5.
Kalifornien, Sierra Nevada
Naima fragte sich immer öfter, wohin sie eigentlich gebracht wurde. Sie waren nach der ersten Nacht wieder in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen, dann den ganzen gestrigen Tag durchgeritten. Heute war es nicht anders gewesen. Trotzdem sah man in allen Richtungen nur Bäume, Dickicht, Felsen und wieder Bäume.
Naima war sich inzwischen im Klaren, was genau mit dem »Wildnis« gemeint war. Hier gab es nichts. Absolut nichts.
Die Situation erschien ihr so unwirklich, als befände sie sich mitten in einem Film, dessen Drehbuch sie nicht kannte. Unendlich schleppend zogen Minuten und Stunden vorbei und die ganze Zeit saß sie in stumme Abwehr vor Liam auf dem Pferd. Inzwischen bestand ihr einziges Interesse darin, so wenig wie möglich mit ihm in Berührung zu kommen. Alle anderen Gedanken schienen vor Erschöpfung wie abgestorben.
Unvermittelt begannen die Männer zu sprechen und weckten sie aus ihrer Lethargie. Stirnrunzelnd hob sie den Kopf. Die Sonne ging gerade erst hinter den Baumspitzen unter, daher war es noch viel zu früh, das Nachtlager aufzuschlagen. Etwas anderes musste Grund für die Unterhaltung sein.
Auf der Suche nach einer Antwort schweife ihr Blick über die Umgebung. Plötzlich kniff sie irritiert die Augen zu Schlitzen zusammen. Das war doch nicht möglich. Naima beugte sich vor und sah noch einmal genauer hin.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Reiter und Pferde steuerten auf eine Waldhütte zu, die unerwartet zwischen den Bäumen aufgetaucht war. Wären sie nur hundert Meter daran vorbeigeritten, sie hätte durch den dichten Wald nicht einmal geahnt, dass es überhaupt eine Hütte gab.
Sie hielten auf der kleinen Lichtung direkt vor den niederen Holzstufen am Eingang der Unterkunft. Liam saß ab und zerrte Naima aus dem Sattel.
Die enorme Anspannung und Belastung der letzten Tage zollten ihren Tribut. Ihre Knie gaben nach wie gekochte Nudeln, waren einfach nicht mehr in der Lage, sie zu tragen. Nicht gerade anmutig sank sie auf die platt getretene Erde.
Ohne sie zu beachten, sattelte Liam das Pferd ab und stapfte mit dem Gepäck ins Haus. Zwei der anderen Männer folgten ihm. Es war erniedrigen, wie wenig er offenbar mit einem neuen Flucht ersuche rechnete. Deutlicher hätte er nicht demonstrieren können, wie ausweglos ihre Lage war.
Naima saß taub da, viel zu erschöpft, um ihre Muskeln zum Aufstehen zu zwingen. Trotzdem wollte sie nicht einfach aufgeben. Nicht mental. Sie würde sich etwas Rettendes überlegen ... morgen.
Kräftige Finger schlossen sich um ihren Oberarm und ließen sie aufstehen. Harry war neben sie getreten. Mit einer ruckartigen Bewegung holte er sie wieder auf die Füße und schob sie vor sich her in die Hütte.
Die Unterkunft enthielt eine wesentlich bessere Ausstattung, als sie vermutet hatte. Ein Satellitentelefon stand auf einem der Tische, ein Laptop samt Scanner danaben. In der Ecke stapelt sich eine beängstigende Menge aller erdenklichen Waffen. Keine Frage, Viva La Revolution hatte die Mittel, Forderungen durchzusetzen.
Harry drückte sie auf einen der Stühle und verschwand durch die nächstgelegene Tür. Kurz darauf hörte sie, wie draußen ein Stromaggregat ansprang und knatternd seine Arbeit aufnahm. Die Deckenbeleuchtung flackert und ging an, tauchte den Raum aber in trübes Licht.
Liam schaltete den Laptop ein. Während das Gerät leise klickend bootete, wandte er sich seinen Satteltaschen zu und holte eine Tageszeitung sowie eine Digitalkamera heraus.
Harry kehrte zurück und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen. Unsicher blickte sie von einem zum anderen.
Liam trat vor sie und griff nach ihrem Kinn, wischte ihr grob einige Strähnen aus dem Gesicht, dann streckte er ihr die Zeitung entgegen. „Los, festhalten!“
Sie klemmte die Ausgabe vom Tag der Entführung zwischen ihre gefesselten Hände. Liam trat einige Schritte zurück und machte zwei Blitzlichtaufnahmen. Naima blinzelte in das grelle Licht. Mit ihrem verdreckten Gesicht und den wirren Haaren gab sie bestimmt ein aussagekräftiges Motiv ab. Neugierig verfolgte sie, wie Liam die Kamera an den Laptop anschloss.
„Wie ist dein Name?“, fragte er barsch, beide Handflächen auf die Armlehnen des Stuhls gestützt.
Naima schwieg.
Liam fluchte und riss sie ohne Vorwarnung samt Stuhl zu sich. Harry kam hinter ihm sofort in Bewegung, blieb dann aber stehen. Er sprach kein Wort, verfolgte nur wachsam die Szene, den Körper abwartend gespanntwie ein Tiger vor dem Sprung.
Liam beugte sich noch dichter über Naima. „Du hast gerade dein Abendessen verspielt, Chica. Ich frag dich jetzt noch mal. Wie ist dein Name?“
Naima zögerte und sah kurz an Liam vorbei auf Harry. Sie wusste nicht, warum, sie tat es einfach. Sein Gesicht war unbewegt wie immer, nur seine grünen Augen sprachen eine deutliche Warnung.
Sie schluckte. „Naima Collister“, sagte sie leise.
Liam schürzte die Lippen und kehrte zum Computer zurück. Naima brauchte nicht zu sehen, was er schrieb. Sie begriff auch so, was vor sich ging. Ihr Bild diente als Druckmittel für die Forderungen, die ihre Entführer stellen wollten. Die Frage war nur, ob die entfernte Möglichkeit bestand, dass diese Forderung auch erfüllt wurde.
„Rodrigues.“ Liam machte eine bezeichnende Koofbewegung in ihre Richtung.
Der Angesprochene trat vor, griff nach ihr, schleifte sie quer durch den Raum und öffnete die Tür zu einem Nebenzimmer.
Der kleine Verschlang war lediglich mit einer unbequem aussehenden Holzpritsche ausgestattet, nach einem Fenster oder vergleichbaren Öffnungen suchte Naima vergebens. Kalte Angst krallte sich in ihren Magen, ließ sie augenblicklich reagieren. Sie wehrte sich wie eine Verrückte, während der Mann sie hineinstieß. Selbst, nachdem er die Tür längst geschlossen hatte, tobte sie weiter, schlug mit einer Ausdauer gegen das stabile Holz, die nur aus entsetzlicher Platzangst geboren wurde. Wellen der Panik schwappten über ihr zusammen und steigerten ihren Herzschlag zu einem dröhnenden Stakkato.
Sie spürte weder, wie ihre Handflächen an dem rauen Holz aufschürften noch den Schmerz, mit dem der Strick in ihre Gelenke Schnitt. Es zählte nur, dass sie aus diesem Raum kam. Egal wie. So schnell wie möglich. Sofort!
Naima trat unbeirrt gegen die Tür, setzte jedes verfügbare Mittel ein, um eine Reaktion der Männer hervorzurufen. Die kam dann auch. Kurz und schmerzvoll.
Rodrigues riss die Tür auf, packte sie an den Schultern und schleuderte sie in Richtung der Pritsche. Sie stolperte und ging zu Boden. Grob drückte er ihr eine Lage Klebeband über den Mund, dann fesselte er ihr linkes Fußgelenk mit derart wenig Abstand an das Holzgestell, dass ihr nur noch ein lachhaft kleiner Bewegungsradius blieb. Er verließ den Raum und warf die Tür hinter sich zu.
Naima fand sich erneut in völliger Dunkelheit wieder. Kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Ihr Puls rangierte inzwischen auf einem Level, als drohte ihr akute Gefahr. Sie begann zu hyperventilieren. Kaum noch zu einer Handlung fähig, kippte sie zur Seite und kauerte sich wie ein verstörtes Kind zusammen. Schwindel, Panik, tiefschwarze Enge umgaben sie wie ein Leichentuch. Die Angst, unter dem Klebeband zu ersticken, verdrängte jeden rationalen Gedanken. Bald blieb nichts mehr übrig außer diesem grauenhaft Toten Vakuum.
Auf den Boden gepresst rang sie nach Luft. Weiße Punkte tanzten vor ihren Augen und sie fühlte sich, als wäre kein Quäntchen Sauerstoff mehr im Raum. Staub drang in ihre Nase und reizte ihre Lungen. Husten fuhr sie auf, knallte dabei mit der Schulter gegen die Kante der Pritsche. Der Schmerz war furchtbar, doch er ermöglichte es ihr endlich, den Nebel der Panikattacke zu durchbrechen. Ihre Sinne meldeten sich nach und nach zurück und sie nahm die Umgebung wieder wahr. Trotzdem schienen Jahre zu vergehen, bis es ihrem Gehirn gelang, zusammenhängende Worte zu bilden.
Alles ist gut. Bleib ruhig. Du kannst atmen. Der Raum bietet genug Platz. Ganz ruhig. Du kannst atmen.
Sich vor und zurück wiegend, betete Naima die Sätze immer wieder herunter. Sie wusste nicht, wie lange sie so ausharrte, sie wusste nur, dass sie stetig weiteratmen musste. Einen Atemzug nach dem anderen zu nehmen, nur darauf kam es an. Zeit hatte in dieser undurchdringlichen Schwärze keine Bedeutung. Die Hysterie ebbte ab und nahm die Starre mit sich.
Zitternd lehnte sie den Kopf gegen das Holz der Pritsche. In einem Versuch, ihre verkrampfte Haltung zu lockern, streckte sie die Beine. Der Strick um ihren Knöchel stoppte ihre Bewegung, noch ehe sie die Knie ganz durchdrücken konnte. Naima tastete über den Knoten am Fußgelenk. Bombenfest. Genau wie der an den Händen. Sie lehnte sich zurück. Was sollte sie jetzt tun? An die Tür kam sie jedenfalls nicht mehr.
Ihre Situation konnte hoffnungsloser nicht sein. Sie befand sich in einem dunklen Raum mitten in der Wildnis. Ohne Aussicht auf Hilfe oder Rettung, völlig auf sich allein gestellt. Bewacht von einer Gruppe Männer, die weiß Gott was mit ihr vorhatten.
So hatte sie sich ihren Urlaub nicht vorgestellt.
Resigniert starrte sie ins Nichts.
Stundenlang saß sie da, ohne sich zu bewegen. Was blieb ihr auch anderes übrig? Jedenfalls nichts, was die Situation in irgendeiner Weise verbessert hätte. Irgendwann fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
Mitten in der Nacht – oder war es schon Morgen? – schreckte Sie zitternd vor Kälte auf. Mit steifen Gliedern kraxelte sie auf die Holzpritsche und breitete eine der muffig reichenden Decken über sich.
Sie wurde erst wieder wach, als jemand sanft an ihrer Schulter rüttelte. Orientierungslos blinzelte sie einige Male, dann setzte die Erinnerung ein.
Naima riss die Augen auf.
Harry stand über ihr, eine Metallschüssel und einen Becher in den Händen.
Er wartete, bis sie sich aufgerichtet hatte, entfernte dann das Klebeband von ihrem Mund und streckte ihr den Becher entgegen. „Hier, du musst was essen und trinken.“
Er reichte ihr die Schüssel. Neben einem Stück Brot befand sich eine undefinierbare braune Masse drin.
„Was ist das?“
Harry's Miene verfinsterte sich, als er ihren angeekelten Gesichtsausdruck bemerkte.
„Wonach sieht es denn aus?“
„Das willst du gar nicht wissen.“
„Da hast du verdammt recht. Los, nimm! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“
Die sture Arroganz, mit der er ihr Schüssel und Becher vor die Nase hielt, rief Naimas Wut auf den Plan. Was erwartete er denn? Dass sie den widerlichen Fraß auch noch dankbar annahm?
Einen Moment lang spielte sie ernsthaft mit dem Gedanken, ihm die Schüssel aus der Hand zu schlagen.
„Denk nicht mal dran“, stoppte seine kalte Stimme sie, noch ehe sie die Ideezu Ende geplant hatte. Sie riss den Kopf hoch. Wie Messerklingen kreuzten sich ihre Blicke. Hätte der Ausdruck darin töten können, wären sie vermutlich beide auf der Stelle umgefallen.
Harry stellte das Frühstück neben der Pritsche auf den Boden und verschwand. Kurze Zeit später kam er mit einer brennenden Petroleumlampe zurück.
„Wenn du irgendwelchen Unsinn mit dem Feuer anstellst, wirst du mich kennenlernen.“ Er sprach in beiläufigem Tonfall, bei dem sich Naima dennoch sämtliche Nackenhaare aufrichteten. Unwillkürlich kam ihr wieder in den Sinn, was ihr bei seinem Anblick im Auto als Erstes durch den Kopf geschossen war: Kraft, gepaart mit wachsamer Schnelligkeit. Dieser Eindruck hatte sich bisher nur bestätigt. Obwohl Harry im Gegensatz zu Liam bisher nie handgreiflich geworden war, verspürte sie nicht das geringste Bedürfnis, den Wahrheitsgehalt seiner Drohung auszutesten. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er genau das meinte, was er sagte. Schweigend vermied sie es, ihn anzusehen. Eigentlich hatte sie gar nicht vorgehabt, mitdem Feuer herumzuexperimentieren. Das Risiko eines eskalierenden Brandes wollte sie nicht eingehen. Vor allem nicht, solange sie gefesselt war. Aber das musste sie ihm ja nicht auf die Nase binden. Sollte er ruhig denken, sie wäre zu allem fähig.
Mit seiner üblichen Geschmeidigkeit machte Harry kehrt und verließ den Raum. Naima wartete, bis die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, dann rutschte sie vom Bett.
Ihre Unterkunft war zwar weiterhin nicht gerade das Hilton, aber wenigstens hatte sie jetzt etwas Licht.
Langsam und beherrscht kaute sie an dem trockenen Brot und trank etwas Wasser aus dem Becher. Es kostete sie einiges an Überwindung, auch den Rest ihrer Mahlzeit zu probieren. Erleichtert stellte sie fest, dass es sich bei der braunen Paste schlichtweg um Käse handelte, selbst wenn er nur unwesentlich besser schmeckte, als er aussah.
Sie teilte Rationen ab und ließ sich Zeit. Wer wusste schon, wann sie das nächste Mal etwas zu essen bekommen würde.
Hallo ihr lieben.
Ein ganz großes Sorry ich glaube hier war jetzt ein Jahr oder länger Ruhe.
Bei mir hat sich einiges geändert arbeitstechnisch. Wodurch ich dort erstmal Routine reinbringen musste.
Ich hoffe natürlich das sich der ein oder andere noch an diese Story erinnern kann.
Ich werde versuchen jetzt öfter mal zu Updaten. Ich kann aber nicht versprechen ob wöchentlich oder monatlich...
Wie hat euch das Kapitel gefallen?
Bis zum nächsten mal
Jule
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