Die Tür


Tick Tack

"Tick Tack"

Tick Tack

"Tick Tack"

"Beruhigt Sie das?"

Die Stimme meiner Therapeutin dringt zu mir hindurch. Ihre blauen Augen sind geduldig auf mich gerichtet. Als sie merkt, dass ich nicht weiß wovon sie spricht, wirft sie einen Blick auf die Uhr über ihrer Zimmertür.

"Das Geräusch der Uhr. Sie flüstern ihr nach. Tick tack, tick tack. Beruhigt Sie das?"

"Ich...", mein Mund fühlt sich verklebt an. Als hätte ich mehrere Stückchen Kaugummi in mich hineingestopft und könne nun kaum noch mein Kiefer bewegen. "Nein. Es beruhigt mich nicht", antworte ich schwerfällig.

Tick Tack

"Tick Tack"

Tick Tack

"Ich fühle mich so unwirklich", flüstere ich schließlich und betrachte meine Finger, als wären sie noch nie zuvor da gewesen, "Bin ich wirklich hier?"

"Ja, Sie sind wirklich hier. Möchtet Ihr meine Hand halten?" Frau Jahn streckt ihre Hand nach mir aus, die Handfläche zeigt nach oben. Einladend. Ich starre sie an.

Ihr. Sie spricht mit uns allen. Mit mir. Mit denen die in mir sind. Ich bin nicht allein. War ich nie.

"Und doch fühle ich mich so einsam..."

"Bitte?" Ihre Stimme durchkreuzt meine Gedanken. Ihre Hand hält sie immer noch ausgestreckt. Dann legt sie sie auf dem kleinen runden Tisch zwischen uns ab. "Ich habe nicht verstanden, was Sie gesagt haben. Ich lasse sie hier liegen - wenn ihr das Bedürfnis habt, sie zu halten, haltet sie."

Tick Tack

Tick Tack

Tick Tack

Tick Tack

"Er hat es mir wieder erzählt", sage ich leise, ohne ihre Hand zu nehmen und betrachte lieber wieder meine Finger, "Die Sache."

"Er erzählt es Dir sehr häufig, nicht wahr, Paige?"

Ich hebe meinen Blick. Durchdringe ihre Augen. Ein Lächeln entweicht meinen Lippen. Sie hat mich erkannt. Sie hat erkannt, dass mir jemand die Tür überlassen hat.

Frau Jahn ist eine sehr aufmerksame Psychologin. Sehr, sehr aufmerksam.

Sie nickt, als ich ihrem Blick standhalte. "Ich habe Dich erkannt. Deine Stimme ist klarer. Und du hast dem Ticken der Uhr keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt. Du bist Paige, richtig?"

"Natürlich. Wer sonst?", gebe ich zur Antwort.

Ohne ein Wort lehnt sich Frau Jahn zurück. Ich bilde mir ein, ein Schmunzeln in ihrem Gesicht zu erkennen.

"Okay", sagt sie ruhig, "Was ist der Grund, dass du hier bist?"

"Es gibt keinen Grund", antworte ich standardgemäß, "Ich bin immer hier."

"Was ist mit den Anderen?"

"Es gibt keine Anderen."

"Immer dasselbe Spiel..." Frau Jahn zieht ein Blatt Papier aus ihren Unterlagen hervor und legt es auf den Tisch zwischen uns. Ich muss mir das nicht ansehen. Ich weiß, was das ist. Das legt sie mir immer vor die Nase, sobald ich vor ihr sitze und diesen Satz sage. Es gibt keine Anderen.

"Dieses Haus habt ihr mir gemalt. Jemand von euch", korrigiert sie und tippt auf das Gebäude das aussieht wie eine Kinderkritzelei. Ein Haus, vier Fenster, eine Tür, ein Dach und ein Schornstein. Keine Farben. "Derjenige, der an der Tür steht, redet gerade mit mir. In dem Fall bist du das. Du stehst hier, habe ich Recht, Paige?"

Ich verschränke die Arme vor der Brust und schenke ihr ein unfreundliches Lächeln: "Nein, Frau Jahn. Ich sitze hier vor Ihnen. Brauchen Sie etwa Hilfe?"

Sie lässt sich nicht provozieren. Ich habe es schon oft versucht. Es macht mir trotzdem Spaß.

"Was hat es diesmal in dir ausgelöst? Es wieder zu hören. Die Sache."

Sie benutzt gerne meine Worte. Ich frage mich, ob sie Sympathie zu mir aufbauen will. Das hilft nichts. Ich hasse Therapeuten. Ich hasse sie.

"Es hat in mir ausgelöst, dass ich das Telefonkabel in die Hand nehmen, ihm um die Kehle wickeln und zuziehen wollte."

"Aber du hast es nicht getan."

Schulterzuckend lege ich einen Kopf schief: "Was wenn doch?"

"Dann muss ich die Polizei rufen."

Tick Tack, Tick Tack, Tick Tack, Ticktackticktackticktack

Meine Beine zittern. Ich drücke meine Hand auf mein Knie, damit es still bleibt. Mein Herz rast. Ich lehne mich nach vorne und bin zu Tode erschöpft, dabei spüre ich Frau Jahns Blick auf mir ruhen. Ihre Hand liegt auf dem Tisch, ich strecke meine aus und greife nach ihrer. Drücke zu. Sie ist warm, trocken, weich. Sie legt ihre Finger um meine Hand und hält mich fest.

"Durchatmen", dringt sie leise zu mir durch, "Tief durchatmen. Du sitzt in meiner Praxis und wir sind in der Therapiestunde. Wir haben den 15.07.2022. Du bist in Sicherheit."

Ich nicke, obwohl ich mir nicht sicher bin und drücke ihre Hand fester. Sie ist echt. Also muss ich auch echt sein. Ich schaue mich um, atme durch.

"Tut mir leid", sage ich leise, als ich mich wieder gefangen habe.

"Wer ist jetzt da? Luca?"

Ich streiche mir die Strähnen ungeschickt aus dem Gesicht, schaue sie kurz an, halte es aber nicht lange aus und beobachte einen Marienkäfer an ihrem Vorhang.

"Nein. Nicht Luca."

Unsere Hände liegen auf dem Tisch. Wir halten sie, wie ich sie damals im Kindergarten meiner Freunde gehalten habe. Es beruhigt mich ein wenig.

"Kennen wir uns schon?"

"Ja", antworte ich zeitverzögert. Der Marienkäfer verschwindet hinter einer Falte.

"Sollen wir beim Du bleiben?"

"Ja..."

"Wie alt bist Du?", fragt sie mich und blinzelt mich an. Es erinnert mich an das Blinzeln meiner Katze Oreo. Es ist angenehm. So ruhig.

"Vierzehn", antworte ich. Was für eine seltsame Frage. Das weiß sie doch!

"Dann kannst Du nur entweder Elijah oder Leah sein", bemerkt sie.

Ich finde es komisch, ihr darauf eine Antwort geben zu müssen.

"Elijah geht nie an die Tür", erinnere ich sie, ohne direkt auf ihre Frage einzugehen.

Sie lächelt, drückt sanft meine Hand und sagt: "Stimmt. Hallo Leah."

"Hallo", murmele ich ein wenig beschämt und senke wieder den Kopf, da ich den Marienkäfer nicht mehr beobachten kann.

"Hast Du mitbekommen, worüber Paige und ich gerade gesprochen haben?"

"Nein..." Ich schäme mich dafür.

"Schaffst Du es, sie zu fragen?"

"Nein. Sie spricht nicht mit mir. Sie spricht mit niemandem", erkläre ich, obwohl ich ihr das bestimmt schon tausendmal gesagt habe. "Ich weiß, ich sollte es bereits hinkriegen. Aber es funktioniert nicht..."

"Das ist okay. Ihr habt alle Zeit der Welt. Wie geht es Dir, Leah?"

"Ich habe Angst", sage ich zögerlich.

"Mhm", macht sie, "Angst ist Dein Thema, nicht wahr? Weißt du immer noch nicht, was dir solche Angst macht?"

Ich überlege. Die Dunkelheit? Die Nacht? Spinnen? Wasser? Er...?

"Nein", antworte ich leise, "Nein, ich weiß es immer noch nicht. Ich habe das Gefühl, alles macht mir Angst."

"Okay, versuch dich auf meine Hand zu konzentrieren. Und auf deine Atmung."

Ich versuche es. Ich schließe meine Augen. Ob ich sie nun offen lasse oder nicht macht keinen Unterschied. Das Böse kann mich so oder so holen kommen. Also atme ich in dem Rhythmus, den sie mir vorgibt. Fokussiere mich auf die sanften Impulse, die sie mir durch ihre Hand gibt und gebe sie zurück. Sie drückt sanft zu, ich drücke sanft zu. Hin, her, hin, her. Wie ein Ball, den wir uns hin- und herreichen. Mein Puls beruhigt sich. Mein Kopf wird freier.

"Es ist besser", sage ich und öffne wieder meine Augen, seufze.

Sie schenkt mir ein Lächeln. Ich schenke ihr eins zurück.

"Ich glaube, die Stunde ist vorbei, habe ich Recht?"

"Ja. Du hast ein erstaunlich gutes Zeitgefühl", lobt sie.

"Hm... nein. Ich bin nur immer diejenige, die gehen muss. Auf wiedersehen, Frau Jahn."





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