Robyn
Ich drehe mich um. Nein, verdammt! Wieso hast du das getan?
"Ich wusste es doch! Violet! Violet Elden."
Eigentlich habe ich gar kein Interesse mit jemandem zu reden. Schon gar nicht jetzt. Und egal welche Erinnerungen sie mit mir teilen wollte, ich könnte ihr nicht helfen. Ich stecke zwar in Violets Körper - aber ich bin nicht Violet.
Die Fremde öffnet ihren Gartenzaun und läuft zu mir herüber, ohne auf die Straße zu schauen.
"Du lebst gefährlich", murmele ich sarkastisch. Es fährt seit Stunden kein einziges Auto mehr.
Die Frau ist viel größer als ich gedacht hatte. Ihre Stimme hat einen sehr angenehmen Klang.
"Wahnsinn... es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Du bist echt groß geworden."
Keine Ahnung, was ich sagen soll. Muss ich sie kennen? Sie wirkt älter als ich. Und cooler. In ihrer zerrissenen Jeans, dem engen Tank-Top und der locker um ihre Schultern fallende Stoffjacke. Eines ihrer Kapuzenbänder hängt in ihrem Ausschnitt. Ich versuche nicht hinzuschauen.
"Du erinnerst dich nicht an mich, habe ich Recht?"
Das fällt ihr aber früh auf.
"Ich bin Robyn. Vor sieben Jahren war ich zur Prävention gegen Cybermobbing auf eurer Schule. Dieses einwöchige Workshop. Klingelts?"
Ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht und zucke deshalb nur die Schultern.
"Macht nichts. Das ist ja auch schon eine Weile her. Du müsstest jetzt schon zwanzig sein."
"Einundzwanzig", korrigiere ich. Wenn sie Violet meint, bin ich einundzwanzig.
"Wahnsinn, wie die Zeit vergeht. Du hast dich aber kaum verändert."
Sie betrachtet mich in dem schwachen Straßenlicht und ich begegne ihren Augen. Irgendwas rührt sich in mir. Ich kann zwar nicht erkennen ob sie blau oder braun sind, aber sie wirken besonders jetzt am Abend dunkel wie die Nacht selbst. Ihre schwarzen Haare muss sie sehr plötzlich zusammengebunden haben, denn überall fliegen ihr Strähnen ins Gesicht. Sie hat schöne Wangen und einen markanten Kiefer, obwohl ihre Züge eher weich wirken. Außerdem hat sie ein paar Lachfalten um die Augen, die vermutlich wegen dem Lichteinfall tiefer wirken als sie sind. Sie scheint eine fröhliche Person zu sein. Schön für sie.
"Ja, dann... ich muss", brumme ich, als ich den Blick von ihr wende, weil mir ihrer zu intensiv wird und drehe mich weg. Ich weiß nicht, was ich von ihr will, was sie von mir erwartet oder was ich sagen soll. Die ganze Situation ist maximal unangenehm.
"Warte. Tut mir leid, wenn ich ein wenig überstürzt war. Es hat mich nur sehr gefreut dich hier zu sehen."
Ich muss mir ein Seufzen unterdrücken und bleibe mit dem Rücken zu ihr gewandt stehen. Es gibt eigentlich keinen logischen Grund, weshalb ich so eine Abneigung gegen sie spüre. Sie ist freundlich und nicht furchtbar aufdringlich. Doch irgendwas an ihr scheint mich an irgendwas in mir zu erinnern.
"Ich will dir nicht zu nahe treten, aber es ist mir seit damals nicht mehr aus dem Kopf gegangen", höre ich ihre Stimme in meinem Rücken, "Bist du in Sicherheit?"
👥
Es verstreichen Sekunden, die sich wie Stunden anfühlen, bis ich mich zu ihr umdrehe, meine Lippen einen Spalt breit geöffnet, meine Augen leer wie ein hohler Baum auf sie gerichtet und in der mehrere Gedanken auf einmal in mir niederschlagen. Sie ist es. Robyn. Es ist wirklich Robyn! Es fühlt sich an wie von einem Tornado aufgesogen und wieder ausgespuckt zu werden. Beinahe taumelnd mache ich einen Schritt auf sie zu und umarme sie. Ihr Duft ist immer noch derselbe. Sanfte Lilie.
Im ersten Moment scheint sie einen Schritt zurückzuweichen, doch dann entspannt sich ihr Körper und sie legt ebenfalls ihre Arme um mich. Hält mich fest, während mir Tränen über die Wangen strömen. Ich habe keine Ahnung wo ich bin und was ich hier mache, aber...
"So lange", wispere ich in ihre Schulter, "Wir haben jeden Tag zusammen verbracht und dann verschwindest du einfach!" Ich kann nicht weiterreden, weil meine Stimme anfängt zu zittern. Mein Herz schlägt so laut, dass ich das Gefühl habe, sie müsste es hören.
"Ich bin doch nicht einfach verschwunden", sagt sie und drückt mich sanft von sich weg. Ich lass meinen Kopf hängen, will nicht, dass sie sieht wie ich weine. "Ich hätte dich am liebsten mitgenommen. Weg von diesem widerlichen Schwein." Wie etwas Verdorbenes spuckt sie den letzten Satz aus.
Meine Haare hängen mir ins Gesicht, ein paar Tränen verfangen sich in ihnen. Es klebt. Ich will sie wegwischen, aber ich habe Angst umzufallen, wenn ich ihre Arme loslasse, in die ich mich gekrallt hatte. Habe Angst, dass sie sich wie ein Traum in Luft auflöst. Sie darf sich nicht auflösen. Darf nicht einfach verschwinden, wie vor sechs Jahren. Der Stoff in meiner Hand, an dem ich mich festhalte, ist rauer als ich dachte. Aber zumindest gibt es mir die Sicherheit, dass sie echt ist. Kein Traum. Sie ist ganz echt, steht vor mir. Nach so langer Zeit. Wieso ist sie damals gegangen? Ich merke, wie sie ihre Hände von meinen Schultern nehmen will, doch ich ziehe sie näher an mich heran.
"Bitte", flüstere ich kaum hörbar und starre immer noch auf den Asphalt unter mir, "Lass mich nicht los. Nicht jetzt..."
"Okay."
Minuten vergehen, in denen ich innerlich meine Emotionen anherrsche. Sie sollen ruhig sein. Stopp mit dem Weinen. Stopp mit dem Rumgeheule. Stopp, Stopp, Stopp! Erst, als meine Augen mir gehorchen, traue ich mich den Kopf zu heben und Robyn in das vertraute Gesicht zu sehen. Sie müsste jetzt achtundzwanzig Jahre alt sein, aber bis auf ein bisschen mehr Zeit, die verstrichen ist, ist nichts an ihrem Ausdruck verändert.
"Was ist los?", fragt sie, als sich unsere Blicke begegnen.
Und dann tue ich das, was ich damals schon jeden Tag tun wollte. Das, was ich mir jeden Morgen nach dem Aufstehen und jeden Abend vor dem Schlafen gehen ausgemalt habe - wie es sein würde.
Ich stelle mich auf meine Zehenspitzen und lege meine Lippen auf ihre.
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