4.

Kalifornien, Mariposa

James Raimond starte ungläubig auf das Überwachungsvideo. Er sah das im Laden seines Freundes Sean Blairman aufgenommene Band bestimmt schon zum zehnten Mal. Trotzdem wollte er es nicht wahrhaben. Er war seit über zwanzig Jahren Sheriff von Mariposa und hatte immer stolz behauptet, dass in seinem Bereich, mit Ausnahme der Verkehrsdelikte, keine großen Verbrechen begangen wurden. Damit hatte er auch recht gehabt ... bis vor wenigen Tagen.
Bis zwei Typen Geschichte geschrieben hatten, indem sie Sean überfallen und eine junge Frau als Geisel genommen hatten.

Er drückte die Rückwärtstaste am Rekorder und sah sich das Band noch einmal an, als würde sich dadurch plötzlich Geheimnisse offenbaren, die ihm vorher entgangen waren.
Nachdem er wieder an der Stelle angekommen war, an der einer der Männer kurz vor Verlassen des Stores eine Parole gerufen hatte, schüttelte er frustriert den Kopf. Das schlug dem Fass ja noch den Boden aus. Jetzt hatten sie schon Ton auf dem Band und verstanden trotzdem kein einziges Wort.

Sean hatte angemerkt, dass die beiden Männee vermutlich Südamerikaner waren, was nahelegte, dass sie Spanisch gesprochen hatten. So weit, so gut. Und jetzt?

James setzte sich gerade hin und zog den Hosenbund über seinen Bauch. Verflixt, die Uniform brachte ihn noch um. Er musste seiner Frau Mary umbedingt verbieten, jeden Morgen zwei Brownies in seine Frühstücksbox zu legen. Er wandte sich zu seinem tüchtigsten Polizisten um, der hinter ihm stand.

„Und, hast du was verstanden, Niall?“, fragte er hoffnungsvoll. Deputy Niall Horan war heute aus dem Urlaub zurück und sah das Band zum ersten Mal.

„Mmh. Es könnte Spanisch sein. Meinst du nicht? Vielleicht kann Alonzo uns weiterhelfen. Ich gehe ihn holen, habe ihn vorhin drüben im Diner gesehen.“

Alonzo Gonzales war Mexikaner und betrieb in der Nähe eine kleine Autowerkstatt.

James nickte. „Ein Versuch ist es wert.“ Seufzend griff er nach dem angebissenen Brownie und legte es in die Box zurück.

Horan verließ das Büro und kam wenig später in Begleitung des Mexikaners zurück.
Gemeinsam sahen sie sich das Band noch einmal an. Danach drehten sich James und Niall sofort zu Alonzo um. „Und?“, fragten sie wie aus einem Mund.

Der kleine, rundliche Mann bearbeitete seinen Hut kräftig mit den Händen. „Das war Spanisch. Ganz eindeutig.“ Aufgeregt sah er von einem zum anderen, offenbar mächtig stolz darauf, dass er der Polizei helfen konnte. „Kann ich es noch mal hören? Die Aufnahme ist sehr schlecht.“

Geduldig lauschten sie erneut. Alonzo konzentrierte sich, dann nickte er. „Er hat gesagt: Viva la Revolution. Das bedeutet: Es lebe die Revolution. Ja, das hat er gesagt, da bin ich mir ganz sicher.“ Er nickte mehrmals zur Bestätigung.

James sah Horan an. Viva la Revolution? Das hatte er schon einmal gehört.

Sie dankten dem Mexikaner und drehten sich wieder dem Computer zu, nachdem er den Raum verlassen hatte. Horan hackte den Suchbegriff in die Tastatur. Die veraltete Kiste brauchte mehrere Sekunden, bis sich jede Menge Daten und zwei unscharfe Bilder mit der Geschwindigkeit einer Schnecke auf dem Bildschirm aufzubauen begannen.

James kratzte sich über das Haar. Die beiden Fotos waren Aufnahmen einer Überwachungskamera, das konnte nur eines bedeuten: Es gab noch keine offiziellen Polizeifotos. Und das wiederum hieß, dass die Kerle bisher noch nie geschnappt worden waren. Schöner Mist! Und ausgerechnet diese Typen mussten in seiner Stadt auftauchen.

„So, dann wollen wir mal sehen“, sagte Horan, als die Daten vollständig waren, und klickte auf die Bilder.

„Liam Payne, dreiunddreißig Jahre alt, Engländer und in Kuba aufgewachsen“, las er vor. „Mutmaßliches Oberhaupt der Bande. In den letzten zwölf Jahren unzählige bewaffnete Überfälle auf Tankstellen und Lebensmittelgeschäfte. Sechs Anschläge auf militärische Einrichtungen, immer mit Parolen gegen die Unterdrückung Kubas verbunden. Wird mit dem ungeklärten Mord an zwei Exmitglieder der Organisation in Verbindung gebracht. Nach vorliegenden Angaben ist er 2009 illegal in die USA eingereist, reagiert unbeherrscht und zeigt eine auffällige Gewaltbereitschaft.“

James tippte auf die Bildtaste. „Das ist wirklich ein netter Lebenslauf, damit können wir im Winter das Büro heizen. Und was haben wir hier?“

Horan wechselte zu der anderen Aufnahme. „Harry Styles, einunddreißig Jahre. Nach Insiderangaben der halb Bruder von Liam. Gleiche Geschichte. Bis auf den Mordverdacht die gleichen Delikte. Keine persönlichen Angaben. Hält sich wohl eher im Hintergrund. Schwer zu sagen, ob er genauso gefährlich ist wie sein halb Bruder.“ Langsam scrollte er weiter. „Aber nach der eiskalten Art, wie er sich im Laden bewegt hat, würde ich darauf wetten, dass der Typ nicht zu unterschätzen ist.“

James beugte sich vor und verfolgte die weiteren Daten. „Es gibt noch andere Mitglieder, aber wenn wir die beiden Brüder schnappen, dann ist es aus mit der Bande Kubas.“

„Hand Kubas“, korrigierte Horan nebenher und tippte einen Befehl ein.

„Hab ich doch gesagt“ erwiderte James und legte eine Hand auf sein geplagtes Kreuz, während er sich ächzend aufrichtete.

Horan sah zu ihm auf. „Schöne Scheiße, die Typen sind wie Schatten. Ich habe echt keine Ahnung, wie wir an die herankommen sollen.“

Die Bürotür öffnete sich und ein dünner Mann mit Brille streckte den Kopf in den Raum. James seufzte ergeben. Er hatte noch nicht ein Mal erlebt, dass hier irgendwer anklopfte. „Was gibt es Louis?“

„Es ist gerade eine Anzeige reingekommen, Chief. Die solltet ihr euch mal ansehen. Könnte mit dem Überfall zusammenhängen.“

James winkte ihn herein, nahm die Papiere entgegen und überflog sie, nachdem der Bote den Raum wieder verlassen hatte. „Louis könnte ins Schwarze getroffen haben. Sieh dir das an!“ Er schob eine Kopie über den Schreibtisch und tippte mit dem Kugelschreiber auf ein Ausweisfoto, das darauf zu sehen war.

Horan stierte auf das Bild. „Das ist doch...“

„Genau. Das ist unsere junge Frau auf dem Band. Die Geisel“, führte James den Gedanken zu Ende. Edward McKenzie vom Sun Motel war gerade da. Er hat berichtet, dass die Touristin bereits vor drei Tagen auschecken wollte, was sie aber nicht getan hat. Warum, wissen wir ja jetzt. Jedenfalls ist Edward, nachdem er nichts mehr von ihr gehört hat, heute Mittag an die Tür gegangen und hat geklopft. Nichts. Logischerweise. Der Mietwagen steht auch noch da. Er hat darum gebeten, dass wir kommen und die Tür aufbrechen.“

Niall stand bereits auf. „Lass uns gehen.“

James wuchtete sich ebenfalls hoch und nahm seine Marke und Waffe aus der Schublade.

Wenig später standen sie in dem verlassenen Motelzimmer. Alles sah danach aus, als wärw die Bewohnerin nur kurz weggegangen. Die Reisetasche stand offen auf dem Bett, frische Unterwäsche und eine zusammengefaltete Jeans lagen daneben. Eine Jacke sowie Autoschlüssel hingen unberührt an der Garderobe.

Auf dem Tisch befanden sich eine Straßenkarte, Reiseführer und ein hellbeiger Brustbeutel. Ohne zu zögern, griff Niall danach und kippte den Inhalt heraus.

James' Blick blieb an dem roten Reisepass hängen. Er schnappte sich das Dokument und klappte es auf. „Naima Collister, geboren am 18.04.1985 in London.“ Er gab den Pass an seinen Deputy weiter und sah die restlichen Unterlagen durch. Auf einem Zettel war die Hotlinenummer eines Kreditkartenunternehmens vermerkt, darunter stand: „Emergency Call“, gefolgt von einer langen Telefonnummer sowie einem Namen. Der Vorwahl nach zu urteilen, handelte es sich um einr Auslandsnummer.

„Ich denke, wir sollten die Britische Botschaft in Washington anrufen. Die werden vor Freude an die Decke springen, wenn sie erfahren, dass eine Landsmännin entführt worden ist.“

Horan nickte und warf einen Blick auf die Uhr. „Ich kümmere mich darum.“

Sie räumten die persönlichen Gegenstände der jungen Frau ein und nahmen sie in Verwahrung. Es gab noch viel zu tun.

Es tut mir so leid, das ihr solange warten musstet auf ein neues Kapitel.

Aber es ist endlich fertig.

Ich hoffe es hat euch gefallen?

Lasst mir gern Feedback da.

Im nächsten Kapitel geht es bei Naima und Harry weiter.

Bis bald.

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