Der Nachbar

Mein ganzer Körper fühlt sich an wie ein nicht fest gewordener Wackelpudding. Als könnten alle meine Gliedmaßen in sekundenschnelle auseinanderfließen. Und dann läge ich dort auf dem Asphalt. Menschen würden über mich drüber trampeln und sich über den klebrigen Dreck an ihren Schuhen beschweren.

Die Arme um meinen Körper geschlungen, um ja nicht auseinanderzufließen, laufe ich mit gesenktem Kopf zum Bahnhof, um wieder nach Hause zu fahren. Meine Erinnerungen an die Therapiestunde sind schon wieder so gut wie verflogen. Ein Traum, nach dem ich nicht mehr greifen kann. Vor meinem geistigen Auge kann ich nur noch Frau Jahns braunen Haare sehen, die in weichen Wellen knapp über ihre Schultern fallen und ihr markantes, durchaus ansehnliches Gesicht verdecken.

Wieso kann ich mich bloß nie an die Inhalte der Stunde erinnern? Was hilft mir diese Therapie denn überhaupt, wenn sie nur meinen Alltag widerspiegelt? Erinnerungen an inhaltslose Ereignisse? Oder im schlimmsten Fall sogar komplette Blackouts. Ich habe mich schon so oft gefragt, wieso ich überhaupt dahin gehe. Jedes Mal ist die Antwort: Frau Jahn. Selbst wenn ich mich an nichts erinnern kann, das Gefühl bei ihr gewesen zu sein hält mich irgendwie aufrecht. Als würde sie während der Stunde mit einem kleinen Schraubenzieher alle kleinen Schrauben wieder fest ziehen, die mir drohen mich wie ein schweres Bild fallen zu lassen. Krach - mehrere Meter abwärts auf den Boden. Mehr Splitter als die ich sowieso schon zu kleben hab, kann ich nicht gebrauchen.

Ich steige in den Zug, der bis auf ein paar komischen Leuten komplett leer ist, und lasse mich auf einem der hintersten Sitze fallen. Zwei Stunden Fahrt. Das wird schon.

👥

"Hey, Violet! Hier!"

Ich brauche eine ganze Weile bis ich kapiere, dass er mich mein. Jade steht auf der anderen Straßenseite, als ich aus dem Anschlussbus aussteige und winkt mir wie ein Idiot zu. Es ist mir fast schon peinlich, weil ihn alle anschauen. Sein Grinsen reicht von einem Ohr zum anderen und seine sandbraunen Locken schwingen um sein Gesicht, während er seinen Arm hektisch hin und her bewegt. Damit er sich beruhigt, laufe ich über die Straße in seine Richtung.

"Hey, läufst du nach Hause oder hast du noch Lust etwas zu machen? Komme grad von der Nachhilfe. Das Kind bringt mich um. Ich glaube, ich könnte ihn 24 Stunden am Tag unterrichten und er würde keinen Millimeter klüger werden."

"Vielleicht liegt es nicht an dem Kind", bemerke ich trocken und wir setzen gemeinsam unseren Weg fort, ohne dass ich auf seine Frage hätte antworten müssen.

"Wo warst du?", fragt er mich, ohne auf meinen Kommentar einzugehen. Er weiß ohnehin, dass ich das nicht ernst meine. Jade war mit Abstand der Klassenbeste gewesen und überhaupt habe ich noch nie einen intelligenteren Menschen als ihn kennengelernt. Dass das Kind schlichtweg dumm ist, liegt bestimmt nicht an ihm. Jade ist mir mit seinen zweiundzwanzig Jahren nur neun Monate voraus. Seit der Mittelschule ist er die einzige Seele, die mir treu an der Seite geblieben ist.

"Therapie", antworte ich knapp auf seine Frage, wo ich war.

"War's gut?"

Ich zucke die Achseln und verschließe mich wieder innerlich. Da er mich schon lange genug kennt weiß er, dass er es nur schlimmer machen würde, würde er weiter nachhaken, also wechselt er das Thema.

"Also? Hast du Lust noch etwas zu machen? Einen Kaffee oder ein Bier?"

"Bier", antworte ich und hake mich bei ihm unter. Das fühlt sich besser an, als mich an mir selbst festzuklammern.

Wir kommen in unserer Stammkneipe Lions & Dragons an. Der Platz, den wir sonst immer bevorzugen, ist schon von einem jungen Pärchen besetzt. Wir schauen uns nach einem Platz in der Nähe um und dort setze ich mich mit dem Rücken zur Wand, um alles im Auge behalten zu können. Archie, einer der am längsten angestellten Kellner hier, stellt uns kaum zwei Minuten nachdem wir sitzen unsere Standard Bestellungen auf den Tisch. Zwei Weißbier vom Fass. Ich lächle ihn an, er lächelt zurück.

"Du siehst wieder unerhört schick aus, Vio", sagt er mit einem Zwinkern und ich streiche mir verlegen eine Strähne hinter das Ohr. Trotzdem kann ich mir dabei ein Augenrollen nicht verkneifen.

"Wie jede Woche", antworte ich und hebe mein Glas zum Toast in seine Richtung. Blade verdreht die Augen, toastet aber mit. Als Archie wieder verschwindet, beugt er sich zu mir vor.

"Du weißt schon, dass er auf dich seht?"

"Das tut er nicht. Männer wie Archie stehen nicht auf mich", beschwichtige ich. Ich würde nicht einmal einem Zoowärter im Gorillagehege auffallen. Mein Kleiderschrank besteht so gut wie nur aus schwarzen Klamotten, davon sind die meisten Oberteile in Übergröße. Meine braunen Haare trage ich jeden Tag zu einem Halb-Dutt gebunden, was mich ohnehin jünger aussehen lässt. Ich trage kein Make-Up, dafür aber Sommersprossen um die Nase, meine Augenränder und die Nase sind immer leicht gerötet und sonst bin ich viel zu blass. Allem voran habe ich mir sehr schnell angeeignet, mich unsichtbar zu machen.

"Archie sieht aus wie einer dieser 0/8/15 Netflix-Hotties ohne den geringsten Charakter", brummt Blade.

"Und du siehst aus wie einer dieser 0/8/15 Netflix-Nerds mit zu viel Klugschiss im Kopf", kontere ich, obwohl ich nicht das Bedürfnis habe, Archie zu verteidigen.

"Das Pärchen da", sage ich, um vom Thema Archie abzulenken und werfe einen Blick auf unseren belegten Stammplatz, "Was denkst du?"

Blade folgt meinem Blick und mustert die beiden eine Weile unauffällig. Das Mädchen mit ihren blondierten, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren ist mir schon von weitem unsympathisch. Sie lässt keine Gelegenheit aus ihre polierten Zähne mit einem falschen Lächeln aufblitzen zu lassen und den Typen vor ihr zu betatschen.

"Ein Pärchen, zweites Date", sagt Blade schließlich.

"Und letztes Date", erwidere ich, "Seit wir hier sind, hat sie ihn keine Sekunde zu Wort kommen lassen. Und sie redet nur über sich selbst."

Blade erwidert irgendwas, doch ich kann es nicht hören. Eine kühle Luft weht herein, als jemand die Kneipe betritt und mitten im Raum stehen bleibt. Meine Beine schnellen in die Höhe, ich schmeiße mir die Kapuze über den Kopf und stürze ohne ein weiteres Wort an Blade vorbei zu den Toiletten. Er hat mich noch nicht gesehen. Aber er wird mich suchen. Und finden.

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