Dunkelheit

Blade war nicht überrascht gewesen, dass ich reumütig hinter dem Mann aus der Kneipe gedackelt bin. Ich habe mich so sehr geschämt, dass ich nicht einmal den Kopf heben konnte. Wie ein geschlagener Hund hatte ich die Kneipe verlassen und gehofft, dass Archie nicht mitbekam, dass ich wie ein unfähiges, pubertäres Kind behandelt werde.

Ich setze mich auf den Beifahrersitz seines SEAT Leon. Es riecht immer noch neu, obwohl er es bereits seit vier Jahren fährt. Exakt nach dem Tod von Papa...
Die Tür schließt mit einem dumpfen Knall, ich schnalle mich an, er startet den Motor, doch anstatt dass er auf das Gas tritt, lässt er auf einmal seinen Kopf hängen. Die grauen, kurzen Locken fallen ihm in die Stirn, sein spitzes Kinn   wirkt angespannt, seine schmalen Schläfen zucken. Ich beobachte ihn aufmerksam.

"Violet..." seufzt er und hebt wieder den Kopf. Seine eisblauen Augen treffen meine und ich kann nicht wegsehen. "Ich mache mir große Sorgen um dich. Du kannst nicht einfach ohne ein Wort stundenlang wegbleiben..."

"Ich bin 21", erwidere ich tonlos und beobachte die Eiszapfen in seiner Iris. Er ist alt geworden, fällt mir auf, so plötzlich? Gestern hatte er doch noch ein paar braune Strähnen auf dem Kopf. Jetzt sind sie überall grau-weiß miliert. Tiefe Tränensäcke zieren die schmalen Augen, die nur durch die helle Farbe herausstechen, sonst würden sie unter seinen dunklen Brauen verschwinden. Adern und Sehnen prangen an seinen Armen und Händen, die er immer noch um das Lenkrad hält.

"Seit Joshua verstorben ist, verhältst du dich ganz anders... Ich habe gehofft, die Therapie würde dir helfen."

"Sie hilft mir!" Meine Hände krallen sich in den Autositz unter mir. Mein Blickfeld wird eng. Ich spüre Wut, ein Zittern in mir.

"Schon gut", meint er resigniert und schaut geradeaus aus dem Fenster. Er startet erneut den Motor und fährt los.

Wieso sind wir plötzlich auf der Bundesstraße? Waren wir nicht gerade eben noch vor der Kneipe gestanden? Von seinem Geruch wird mir schlecht.

"Halt an." Sage ich laut und bestimmend.

"Ich... was?! Violet, ich kann hier nicht einfach anhalten!"

"Halt an!" Widerhole ich nun lauter und merke, dass meine Hände anfangen zu zittern. Er äugt kurz nach mir und ich widerhole, fauche beinahe: "Halt den verdammten Wagen an oder ich springe!" Meine Hand greift nach der Türklinke. Ich ertrage seinen Geruch nicht, ich ertrage seine Nähe nicht! Was erlaubt er sich, mich wie ein kleines Kimd zu behandeln und herum zu chauffieren?
"HALT JETZT VERDAMMT NOCHMAL AN!" Ich drücke die Türklinke herunter, das Auto öffnet sich nicht. Diese beschissenen neuen Dinger!!! Ich will gegen die Tür treten, erwische aber nur den Fußraum.

Er tritt auf die Bremse, fährt rechts ran. Seine Auge sind erschreckend auf mich gerichtet. Er braucht gar nicht so zu tun!

Wütend reiße ich den Gurt von mir, stoße die Tür auf und steige aus.

"Was hast du vor?"

"Ich laufe!", knurre ich, knalle die Tür zu und stampfe los.

Er folgt mir in Schrittgeschwindigkeit, mit heruntergefahrenen Fenstern und ruft raus: "Violet, sei nicht so unvernünftig! Das sind noch 17 Kilometer bis nach Hause."

"Das ist mir scheißegal! Ich sitze keine Sekunde neben dir in diesem Dreckswagen", schreie ich zurück. Es fährt hier keine Sau auf der Straße, es ist schon stockdunkel. Um uns herum kleine Wälder. Nur seine Scheinwerfer spenden Licht. Und trotzdem würde ich lieber zehn Kilometer in der Dunkelheit laufen als eine weitere Sekunde neben ihm zu sitzen!

"Und nenn mich nie wieder Violet!"

Das ist das Letzte, was ich sage, bevor ich ihm den Mittelfinger zeige, er die Fenstern hoch fährt und zögerlich weiterfährt. In nur zwei Minuten kann ich kaum noch seine Rücklichter erkennen. War das ein verletzter Gesichtsausdruck, bevor er davon gefahren ist? Auf einmal fühle ich mich unendlich erschöpft. Die Dunkelheit und Stille um mich herum scheint mich zu erdrücken. Meine Beine werden schwer, meine Schultern steif. Ich sacke in die Knie, lege meine Stirn auf den kalten Asphalt und fange an zu weinen.

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