Verlust
Ich hatte nicht erwartet, dass sie den Kuss erwidert. Aber ich habe genauso wenig damit gerechnet, dass mir ihre Ablehnung so wehtun würde. Kaum eine Sekunde habe ich die Möglichkeit ihr so nah zu sein wie noch nie, bevor sie mit großen Augen einen Schritt von mir wegtritt und eine Hand ausstreckt, um Distanz zwischen uns zu schaffen. Ich bin wie gelähmt. Meine Wangen glühen vor Scham.
"Violet... Das...", sie ringt um Worte, ihre Stirn in Falten gelegt, als sei ich eine komplizierte Mathe-Aufgabe, "Das kam unerwartet." Sie lässt ihre Hand zwischen uns sinken und ich kann nicht einordnen, was sie denkt. Ich traue mich nicht einen Ton von mir zu geben. Meine Ohren rauschen und ich bin so froh, dass es zu dunkel ist, als dass sie die Röte in meinem Gesicht erkennen könnte. Früher, denke ich, früher hatte ich manchmal das Gefühl, wenn ich älter wäre, hätte sie mir eine Chance gegeben. Aber früher war vor so vielen Jahren. Was mag in der Zeit passiert sein? Für mich fühlt es sich an, als sei es gestern. Aber vielleicht verläuft ihr Leben schneller als meins.
"Tut mir leid, Violet. Ich wollte dir keine falschen Hoffnungen machen."
Ich schüttele den Kopf. Will nichts hören.
"Können wir... bitte einfach so tun, als wäre das nie passiert?", flehe ich mit einem gequälten Gesichtsausdruck.
Sie starrt mich eine Weile nachdenklich an und ich wünschte, ich wäre wieder fünfzehn und sie zweiundzwanzig, wir beide auf unseren Fahrrädern, lachend den höchsten Berg in der nächsten Stadt herunterrasend, der Sommerwind in unserem Gesicht, unsere Haare, wirr in unserem Blickfeld flatternd, die Beine von den Pedalen gestreckt. Sie gibt mir keine Antwort.
"Können wir zurück? Zu damals? Auf die Fahrräder? Auf den Mohnblumenberg?", versuche ich es erneut.
Ihr Gesicht wird wieder weicher, beinahe so, als wäre sie nun die Zurückgewiesene. Verletzlich. Ein Seufzen steckt tief in ihr drinnen, das sie nicht herauslassen möchte. Ich kann es sehen, weil sich ihr Brustkorb ganz weit hebt, ohne dass sie die Luft wieder herauslässt.
"Lass uns morgen auf den Mohnblumenberg fahren", antwortet sie. Auf ihren Lippen ein trauriges Lächeln, ihr Kopf ist leicht geneigt. So hat sie mich damals auch immer angesehen, wenn sie über schwere Kost nachdachte.
Ich reibe mir die Arme, mir ist auf einmal kalt. Dann nicke ich, versucht, ihr Lächeln zu erwidern. Es funktioniert nicht. Ohne ein weiteres Wort wende ich mich von ihr ab und gehe nach Hause. Nein. Zu Alexej.
👥
Als ich Zuhause ankomme, läuft leise der Fernseher im Wohnzimmer. Alexej ist eingeschlafen. Geräuschlos streife ich meine Sneakers von den Füßen und schleiche zu ihm, greife nach der Fernbedienung auf dem Wohnzimmertisch und schalte den Fernseher aus. Obwohl die Stufen unter meinem Gewicht knarzen, als ich zu meinem Zimmer hochgehe, wird er nicht wach. Darüber bin ich ganz froh. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich weg war und warum. Das letzte woran ich mich erinnere ist, wie ich nach der Therapie Blade an der Bushaltestelle getroffen habe und mit ihm ins Lions & Dragons gegangen bin. Was dazwischen war? Ich habe keine Ahnung.
Ich bin vollkommen erschöpft. Mein Körper fühlt sich unwirklich an. So, als könnte ich wie flüssige Farbe zerlaufen. Mit einem tiefen Seufzen lasse ich mich mit dem Gesicht voraus auf mein vertrautes Bett fallen. Wenigstens sind mir diese Kleinigkeiten geblieben. Das Zimmer, dieses Bett - der Duft dieser Bettwäsche. Das Haus. Alexej. Ich kriege mit dem Gesicht in der Bettwäsche keine Luft, also drehe ich mich auf die Seite, schlinge meine Arme um mich selbst und starre eine ganze Weile einfach nur meinen eigenen Gedanken nachgehend auf die weiß-blau gestreifte Tapete. Manchmal fühlt es sich komisch an in ihrem Kinderzimmer zu liegen. Dann überkommt mich eine Gänsehaut und ich frage mich, ob nicht irgendwas passieren sollte. Wie in den Gruselfilmen, in denen Familien in Häuser ziehen, wo vorher ganze Generationen ausgestorben waren. Doch es passiert nichts dergleichen. Es sind weder Lichter ausgegangen, Bilder von der Wand gefallen, noch habe ich komische Geräusche oder dunkle Schatten gesehen. Dieses Zimmer ist einfach nur, was es ist: Ein Zimmer.
Es ist schon merkwürdig, dass Alexej und ich dasselbe Schicksal teilen. Trotzdem könnte die Kluft zwischen uns nicht größer sein. Dabei war er damals der Alexej. Mein großer Beschützer, der witzigste Geschichtenerzähler, der spannendste Abenteurer. Als ich ein kleines Kind war, hat er mir das Gefühl gegeben die Welt sei groß, bunt und aufregend. Genau das Gegenteil von dem, was sie in Wirklichkeit ist. Es ist nur die Welt. Es bin nur ich. Nur mein Leben. Kaum einen Wimpernschlag lang, im Vergleich zu den Äonen, die dieser Planet schon durchgestanden hat. Irgendwie unheimlich festzustellen, wie nichtsbedeutend ein Menschenleben für dieses Universum ist, in dem die Planeten und die Sterne schon immer existieren. Jetzt lebe ich gerade einmal einundzwanzig Jahre und in dieser Zeit habe ich sowohl meine Mutter, als auch meinen Vater verloren. Alexejs Tochter durfte nicht einmal zehn Jahre alt werden. Und seine Frau hat vielleicht Glück im Unglück gehabt, als sie bei Finjas Geburt verstorben ist. Was ist Alexej und mir geblieben? Nur wir beide. Wir beide sind uns geblieben. Die Erinnerungen und dieses Haus.
Der Schmerz, der mich seit Papas Tod von innen heraus aushöhlt, pocht unnachgiebig in meiner Magengegend und ich schlinge meine Arme fester um mich. Es ist komisch, so viel Leid zu spüren, aber keine einzige Träne deshalb weinen zu können. Als wäre ich innerlich tot.
Vielleicht ist auch das der Grund, dass ich es nicht weiter unheimlich finde, das Zimmer eines toten Mädchen seit vier Jahren meins nennen zu müssen. Seit Alexej mich hier aufgenommen hat, habe ich weder ihre nackten oder halb angezogenen Barbiepuppen und Kuscheltiere, noch ihre Buntstifte und angefangenen Bilder oder Fotos von ihr weggeräumt. Es gehört dazu. Es ist nicht, als würde ich für sie hier weiterleben, sondern eher mit ihr.
Emotionslos stehe ich vom Bett auf und gehe an die weiße Holzvitrine die mit bunten Kinder-Stickern beklebt ist und greife nach einem Foto von Finja. Sie grinst in die Kamera und zeigt ihre riesige Zahnlücke. Ihre langen, straßenköterblonden Haare hängen ihr wild im Gesicht und ihre Augen sind durch das breite Lächeln nur kleine Schlitze. Man erkennt die schöne, blaue Farbe kaum. Zärtlich streichele ich ihr mit einem Daumen über die Stirn. Es rührt irgendwas in mir, aber ich kann es nicht näher greifen. Ich kann mich gut an sie erinnern. Ich war sechzehn, als sie gestorben ist. Konnte es kaum glauben. Noch weniger, dass mein eigener Vater nur ein Jahr darauf auch verstarb. Mit einer komischen Leere in mir stelle ich das Foto wieder zurück auf seinen Platz und bewege mich ins Bad. Ich sollte schlafen gehen und mich ausruhen. Dieser Tag, obwohl ich mich an viel zu wenig für einen ganzen Tag erinnern kann, hat mich ausgelaugt. Und ich will Robyn morgen treffen. Egal wie unangenehm die Situation vorher war, egal wie beschämt ich mich fühle - Robyn ist die Einzige, die von den verschwunden Menschen aus meinem Leben wieder zurückgekehrt ist. Ich will sie nicht wieder verlieren.
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