Kapitel 11
„Erzählen Sie uns was von Ihrem Sohn Pavel", bat Gene Waters versöhnlich.
„Er ist unser Ältester", begann Caleb Bukowski, „Er ist gerade 17 geworden, aber ich glaube, dass er vollkommen außer Kontrolle ist. Ich weiß, dass Geschichten herumgehen und ich glaube, dass sie stimmen."
„Was für Geschichten?", fragte Fenian.
„Pavel ist ein anständiger Kerl", meldete sich Greg Winters, „Ich finde es beschämend, wie er von seinem eigenen Vater diskreditiert wird. Er hat mir meine Gertrud zweimal zurück nach Hause geholt. Er redet nicht dumm und er hat einen Draht zu meiner Tochter, den ich verloren habe. Gertrud ist ein schwieriges Kind. Ihre Mutter kann ihr nicht beistehen bei ihren Probleme und ich verstehe diese Probleme nicht. Pavel aber versteht sie, also reden Sie anständig von Ihrem Jungen. Es ist eine Schande, dass ein Fremder Ihren Sohn vor seinem Vater in Schutz nehmen muss, denken Sie mal darüber nach, Bukowski!"
„Er ist ein Dieb", behauptete der Angesprochene, „Er ist ein Dieb und ein Rumtreiber. Dass er sich mit Ihrer Tochter versteht, passt zu ihm."
„Und was reden Sie über meine Tochter? Das würde mich jetzt allerdings interessieren!"
„Jeder weiß, was Ihre Tochter so treibt", sagte Bukowski.
„Ach ja? Wissen Sie das also? Wissen Sie auch, dass man Dinge, die man so hört, immer auch in dem Zusammenhang verstehen muss, in dem sie stehen? Ich glaube, Ihnen und all den religiösen Heuchlern dort draußen ist das Gefühl dafür abhanden gekommen, dass Handlungen Ursachen und Gründe haben können."
„Und die Gründe für das Verhalten Ihrer Tochter ist das Versagen ihrer Eltern. Glauben Sie nicht, dass ich einem 16-jährigen Mädchen irgendetwas vorwerfe. Sie ist nicht verantwortlich für das, was sie glaubt, tun zu müssen."
„Sie unterstellen mir also Verantwortungslosigkeit?", fragte Greg Winters.
„Was soll ich Ihnen sonst unterstellen, oder glauben Sie etwas, dass Sie nichts dafür können?"
„Dafür, dass meine Frau krank ist, kann ich nichts!", befand Winters und fügte hinzu, „Aber dafür, dass Ihre Frau schwermütig ist, dafür können Sie etwas. Und dafür, dass Ihr Sohn Sie für einen Heuchler hält, dafür können Sie auch etwas."
„So? Er nennt mich einen Heuchler? Wer ihm das wohl eingeredet hat?"
„Pavel ist durchaus in der Lage selbst zu denken, glauben Sie mir. Bei Ihnen bin ich mir da aber nicht so sicher, um ehrlich zu sein."
„Hey, worum geht es hier eigentlich?", mischte sich Fenian ein.
„Das hören Sie doch", sagte Sam Meyer, „Beide haben missratene Kinder und einer findet dass das nicht schlimm ist und einer schämt sich für sie beide dafür. Ich finde das amüsant."
„Kennen Sie Pavel denn?", fragte Gene Waters, „Oder Getrud."
„Pavel nicht", gab Meyer zu, „Aber Getrud hat einen guten Draht zu Menschen, wenn ich es mal so ausdrücken soll."
„Du meine Güte!", rief Fenian.
„Werden Sie bloß nicht religiös, Mister Mac. Im Angesicht der Sünde heißt es, standhaft bleiben!"
„Die Sie denn standhaft geblieben?", fragte Fenian.
„Das kann man wohl sagen..."
„Sie widern mich an!", konstatierte Fenian, „Das Mädchen ist 16!"
„Ach sagen Sie bloß, Sie sind bis zur Volljährigkeit enthaltsam geblieben? Sind Sie überhaupt schon volljährig? Oder sind Sie etwa immer noch enthaltsam?", fragte Sam Meyer und lachte.
„Sie müssen Ihre Tochter in den Griff bekommen, Greg!", sagte Caleb Bukowski und meinte es versöhnlich.
„Ich kann ihr nichts verbieten, wenn sie sich zwischen Hunger und Hungerlohn entscheiden muss", sagte Winters.
„Aber so wird sie ihr ganzes Leben lang in diesem Sumpf stecken. Niemand wir sie heiraten, niemand wird ihr jemals helfen", sagte Bukowski.
„Weil sie alle so denken wie Sie und das ist das Problem!", behauptete Winters.
„Nein", erwiderte Gene Waters, „Das Problem ist, dass sie sich nicht helfen lassen will."
„Jetzt kommen Sie wieder damit, Gene. Ihre Art der Hilfe ist Demütigung, verstehen Sie das nicht?"
„Es ist eine Demütigung für eine Frau, wenn ich ihr anbiete, sie zu heiraten?", fragte Waters.
„Nein, aber es ist eine, wenn jemand wie Sie es nur deshalb tut, um sein eigenes Gewissen zu beruhigen", sagte Bukowski.
„Augenblick", unterbrach Fenian, „Sie haben Getrud einen Heiratsantrag gemacht? Das ist sehr nobel, finde ich."
Greg Winters schnaufte: „Erst hat er Winifred einen Antrag gemacht, aber die ist bereits verlobt und will ihr Leben nicht für so einen wegschmeißen."
„So einen?", rief Waters zum ersten Mal erzürnt.
„Einen, der nur heiratet, um ein gefallenes Mädchen bei sich aufzunehmen. Das ist eine Beleidigung und keine Schmeichelei und ich habe meine Mädchen nicht dazu erzogen, alles hinzunehmen, was man ihnen vorsetzt."
„Nein, Sie haben sie zu gar nichts erzogen", mischte sich Caleb Bukowski ein.
Winters wandte sich wieder an Fenian: „Dann hat er Gertrud einen Antrag gemacht und ihr versprochen, sie müsste diese schmutzigen Dinge nie wieder machen. Das hat das Mädchen so in Rage gebracht, dass es von zu Hause fortgelaufen ist."
„Hm", machte Fenian, denn er war nicht sicher, was er davon halten sollte.
„Greg, Sie müssen sich nicht so aufregen. Schwarze Schafe hat jede Familie. Sie müssen Gertrud so akzeptieren, wie ich Pavel akzeptiere: Zeigen Sie ihr, was Sie von ihr erwarten, belohnen Sie sie für angemessenes Verhalten und bestrafen Sie unangemessenes", sagte Bukowski.
„Meine Tochter ist kein Dressurpferd", rief Winters, „Sie ist ein Mensch mit Rechten."
„Und Pflichten", erinnerte Bukowski.
Fenian war aufgefallen, dass sie inzwischen so miteinander redeten, als hätten sie noch eine Chance jemals wieder das Sonnenlicht zu sehen, als würden sie ihre Familien wiedersehen können und von da an alles besser machen. Er war ein tröstlicher Gedanke, dass man sogar eine solch akute Bedrohung wie das lebendig Begraben-sein zu Gunsten einer illusionären Hoffnung verdrängen konnte.
„Glauben Sie Pavel könnte Gertrud aus ihrem Elend retten?", fragte Gene Waters.
„Ich hoffe es zumindest."
„Sie hoffen vergebens, Greg", sagte Bukowski, „Pavel wird ihrer Tochter nichts bieten können, nicht einmal ein Dach über dem Kopf."
„Ich halte Verständnis nicht für nichts", sagte Winters.
„Verständnis kann man nicht essen, es hält einen nicht warm und trocken", warf Sam Meyer ein.
„Sie sind ein Romantiker, Greg, das ist Ihr Problem", sagte Bukowski.
„Und Sie sind ein Holzklotz, das ist das Problem Ihrer Frau."
„Meine Töchter verkaufen sich zumindest nicht an schmierige Typen wie unseren Mister Meyer hier. Auch unter schwierigen Umständen kann man anständig leben, Greg. Den Trick beherrschen Sie nicht und Ihre Kinder haben niemanden, von dem sie es lernen könnten."
„Ihre Töchter?", fragte Winters, „Kompensieren die also das Versagen Ihres Sohnes? Für Sie ist wohl wirklich alles eine Rechenaufgabe."
„Ja, ich kann rechnen", sagte Bukowski, „Maria ist tüchtig und es würde mich nicht wundern, wenn sie irgendwann ein Stipendium bekommt und an der Ostküste studiert. Heutzutage können junge Frauen sowas ohne Weiteres machen, wenn sie geistig fit genug sind. Andere müssen heiraten und wieder andere gehen auf den Strich. Das ist was unsere Nation so erfolgreich macht: Wer begabt ist, bekommt seine Chance und kann schließlich zum Wohle aller seine Fähigkeiten einsetzen."
„Sie sind ja mächtig stolz. Sicher, dass sie nicht übertreiben?", wand Gene Waters ein, „Mir kommt ihre Maria ein wenig überambitioniert vor. Am Ende opfert sie ihrer Karriere ihre Natur und ihre Moral. Darauf sollten Sie sie hinweisen."
„Was ist das denn für eine Anspielung?", fragte Bukowski.
„Sind Sie denn schon mal an der Ostküste oder an einer Universität gewesen? Wissen Sie denn, was dort vor sich geht? Um ehrlich zu sein, gefällt mir Ihre Selma besser als Maria. Sie engagiert sich für die richtigen Dinge, die für ein Mädchen angemessen sind."
„Was Sie für ein Mädchen angemessen halten, hat die Mädchen schon vor hundert Jahren gelangweilt", sagte Greg Winters, „Was mich an dieser Diskussion stört, ist dass niemand nach den Interessen der Mädchen fragt, sondern immer nur darüber geredet wird, was Sie für angemessen halten. Ich bin nun mal Vater von zwei eigenwilligen Töchtern und ich weiß, dass ich sie nicht mit Gewalt zu etwas zwingen möchte, das ihrem Naturell nicht entspricht, denn ich liebe meine Töchter. Das ist etwas, woran man Cal mal erinnern sollte: Liebe ohne Bedingungen."
„Ich finde nicht, dass es Ausdruck einer Persönlichkeit ist, wenn ein Kinder sich prostituiert", meinte Fenian nachdenklich, „Gleichwohl sehe ich ein, dass es Ausdruck einer Verzweiflung sein kann. Am Ende ist jede Lohnarbeit nichts weiter als Prostitution."
„Sie wollen also Arbeit verbieten?", fragte Caleb Bukowski.
„Sie wollen immerhin bestimmte Arbeit verbieten. Und zwar mit nichts weiter als dem Argument, dass sie unmoralisch ist. Wer definiert das? Sie, die Sie diese Arbeit weder ausüben, noch in Anspruch nehmen? Wie kommen Sie also dazu? Was macht Sie zu einem Experten? Ich frage mich das schon lange", sagte Fenian, „Wie kommt ein katholischer Priester dazu, Familien zu erklären, wie sie ihre Kinder zu erziehen haben? Er weiß doch weder etwas über Familien noch über Kinder."
„Es gibt Dinge, die muss man einfach als Fakt annehmen", sagte Gene Waters, „Gesetze sind nun mal nicht verhandelbar."
„Nun, da bin ich anderer Ansicht", sagte Fenian, „Alles ist verhandelbar. Die ganze Welt ist ein riesiger Marktplatz. Rechte, Ansprüche, Versprechen und Arbeitsleistung wird gekauft und verkauft. Es sind Waren. Warum also nicht auch Gesetze? Wer am meisten zahlt, kann sie nach seinem Willen umschreiben. Wieso nicht? Seien Sie ehrlich, jede Moral ist käuflich."
„Nicht die Gesetze, die er Herr uns offenbart hat", meinte Waters.
„Sie finden also, wir sollten diese Nation nach den Lehren der Heiligen Schrift ausrichten?", fragte Fenian.
„Sie wäre zumindest ein Maßstab."
„Sie ist tausende Jahre alt", erwiderte Fenian, „Wie können Sie glauben, was darin steht hätte heute noch Relevanz?"
„Haben Sie nicht eben noch die Unzuverlässigkeit und Veränderlichkeit von Werten und Gesetzen kritisiert?"
„Nicht im geringsten", sagte Fenian, „Ich habe sie nur behauptet, nicht bewertet."
„Die Heilige Schrift ist von einer ewigen und universellen Wahrheit. Die Wahrheit kann man nicht verkaufen, wie sie es so schön ausgedrückt haben."
„Ein frommer Wunsch. Sie glauben wirklich dran, oder?"
„Wenn wir nicht glauben, was gibt es dann noch für uns zu tun?"
„Wir könnten versuchen, Wissen zu erwerben", sagte Fenian, „Glauben gibt Antworten ehe die Fragen gestellt wurden und verhindert so, dass Fragen gestellt werden. Deshalb sind Sie hier, Mister Waters. Sie haben nicht hinterfragt, was Sie glauben."
„Haben Sie es denn hinterfragt?", fragte Waters.
„Hätte ich es nicht getan, wäre ich nicht hier."
„Wir halten fest", warf Sam Meyer ein, „Ob man Fragen stellt oder nicht, ist egal, denn wir sind alle verdammt."
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