Freaks


Verwirrt von ihrer Frage weiche ich von ihr zurück, als hätte sie mich mit Säure bespuckt. Durch meine unerwartete Reaktion hebt sie beschwichtigend eine Hand, will sie auf mein Arm legen, doch ich weiche ihr aus. "Was soll denn diese Frage? Wieso sollte ich nicht in Sicherheit sein?" 

Ich habe immer gedacht, sie sei witziger und weniger nervig als alle anderen in meiner Umgebung. Da habe ich mich wohl eindeutig geirrt.

Ich kann in ihrem Gesicht eine Spur von Unsicherheit lesen. Vermutlich sollte eher ich mich verunsichert fühlen, doch stattdessen empfinde ich viel eher Wut als irgendwas anderes. Wieso meint eigentlich jeder sich in mein Leben einmischen und alles so dramatisch machen zu müssen? 

"Wieso sollte ich nicht in Sicherheit sein?", wiederhole ich meine Frage und betone diesmal jedes Wort. Ihre Blicke springen von meinem einen Auge zum anderen und jetzt wirkt sie nicht mehr nur noch verunsichert, sondern regelrecht verwirrt. Selbst mit gerunzelter Stirn sieht sie noch attraktiv aus und ich könnte mir vorstellen, dass sie von ihren Ex-Freunden oder ihrem Freund nicht selten zu hören bekommt: "Du bist so heiß, wenn du wütend bist". Ich selbst könnte bei so einem Satz regelrecht im Strahl kotzen, aber es ist das erste Mal, dass ich ihn irgendwie nachvollziehen kann. 

"Verstehe mich nicht falsch", entgegnet sie nun und ihre Stimme klingt viel weniger sanft als vorher, "Aber nach allem, was ich damals mit dir erlebt habe und was du erzählt hast, empfinde ich diese Frage als total berechtigt. Korrigiere mich, wenn ich falsch liege."

Ich spüre, dass sich irgendein Graben zwischen uns auftut. Macht nichts. Darin war ich schon immer gut. Menschen von mir stoßen. Ist mir egal. Wer braucht sie schon?

"Du liegst falsch", gifte ich zurück und kann mich nicht mehr anhalten, freundlich zu sein. Alles in mir ist auf Angriff. Ich kann zwar nicht verstehen, wieso ich solch eine Wut empfinde, aber unterdrücken kann ich sie genauso wenig. Völlig genervt stehe ich vom Boden auf und bin noch zehnmal gereizter als ich merke, wie durchnässt meine Hose ist. Ich hasse dieses scheiß Leben. Wieso musste ich mich überhaupt auf die Wiese setzen? Was wollte ich eigentlich hier am Fluss? 

Robyn erhebt sich ebenso, ihr Gesicht wirkt jetzt wieder friedvoller, aber nun hat sie selbst die Arme vor der Brust verschränkt. "Ich habe mir Sorgen gemacht. Und die mache ich mir immer noch, selbst nach der Zeit. Es gibt Menschen, die vergisst man nicht...", sagt sie mit ruhiger Stimme.

"Ach ja? Ich weiß ja nicht wie du das sonst so handhabst, aber Menschen die mir etwas bedeuten, lasse ich nicht einfach fünf Jahre in der Luft hängen. Du wusstest wo ich wohne. Ich aber nicht wohin du abgehauen bist!"

"Eins zu null für dich", haucht sie ehrlich bestürzt und lässt die Arme wieder hängen. Eine seltsame Stille entsteht zwischen uns und ich möchte einfach nur nach Hause. Wieso zur Hölle war ich hergekommen? Wie auch immer ich auf diese Idee gekommen bin, sie war eindeutig sinnlos und dumm. Ein Teil von mir fühlt sich dafür verantwortlich, diese Situation nicht auf diese Art und Weise zu verlassen, aber ein viel größerer Teil in mir wollte einfach so schnell wie möglich weg und diese Person nie wieder sehen. Sie ruft so viele unterschiedliche Gefühle in mir hoch, dass ich mich weniger wie ich selbst fühle als jemals zuvor. 

"Ich gehe. Sorry...", nuschele ich unbeholfen, aber immer noch wütend und weiß nicht einmal, wofür genau ich mich eigentlich entschuldigt habe. 

"Warte!" 

Ihre Hand greift nach meinem Handgelenk, als ich mich abgewendet habe und ich erstarre. Diese Geste... wieso kommt sie mir so bekannt vor? Mit leerem Blick starre ich ihre Hand an, die mich festhält und wandere langsam hoch zu ihrem Gesicht, als könnte plötzlich jemand anderes dort stehen. Aber es ist immer noch Robyn.

"Bitte", ihre Stimme klingt flehend, "Sag mir bitte, wie es dir geht."

Ich schaue ihr unglaublich lange in die Augen, die mir mehr sagen wollen als das, was ich verstehen kann. Ich bilde mir fast ein, dass wir einmal eine geheime Sprache beherrschten, die nur Robyn und ich kannten, die ich jetzt aber verlernt habe. Was will sie mir mitteilen? Wieso verhält sie sich so... nervig?

"Es geht mir gut", antworte ich ihr ohne jede Emotion in meiner Stimme und löse mich aus ihrem sanften Griff. Ich sehe in ihren Augen, dass sie mir nicht glaubt und ihr anschließend resigniertes Seufzen bestätigt meine Vermutung. 

"Okay", sie klingt kapitulierend, "Verstehe. Ich werde dich in Ruhe lassen. Und wegen gestern... ich wollte dich nicht...", Robyn runzelte irritiert die Stirn und suchte nach Worten, "...abweisen oder von mir stoßen. Aber ich bin in einer Beziehung und..."

Kopfschüttelnd und noch irritierter als über ihre Frage mit der Sicherheit weiche ich mehrere Schritte zurück, muss mir beinahe ein Lachen verkneifen: "Moment! Abweisen? Beziehung? Ich steh doch gar nicht auf dich!"

Ihre Augen treffen meine.

"Was... aber der Kuss?"

"Welcher Kuss?", ich zeige ihr den Vogel. Nicht, weil ich sie angreifen möchte, sondern weil ich gar nicht damit umgehen kann, wie diese Situation innerhalb von wenigen Sekunden von total nervig in monstermäßig absurd gekippt ist.

"Du hast gestern..."

"Ich habe gar nichts", schneide ich ihr das Wort ab und mach mich nun wirklich auf den Weg zurück, "Du musst mich verwechseln."

Bevor sie noch irgendetwas sagen kann, eile ich fast im Laufschritt und mit hochrotem Kopf davon, ohne noch einmal zu ihr zurückzuschauen. Was zur Hölle war denn...


👥


Robyn

... das gerade? 
Robyn kann noch Violets Shampoo in ihrer Nase wahrnehmen, als sie schon längst in der ersten Straße verschwunden ist. Völlig perplex von dieser seltsamen Wendung steckt sie die Hände in ihre Hosentasche. Wenn sie nicht so ein grandioses Gedächtnis hätte, würde sie anfangen an ihrem Verstand zu zweifeln. Ob Violet der Kuss von gestern so unangenehm war, dass das ihre einzige Möglichkeit war damit umzugehen, indem sie es leugnet? Eine andere, vernünftige Erklärung kann sich Robyn im Moment nicht geben. Andererseits wirkte sie ganz und gar nicht, als hätte sie das nur aus einer Abwehrhaltung heraus behauptet. Viel eher wirkte es, als sei sie davon überzeugt, dass gestern nichts dergleichen geschehen ist. Schon damals ist Robyn aufgefallen wie unglaublich schnell sich Violets Stimmung oder Meinung ändern konnte. Dass sie Dinge leugnete oder sehr vergesslich und verstreut war. Aber in dieser Intensität ist ihr das neu. Beinahe erschreckend. Außerdem wird sie das Gefühl nicht los, dass bei ihr irgendwas im Argen ist. Als Violet damals diese drei Wochen auf ihrer Schule war, hatte sie niemals damit gerechnet, mit einer Sechzehnjährigen Freundschaft zu schließen. Doch nachdem Violet ihr das Angebot gemacht hatte, ihr den kleinen Ort zu zeigen und ihr die besten Pizzerien, Eisdielen und Wälder versprach, war es die Freundschaft beinahe schon dingfest. Robyn hatte sich damals mit ihren zweiundzwanzig Jahren sowieso sehr einsam gefühlt, nachdem sie von Zuhause weggezogen war und ihre Eltern nicht gerade um die Ecke wohnten und somit auch viel jünger, als sie eigentlich war. Sie stellte es sich aufregend vor, in die Welt ihres alten, sechzehnjährigen Ich's zu schlüpfen und die Dinge zu sehen, wie Violet sie sah. Mit der Aufregung, dem Spaß und den Teenager-Dramen. Besonders nach dem schlimmen Cybermobbing, wegen dem sie letztendlich die Präventionen anbot, um anderen Mut zu machen. Doch schon sehr bald hatte Robyn festgestellt, dass Violets Leben alles andere als ein typisches Teenager-Leben war. Viel weniger bunt, aufregend und von Jugend-Dramas durchtränkt. Bei Violet hatte es sich nie um Liebeskummer, die neueste Mode, coole Musik oder schlechte Noten gedreht. Das war Robyn spätestens dann klar, als sie nach einem ihrer ersten Fahrradtouren verschwitzt an einer Bank Rast machen wollten, und Violet trotz sengender Hitze und durchnässter Kleidung ihre Fahrradjacke, die sie für die kühle Morgenluft angezogen hatte, nicht abnehmen wollte. Erst Tage später waren Robyn blaue Flecken und wunde Stellen an Violets Körper aufgefallen. Eine aufgeplatzte Lippe, seltsame Striemen am Handgelenk... Was ist dir bloß widerfahren?, denkt sie im Stillen, und merkt, dass sie ihr immer noch hinterhersieht. Während sie das tut, wird ihr klar, dass sie ihre Pläne in dem Moment geändert hat, als sie Violet gestern zum ersten Mal nach so langer Zeit wieder gesehen hatte. Entschlossen greift Robyn nach ihrem Handy und wählt die erste Nummer in ihrer Favoriten Liste.

"Hey Babe", hört sie Adams vertraute, tiefe Stimme und atmet auf. Sie wünscht sich so sehr, er wäre gerade hier bei ihr und könnte seine starken Arme um sie legen, sie festhalten. Ein Lächeln bildet sich auf ihrem Gesicht, das mit einem Mal viel entspannter wirkt. 

"Hey. Tut gut, dich zu hören. Ist Zuhause alles klar?"

"Na hör mal. Ich hab gerade alle hübschen Mädels weggeschickt, die vor ner Stunde noch mit mir in einem Bett gelegen sind."

"Hättest du damit nicht auf mich warten können?", steigt sie auf seinen Scherz ein und kann ihn lachen hören. 

"Natürlich ist alles klar", seine witzelnde Stimmung verwandelt sich in den liebevollen Ton, den er seit drei Jahren nach wie vor nur für ihre Ohren zugänglich macht, "Ich hab gestern mit einem Kumpel einen Männerabend mit Bier und Marvel Filmen gemacht."

"Gott sei Dank war ich nicht dabei!"

"Weshalb rufst du an?" Das ist es, was Robyn so sehr an ihm liebt. Er weiß immer sofort, wenn irgendwas im Busch ist redet nicht um den heißen Brei. Dabei wirkt er nie drängend oder fordernd. Im Hintergrund hört sie etwas Rascheln und das schmatzende Geräusch des Kühlschranks, wenn man ihn öffnet. Bestimmt war er schon beim Wochenendeinkauf. 

"Hör zu, es ist mir etwas dazwischen gekommen. Ich denke, ich werde doch ein paar Tage länger bleiben als nur übers Wochenende."

"Oh", sie hört ihn in seiner Bewegung innehalten, "Ist dir etwas zugestoßen?"

"Nein. Es geht um ein Mädchen, das ich von früher kenne."

"Früher? Du hast doch nie dort gewohnt, dachte ich."

"Nein. Von meiner Cybermobbing Zeit. Du weißt schon... Schulbesuche und sowas. Ich mache mir Vorwürfe wegen damals und ich glaube, ich könnte..."

"Du könntest einer verlorenen Seele helfen die in Schwierigkeiten steckt", beendet Adam ihren Satz mit einem tiefen Seufzen, das allerdings nicht genervt, sondern eher besorgt klingt. "Robyn, ich weiß, dass du ein Helferherz hast, aber meinst du nicht, dass die Welt auch ohne dich gerettet werden kann?"

Robyn knabbert auf ihrer Unterlippe, während sie sich auf den Weg zu Violet macht. 

"Es ist diesmal etwas Persönliches", gesteht sie ihm und blickt zurück auf den Mohnblumenberg.


👥


Violet

Als ich Zuhause, beziehungsweise bei Alexej Zuhause ankomme, ist sein Auto bereits aus der Einfahrt verschwunden und er sicher schon längst in der Arbeit. Ich werde Menschen niemals verstehen, die an Wochenende freiwillig arbeiten. Andererseits ganz gut, dass es nicht nur so faule Säcke wie mich auf dieser Welt gibt, die sich lieber an einem Samstagabend an einem Sommertag im Zimmer verkrümeln. Ich schaue ins Wohnzimmer. Oder auf der Couch beim Netflix-Binge-Watching! Entschlossen werfe ich mich auf das gepolsterte Sofa und starte den Fernseher, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Es verwirrt mich, dass ich mich schon wieder nicht erinnern kann, was ab dem Moment, als Robyn aufgetauchte, passiert ist. Wir hatten doch auf der Wiese gesessen... und plötzlich... war ich wieder hier Zuhause! Habe ich mich von ihr verabschiedet? Es ist unheimlich, wenn man das Gefühl hat sein eigenes Leben nicht mehr in der Hand zu haben. Wenn ich wenigstens ihre Nummer hätte, könnte ich sie anrufen und fragen, aber nichts dergleichen. Mit ratterndem Kopf zappe ich durch die Filmvorschläge. Aus Erfahrung werde ich wohl länger brauchen einen Film zu finden, als einen anzusehen. Mein Handy vibriert in meiner Beuteltasche im Pulli und ich ziehe es heraus, um ranzugehen. 

"Jade", sage ich erfreut und lege die Fernbedienung aus der Hand, "Ein Glück, dass du anrufst. Ich könnte gerade wirklich gut Gesellschaft gebrauchen", quassel ich drauflos, bevor er überhaupt zu Wort kommen kann.

"Ach so, gestern war ich noch ein Freak."

Ich runzele die Stirn: "Hä?"

Obwohl ich ihn nicht sehen kann, weiß ich, dass er sein honigsüßes Lächeln lächelt und eine Grimasse zieht. Ein Zeichen dafür, wie in- und auswendig wir uns kennen. 

"Du hast mich einen Freak genannt, schon vergessen?"

"Gut möglich", meine ich nur ausweichend.

"Wieso bist du gestern so spät noch alleine auf der Bundesstraße unterwegs gewesen?"

"Auf der was?", frage ich ihn völlig verstört.

"B-U-N-D-E-S..."

"Ich weiß wie man das buchstabiert, du Trottel. Aber ich war dort nicht."

"Doch, warst du. Ich wollte dich mitnehmen. Du hast mich angeschaut wie einen Massenvergewaltiger und hast mich Freak genannt."

"Eines von beidem bist du mit absoluter Sicherheit." 

"Ist ja auch egal. Eigentlich wollte ich dich fragen ob du Zeit hast, aber da du dich über meinen Anruf gefreut hast wie über einen Heiratsantrag, deute ich das als Ja."

"Ich würde eher ein benutztes Taschentuch heiraten als mir einen Ring von dir anzustecken", necke ich ihn. 

Er lacht.

"Heute Abend bei mir auf einen Horror-Sleepover?"

"Heute Abend? Wir haben Mittag! Hast du vorher keine Zeit?"

"Doch, aber keine Lust, ich zocke."

Ich seufze enttäuscht und sage dann inbrünstig: "Du bist wirklich ein Freak."


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