, er half mit seiner Arbeit und seinem Teilen mehr Menschen als Fenian mit seinen Reden. Und hatte Waters nicht auch Suppenküchen der Kirche unterstützt? Und waren es am Ende nicht lächerliche Eitelkeiten, die dafür gesorgt hatten, dass Gewerkschaft und Kirche nicht zusammenarbeiteten? War das nicht eine verpasste Chance gewesen, die zu Lastend er Armen gegangen war? Sollten sie sich nicht schämen? Wer aber war Fenian, Gene Waters Engagement niederzumachen? Wer war Fenian, dass er ihn töten wollte? Natürlich konnte Fenian Waters' salbungsvolle Sprache nicht leiden, aber das war nur eine Meinung, keine Wahrheit, nichts worauf man eine Kampagne ausbauen konnte, oder wovon man sich leiten lassen sollte. Vielleicht war Fenian auch einfach nur neidisch auf so viel selbstsichere Aufrichtigkeit und ehrliche Güte...

Greg Winters war vom Schicksal gebeutelt, ihm fehlten die Alternativen, er war genau der Mensch, für den Fenian hier her gekommen war und jetzt stellte er fest, wie er voller Mitleid auf ihn herabblickte, statt ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Wer war Fenian, dass er ihm vorschreiben konnte, was er tun musste, um aus seiner Misere herauszukommen? Wer war Fenian, dass er ihn töten wollte? Wenn man all umbrachte, hatte man am Ende auch alle Probleme gelöst, aber war das nicht genau das, wogegen er kämpfte? Niemand sollte mehr sterben müssen, nur weil er ein Problem hatte, weil er nicht hineinpasste, weil er eine andere Ansicht vertrat?

Und Sam Meyer? Ein Ekel, ohne Zweifel, aber rechtfertigte die persönliche Abneigung und die Angst davor, ihm ähnlich zu sein, einen Mord? Wer war Fenian, dass er solche Dinge entschied? Meyer war derjenige, der mit der Flinte herumlief und Leute bedrohte, der die Gegend unsicher machte, der den Tod nach Harlan gebracht hatte. Und jetzt hatte Fenian sein Werk vollendet.

Er dachte an seine Tante und seinen Onkel. Was würden sie fühlen, wenn sie erfuhren, was er getan hatte? Zum ersten Mal würden sie Enttäuscht von ihm sein und es schmerze Fenian mehr als alles andere. Sie hatten immer an ihn geglaubt, hatten ihn immer unterstützt, waren stolz auf ihn, hatten ihn gelobt, wann immer er sich für irgendetwas engagiert hatte. Und jetzt? Jetzt würden sie sich fragen, was sie falsch gemacht hatten.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top