Kapitel 10

Caleb Bukowski hatte schließlich doch sein wahres Gesicht gezeigt, dachte Fenian. Anerkennung und Mitleid hatte er mit Greg Winters Kinder, weil deren Vater arbeiten ging. Für all die anderen Kinder hatte er nichts übrig als Verachtung. Ja, für seinen eigenen Sohn hatte er nichts als bittere Worte übrig. Einen Faulpelz hatte er ihn genannt und gemeint hatte er „Nichtsnutz". Was für eine Geringschätzung!

Fenians Vater hätte so etwas nie vor anderen Leuten gesagt, selbst wenn Fenian manchmal faul in der Schule war und sich herumtrieb, zwielichtige Freunde hatte oder sich auf der Straße prügelte. Sowas taten Jungen nun mal. Es wuchs sich aus.

Auch Onkel Norbert richtete so manche Ermahnung an ihn, nie aber gab er Fenian das Gefühl, Ballast zu sein, obwohl er das natürlich zweifelsohne gewesen war. „Man muss die Kinder loben, wenn es angemessen ist", hatte der Onkel gesagt, „Und man muss sie tadeln, damit sie sich verbessern, nicht aber, um sie zu herabzuwürdigen. Der Starke beweist seine Stärke damit, dass er anderen aufhilft, nicht darin, dass er andere niederdrückt."

Fenian stellte sich vor, was er getan hätte, hätte Onkel Norbert ihn jemals einen Nichtsnutz genannt. Er glaubte, dass er davon gelaufen wäre. Ohne Abschied, ohne Versprechen. Davon. Und wahrscheinlich würde er heute nicht mehr leben. Solche Geschichten passierten. Sensible Menschen neigten zu Frustration und unbedachten Handlungen. Naive Menschen wurden ausgenutzt und betrogen. Als junger Mann war Fenian beides gewesen: Sensibel und naiv.

Bukowski hingegen war alles andere als sensibel. Er missachtete seinen eigenen Sohn, ohne sich selbst dabei die Schuld zu geben, dass er in seinen Augen missraten war. Wenn das nicht Heuchelei war!

Nicht jeder wollte in die Fußstapfen des Vater treten und nicht jeder bekam alle Chancen, die er brauchte. Fenian kannte Pavel Bukowski nicht, aber vielleicht war er einfach ein Mensch, dem körperliche Arbeit nicht lag. Vielleicht war ein musisch begabt oder besonders intelligent. Vielleicht wäre er ein großartiger Mathematiker oder ein Architekt oder Farmer geworden. Es war nicht seine Schuld, dass er in einem Kohleabbaugebiet geboren worden war.

„Warum streiken Sie nicht, Mister Bukowski?", fragte Fenian.

„Führen Sie hier eine Umfrage durch oder ist diese Frage eine verkappte Anklage?", fragte Caleb Bukowski.

„Es interessiert mich, welch ein Selbstbild ein Mensch hat, der seinen eigenen Sohn verachtet", erwiderte Fenian.

„Dann hätten Sie ihren Vater fragen sollen", fand Sam Meyer.

„Mein Vater verachtete mich nicht!", behauptet Fenian.

„Na, ich nehme an, er weiß noch nicht, dass er seinen Sohn zu einem Mörder erzogen hat."

„Warum streiken Sie nicht, Mister Bukowski?", wiederholte Fenian, um Meyer deutlich zu machen, dass er ihn von nun an ignorierte.

„Weil es dumm ist, deshalb", sagte Bukowski.

„Wieso halten Sie es für dumm?"

„Wer seinen Job verlieren will, der sollte sich bei der Gesellschaft unbeliebt machen. Ich will meinen Job behalten, also tue ich, was man von mir verlangt. Es geht der Nation nicht gut, ich weiß, aber wir lösen die Probleme nicht, indem wir die Arbeit niederlegen, sondern indem wir anpacken und vielleicht auch das ein oder andere Opfer bringen. Wer sparsam lebt, der braucht nicht zu betteln, wenn er nur fleißig ist. Wer aber faul und gierig ist, der muss sich auf die Freundlichkeit von Fremden verlassen."

„Es ist nicht die Freundlichkeit von Fremden, es ist die Unterstützung der Gesellschaft und des Staates", sagte Fenian.

„Ach ja? Wollen Sie also, dass andere Ihre Probleme lösen?"

„Es wäre mir sehr recht, wenn jemand von außen versuchen würde, das Problem dieser verschütteten Mine zu lösen", sagte Fenian.

„Das wird nicht passieren", meinte Sam Meyer, „und das wissen Sie."

„Und das ist das Problem mit diesem Land!"

„Nein, mein Lieber, das Problem in diesem Land, sind Leute wie Sie, die Minen zum Einsturz bringen", mischte sich Caleb Bukowski wieder ein, „Aber sei's drum. Sehen Sie, wir werden keine Freunde, auch wenn Sie sich das vielleicht wünschen. Ich halte Sie für einen Parasiten, nicht für einen Partisanen. Dennoch bin ich daran interessiert, dass wir hier so gesittet und ruhig wie möglich miteinander umgehen, bis das Unvermeidliche eintritt. Ich will keine Provokationen, keine Angriffe, keine Gewalt, es lohnt sich einfach nicht. Aber ich sage Ihnen hiermit aus tiefsten Herzen, dass ich Sie und Ihresgleichen verabscheue. Sie retten die Welt nicht, indem Sie sie lahmlegen und zerstören. Sie retten sich selbst nicht, indem Sie andere manipulieren. Übernehmen Sie Verantwortung für Ihr Leben, hätte ich Ihnen geraten, wenn wir noch ein Leben vor uns hätten! Gehen Sie arbeiten und wenn Ihnen der Lohn nicht genug ist, dann gehen Sie und suchen sich einen neuen Job!"

„Wenn es so einfach wäre", rief Fenian dazwischen, „Bräuchte es keinen Streik. Aber wo finden Sie denn einen anderen Job? In Kalifornien? Glauben Sie das? Mister Turner, glauben Sie, dass sie in Kalifornien gute bezahlte Arbeit finden? Träumen Sie weiter! Es gibt im ganzen Land keine gut bezahlte Arbeit mehr! Im ganzen Land leben die Menschen in improvisierten Camps, stehlen und betteln. Wo soll man hingehen? Wo wird man nicht verjagt? Sie lösen die Probleme dieses Landes nicht, indem sie diejenigen, die überzählig sind, sterben lassen oder von einer Hooverville zur nächsten treiben!"

„Also wenn ein paar Faulpelze das Zeitliche segnen würden, hätte ich kein Problem damit", sagte Sam Meyer, „Es ist nicht so schwer ein sauberes Leben zu führen, es gelingt genug Menschen, sodass ich durchaus geneigt bin, anzunehmen, dass all jene, die herum jammern, sie würden verhungern, schlicht mit Geld nicht umgehen können. Sie versaufen, verrauchen oder verspielen ihr Geld, werfen es Huren in den Rachen oder geben es irgendeinem anderen armen Tropf. Wer nicht haushalten kann, der hat es nicht verdient, dass man ihm noch mehr Geld in die Hand gibt, das er doch nur wieder verprassen würde, Wir dürfen Schlendrian nicht subventionieren. Erzwungene Sparsamkeit ist eine sehr gute Erziehungsmaßnahme, wenn schon Bundesgesetze nicht eingehalten werden. Oder glauben Sie, wir wüssten nicht, woher der Alkohol bezogen wird? Wenn das Gefängnis schon niemanden mehr schreckt, dann vielleicht die Aussicht auf Armut."

„Das Gefängnis schreckt die Leute deshalb nicht, weil es den Gefangen dort besser geht als ihnen in dem, was Sie Freiheit nennen würden, in Wirklichkeit aber ein Dasein voller Maloche für einen Hungerlohn ist. Sie reden hier so theoretisch daher, aber Sie werden von Steuermitteln bezahlt, Mister Meyer!"

„Und Sie? Malochen Sie denn hier unten?", fragte Bukowski.

„Ich hab noch ein bisschen Selbstachtung, wissen Sie?", giftete Fenian, „Mag sein, dass Sie und Harry Turner hier glauben, irgendwann als Gewinner hervorzutreten aus dieser Geschichte, aber wenn Sie gewinnen, verliert die Geschichte. Vielleicht glauben Sie, Tüchtigkeit macht den Unterschied zwischen wertvollen und wertlosen Menschen, vielleicht glauben Sie, jeder hat die Chance, etwas aus sich zu machen, wenn er nur seine Neigungen und Bedürfnisse überwindet und ganz zum Werkzeug und zur Maschine verkommt. Vielleicht glauben Sie das und vielleicht wünschen Sie sich diese Selbstauflösung ja auch für sich selbst, aber zwingen Sie doch nicht all Ihre Mitmenschen dazu!"

Wir zwingen niemanden", meldete sich Harry Turner, „Mir ist egal, ob einer streikt oder nicht. Ich tue, was ich kann und ich glaube, dass ich ein Recht auf Bezahlung habe – allerdings nur, wenn ich auch tatsächlich Einsatz zeige. Wie wollen die Leute dort oben mit ihren Flinten und Schildern denn beweisen, was sie können, wenn sie sich weigern? Ich verstehe den Sinn darin nicht. Sie wollen ein gutes Leben? Schön, tun Sie was dafür! Setzen Sie sich ein!"

„Und Ihr Problem, Harry, ist, dass nicht wissen, was Bescheidenheit ist", sagte Bukowski.

„Ich brauche nicht bescheiden zu sein, wenn ich bekomme, was ich verdiene", sagte Turner.

„Und bekommen Sie denn, was Sie Ihrer Meinung nach verdienen?", fragte Fenian.

„Noch nicht, aber ich werde mich hocharbeiten. Jeder fängt mal klein an."

„Wirklich jeder? Auch die Kinder der Bosse, die das alles hier mal erben werden? Wie klein haben Sie angefangen und wie klein müssen die Kinder von Mister Winters anfangen?", führte Fenian weiter aus, „Was ist Ihre Definition von Gerechtigkeit, Mister Turner?"

„Es wäre jedenfalls ungerecht, jemandem, der etwas mit seiner Hände Arbeit verdient hat, dieses wegzunehmen, um es jemand anderem zu geben, der nichts verdient hat."

„Aber hat dieser jemand, der nichts verdient hat, denn nicht gearbeitet?"

„Das kann man nicht sagen. Wie wollen Sie beweisen, dass jemand fleißig war, wenn er nichts hat? Ich glaube, diese Beweisführung ist sehr schnell abgeschlossen."

„Ich glaube, Mister Winters Kinder haben in ihrem Leben mehr gearbeitet, als die Kinder des Vorstandsvorsitzenden", sagte Fenian.

„Und ich glaube, die Kinder des Vorstandsvorsitzenden werden eines Tages sehr viel mehr leisten als die Kinder von Mister Winters", sagte Harry Turner trotzig.

„Ja, weil Mister Winters Kinder verhungert oder erfroren sein werden", sagte Fenian.

„Und bedenken Sie, dass die Gesellschaften hoch verschuldet sind. Ich möchte diese Kredite nicht bedienen müssen. Es ist eine große Verantwortung..."

„Mister Turner, seien Sie nicht naiv!", sagte Fenian, „Glauben Sie wirklich, diese Leute haften mit ihrem privaten Vermögen?"

„Ich glaube, dass Sie das beste tun, um den Betrieb am Laufen zu halten und wenn sie Gewinne machen, dann vergrößern sie sich und geben mehr Leuten Arbeit. So verringert man die Armut, nicht über Wohlfahrtsprogramme, die Sie aus dem Nichts heraus finanzieren wollen", sagte Harry Turner, „Woher wollen Sie das Geld nehmen, Mister McKenna, sagen Sie es mir! Woher nehmen Sie das Geld, wenn Sie alle Betriebe, die Steuern zahlen könnten, bestreiken oder mit Zwängen belasten?"

„Woher soll ihr Lohn kommen, wenn Sie die Betriebe nicht mit Kosten belasten wollen?", fragte Fenian zurück.

„Wenn der Lohn nicht stimmt, werden die Betriebe keine Arbeiter finden...", begann Harry Turner etwas herunterzubeten, das er mal irgendwo gehört haben musste, denn verstanden konnte er es nicht haben.

„Ja, was glauben Sie, was dort oben gerade passiert?", rief Fenian außer sich, „Sie sind gegen ein Recht, zu streiken und argumentieren dann, dass ein gerechter Lohn sich dadurch ermittelt, dass Arbeiter bereit sind, für ihn zu arbeiten? Ist Ihnen nicht klar, dass Sie sich selbst wiedersprechen?"

Turner schwieg.

Fenian aber fuhr fort: „Was sind Sie nur für ein Haufen! Sie singen das Hohelied des Kapitalismus und sind sogar bereit, ihm Ihre eigenen Kinder zu opfern! Lieben Sie Ihren Sohn denn nicht um seiner selbst willen, Mister Bukowski? Oder hassen Sie ihn, weil er nicht in Ihr Weltbild passt?"

„Ich hasse ihn nicht", sagte Bukowski, „Ich bin enttäuscht von ihm."

„Lieben Sie ihn aber?", fragte nun Gene Waters.

„Ich weiß nicht, wieso diese Frage irgendeine Relevanz besitzt."

„Lieben Sie ihn?", fragte Fenian.

„Was geht es Sie an?"

„Was sind Sie für ein Mensch, Mister Bukowski?"

„Ich bin ein aufrechter, bescheidener Mann, Mister McKenna, ich schäme mich nicht für das, was ich bin, tue oder sage."

„Aber für das, was sie fühlen", schloss Fenian, „Schämen Sie sich dafür, dass Sie Ihren Sohn lieben, oder schämen Sie sich dafür, dass Sie es nicht tun? Sagen Sie es und wir entscheiden, ob Ihre Seele noch zu retten ist."

„Sie wollen meine Seele retten, Mister McKenna?"

„Ich will, dass sie mit ihr leben können."

„Ich werde nicht leben."

„Dann sollen sie guten Gewissens sterben."

„Indem ich vor Ihnen die Beichte ablege?"

„Nun sagen Sie nicht, dass Sie an sowas nicht glauben!", mischte sich Sam Meyer ein.

„Würde ich meinen Sohn nicht lieben, wäre ich nicht enttäuscht von ihm. Würde ich ihn nicht lieben, wäre mir gleichgültig, was aus ihm wird. Aber er macht uns Probleme und ich werde sie nicht ignorieren, weil ich ihm helfen möchte, ein angemessenes Leben zu führen", sagte Caleb Bukowski schließlich, „Sind Sie jetzt zufrieden? Der Herr wird mir vergeben."

„Was denn?", fragte Gene Waters, „Sie haben sich nichts zu schulden kommen lassen."

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