Decent
Draußen auf der Straße ist es dunkel, nur die Straßenlaternen spenden Licht.
Ich laufe die Straße hinunter in Richtung Stadtmitte, ohne zu wissen, wo ich mit der Suche anfangen soll.
Mein Aufbruch ist nicht geplant, er gleicht eher einer Flucht.
Einer Flucht vor den Schuldgefühlen und der Unwissenheit.
Ich bin in der Stadtmitte angekommen, mit den ganzen Cafés und Geschäften.
Während ich weiterlaufe, blicke ich mich um.
Nirgends sehe ich etwas, was mir hilft, bis ich an einer Seitenstraße vorbeilaufe und das beleuchtete Schild „Bibliothek" sehe.
Ich bleibe vor der Eingangstür stehen und rüttele an der Türklinke.
Die Tür bewegt sich, aber wie erwartet nicht.
Suchend sehe ich mich um.
Irgendwie muss ich doch reinkommen.
Eine kleine Gasse genau neben der Bibliothek fällt mir ins Auge.
Mit schnellen Schritten laufe ich hindurch und finde mich in einem Hinterhof wieder.
Ich sehe eine Feuerleiter und laufe auf sie zu.
Als ich dort ankomme, sehe ich, dass die Tür mit einem großen Vorhängeschloss zugesperrt ist.
Ich rüttele an der Tür der Feuerleiter, aber das Schloss bewegt sich keinen Millimeter.
Verdammt.
Ich blicke mich um, auf der Suche nach einer anderen Möglichkeit.
Da muss doch ein Weg reinführen.
Dann fällt mein Blick auf einen Balkon weiter oben an der Seite des Gebäudes.
Es ist ziemlich hoch, aber vielleicht könnte ich ihn erreichen, wenn ich klettere.
Eine Mülltonne steht an der Wand, und ich schiebe sie unter den Balkon.
Zögernd blicke ich von der Mülltonne zum Balkon und wieder zurück.
Komm schon, Evelyn, du musst das schaffen.
Für Gin!
Die Tonne knarzt unter meinem Gewicht, und mir stockt kurz der Atem, als sie bedrohlich wackelt. Aber sie hält.
Von hier aus kann ich eine niedrige Regenrinne erreichen.
Ich strecke mich so weit es geht, greife nach ihr und ziehe mich mit aller Kraft daran hoch.
Langsam schiebe ich mich Stück für Stück weiter, bis ich endlich den Balkon erreicht habe.
Mit vor Anstrengung zitternden Armen schaffe ich es, mich über das Geländer zu ziehen und stehe kurz darauf auf dem Balkon.
Ich gucke durch die Balkontür und sehe Bücherregale.
Ich bin richtig.
Das ist der zweite Stock der Bibliothek.
Ich drücke gegen das Glas in der Hoffnung, dass die Tür aufgeht.
Nichts bewegt sich.
Verzweifelt haue ich gegen die Tür, und als das nichts bringt, nehme ich Anlauf und schmeiße mich mit meinem ganzen Körpergewicht dagegen.
Ich stolpere zurück und halte mir meine schmerzende Schulter.
Warum sieht das in Filmen immer viel einfacher aus?
Warum funktioniert das nicht bei mir?
Warum, warum...?
Ich lasse mich an der Tür heruntergleiten.
Meinen Kopf vergrabe ich in meinen Händen und fange an, mir die Seele aus dem Leib zu weinen.
Ich weine, bis ich zu erschöpft bin, noch etwas anderes zu tun.
Mein Kopf sinkt auf meine Knie und ich schließe meine Augen.
Ich werde durch Sonnenstrahlen geweckt und sehe auf meiner Uhr, dass es kurz vor sieben ist.
Schnell stehe ich auf und klettere über die Brüstung.
Ich lasse mich nach unten gleiten und angeln mit meinen Füßen nach der Regenrinne.
Als meine Füße Halt gefunden haben, lasse ich erst mit dem linken Arm den Balkon los und fasse an die Regenrinne, dann mit dem rechten.
Ich rutsche an der Rinne in Richtung Boden, und als ich unten bin, stelle ich meine Füße auf die Mülltonne.
Ich springe von der Tonne runter und laufe aus dem Hinterhof.
Als ich aus der Gasse auf die Seitenstraße trete, in der die Bibliothek liegt, sehe ich, wie eine Frau das „Geschlossen"-Schild der Bibliothek auf „Offen" dreht.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top