Der Mohnblumenberg
Als ich am nächsten Morgen wach werde, fühle ich mich besser als erwartet. Gestern war der Tag ziemlich trist und kühl, auch wenn es nicht geregnet hat. Dafür fällt heute umso mehr Sonnenschein durch das kleine Fenster am Zimmerende und erinnert mich an einen der heißesten Tage vor fünf Jahren. Der Sommer mit Robyn. Wieso hatten wir gestern eigentlich keine Uhrzeit vereinbart? Mit einem aufgeregten Wummern in meiner Magengegend suche ich mir ein Paar schwarz-weiß geringelter Socken, die ich in meinen schwarzen Chucks tragen kann, kralle mir meine schwarze Jeanshose von gestern und greife nach dem nächstbesten, langen Pulli, den ich in die Finger bekomme und renne dann halb angezogen ins Bad, um mich herzurichten. Meine Haare stehen wirr in alle Richtungen ab und ich fühle mich noch sehr müde. Erst nachdem ich mein Gesicht gewaschen und meine Haare zusammengebunden habe ziehe ich mir den Pulli über. Eine schlechte Angewohnheit, die ich jedes Mal vergesse. Egal wie oft ich dann wieder rumfluche, weil meine komplette Frisur wieder zerstört war - ich kann es mir nicht merken, erst das Oberteil anzuziehen. Genervt und ohne Geduld streiche ich mir die herausgelösten Strähnen einfach aus dem Gesicht und stolpere die schmale Treppe nach unten, wo ich eine süße Verführung in der Luft erschnuppere.
Alexej steht mit dem Rücken zu mir gewandt am Herd und wedelt mir, ohne sich umzudrehen, zur Begrüßung mit dem Pfannenwender. "Irgendwann fliegst du noch die Treppe runter", sagt er als Begrüßung und ich schnappe mir meinen Rucksack vom Barhocker. Jetzt dreht er sich doch um.
"Wo willst du denn hin? Hast du gar keine Lust auf Pfannkuchen?"
"Bitte quäle mich nicht", flehe ich ihn mit einem theatralischen Gesichtsausdruck an, "Ich liebe Pfannkuchen, aber ich habe es verdammt eilig."
"So eilig, dass du nicht einmal ein Stück verputzen kannst?" Er reicht mir einen Teller, auf dem schon zwei zusammengefaltete Pfannkuchen mit Füllung und mit Puderzucker bestreut liegen. Ich mache auf den Fersen kehrt, beuge mich über die Kochinsel und greife nach einem der beiden, um sie direkt in den Mund zu stopfen und meinen Weg fortzusetzen. Der nussig-milde Geschmack explodiert in meinem Gaumen und ich kann mir ein zufriedenes Stöhnen nicht unterdrücken.
"Schmeckt einfach göttlich", rufe ich noch mit vollem Mund in Alexejs Richtung, bevor ich die Wohnung verlasse und lossprinte.
👥
Als ich am Berg ankomme, fühle ich einen leichten Stich in meinem Herzen. Es liegt nicht nur daran, dass sich zu dieser Jahreszeit keine Mohnblumen wie roter Regen über den Berg ergießen, sondern irgendwie auch daran, dass es grundsätzlich anders ist, als in meinen Erinnerungen. Es fehlt die unglaublich drückende Hitze, das Lachen von Robyn und mein fröhliches Aufschreien, als wir den Asphalt vor mir herunterflitzen. Es fehlt der Duft des Flieders, der braun und verwelkt an den Straßenrändern herunterhängt und vor allem fehlt der türkisblaue Himmel und die Schäfchenwolken, in denen wir nach irgendwelchen Botschaften für uns suchten. Außerdem fehlt die Wärme.
Fröstelnd schlinge ich meine Arme um den Oberkörper und frage mich, ob die Kälte aus meinem inneren kommt. Im Juli ist es doch nicht normal, so sehr zu frieren! Oder? Der Pulli ist nicht dick, aber ich komme mir trotzdem irgendwie bescheuert vor, im Hochsommer mit solchen Klamotten rumzulaufen. Es ändert nichts daran, dass ich es trotzdem tue. Seit ich denken kann konnte ich noch nie viel Haut zeigen, egal wie erdrückend heiß die Temperaturen sein mochten. Auf der anderen Seite des von uns ernannten Mohnblumenbergs erstreckt sich der kristallklare Fluss, auf dem hier und da ein paar Schwäne ihre Runden zogen und Enten über sie hinwegflogen. Ein paar Bäume, die den Weg zum Fluss hinunter abgrenzen, lassen sanft ihre grünen Blätter im Wind tanzen.
Wieso bin ich eigentlich hierher gekommen? Wieso war ich nicht schlau genug, um sie nach ihrer Nummer oder wenigstens nach einer Uhrzeit zu fragen? Es konnte Stunden dauern, bis sie vielleicht hier auftaucht. Falls sie es überhaupt tun würde. Seit dem Moment ihrer Abweisung habe ich nicht noch einmal darüber nachgedacht, es war zu unangenehm. Aber wenn ich jetzt ehrlich zu mir bin, war es weder ein besonders günstiger Moment, noch wirklich einfühlsam gewesen. Seufzend lasse ich mich auf die leicht feuchte Wiese nieder und starre weiter gedankenverloren auf den Fluss. Als ich ein Kind war und Mama noch gelebt hat, hat sie das oft mit mir gemacht. Sie ist nicht mit mir zu einem Spielplatz oder Tierpark gegangen, sondern hat sich mit mir immer im Wald, auf einem Feld oder am Fluss hingesetzt und mir gezeigt, wie man Haarkränze aus Gänseblümchen macht, mit mir die Enten gefüttert oder im Wald nach angeknabberten Tannenzapfen gesucht, um mir zu erklären, dass sie vorher schon ein Eichhörnchen in der Hand gehalten hatte. Manchmal bin ich ganz froh, dass ich mich an ihren Tod nicht erinnern kann. Ich war zu klein, um es zu verstehen. Das schmerzende Loch, das sie hinterlassen hat, ist schlimm genug. Ich weiß nicht ob ich es auch noch ertragen würde wenn ich bei ihrem Tod dabei gewesen - sie gesehen oder es verstanden hätte. So viele Erwachsene haben versucht es mir nahezubringen in dem Missglauben, es würde mir helfen. Aber ich wollte es gar nicht verstehen. Bis heute kann ich besser damit leben, dass sie einfach verschwunden ist, als zu verstehen, dass sie wirklich tot ist.
Plötzlich spüre ich einen warmen Druck auf meiner Schulter und einen Schatten der sich über mich ergießt. Wie aus einem Tiefschlaf gerissen fahre ich herum und kippe dabei auf die Seite. Meine Hand gräbt sich in das feuchte Gras.
"Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken." Robyn schaut neben mir auf die Wiese: "Darf ich?"
Immer noch mit galoppierendem Puls nicke ich und versuche tief durchzuatmen. Meine Schreckhaftigkeit ist neben Jade mein treuester Begleiter. Egal wie viel älter ich werde und wie oft ich mir schon gesagt habe, dass es keine reellen Gefahren gibt, die auf mich lauern, ich kriege sie nicht weg. Es ist genauso absurd wie der Gedanke von Frauen, die abends beim Joggen an einem Maisfeld vorbeilaufen und fürchten, es könnte jede Sekunde ein Triebtäter hervorspringen und sie missbrauchen. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, dass irgendein Mensch so lange in einem Gebüsch hockt und nur darauf wartet, dass zufällig, irgendwann, vielleicht eine hübsche Frau an ihm vorbeiläuft, um sie zu missbrauchen, sehr gering. Die wirklichen Perversen trifft man mitten auf der Straße unter hunderten von Menschen... oder im eigenen Zuhause.
"Worüber denkst du nach?", fragt Robyn, nachdem sie mich eine Weile von der Seite gemustert hat, während ich immer noch auf den Fluss vor mir blicke.
"Darüber, dass du tatsächlich aufgetaucht bist", lüge ich wie ein Weltmeister und hoffe, dass sie die Nervosität aus meiner Stimme nicht heraushört. In Wahrheit klopf mir das Herz bis zum Hals, seit sie sich so dicht neben mich gesetzt hat und ich ihre Körperwärme spüren kann. Auch ihr frischer, altvertrauter Duft, der sich selbst in all den Jahren nicht verändert hat, löst beine schwindelerregende Loopings in meiner Brust aus.
"Natürlich bin ich gekommen", erwidert sie mit einem Seitenblick auf mich und verzieht ihre Lippen zu einem leichten Lächeln. Im Grunde bin ich über meine Gefühle für sie nicht überrascht. Schon mit sechzehn habe ich total für sie geschwärmt. Nur war mir nie so heiß und kalt zugleich geworden und noch nie hat mir ihre Stimme einen Schauerregen über meinen Rücken prasseln lassen. Als hätte sich mein Herzklopfen von damals bis heute um das hundertfache verschnellert.
"Erinnerst du dich, wie rot hier damals alles war?"
Ihre Frage kommt unerwartet und als ich zu ihr sehe merke ich, dass ihr Blick, obwohl er über die saftig-grüne Wiese schweift, irgendwie in sich selbst gekehrt ist.
"Das war mein allererster Gedanke, als ich hier angekommen bin. Wir sind hier oben den Weg entlang gefahren und dann mit vollem Tempo dort runter gedüst." Ich deute mit meinem Finger in die Richtung, aus der wir damals gekommen waren. Robyn nickt und lacht in sich hinein. Es ist irgendwie dasselbe Lachen wie damals, nur etwas tiefer, klangvoller. Vielleicht sogar melodischer. Und nicht mehr so ausgelassen. Ich frage mich, was bei ihr in den fünf Jahren passiert ist. Als hätte sie meine Gedanken gehört, senkt sie ihren Kopf und das Lächeln in ihrem Gesicht erstirbt. Ich schaue weg. Es ist zu schwer sie anzuschauen, ohne dass es wehtut. Alles an ihr erinnert mich an die Zeit, in der noch einigermaßen alles okay war.
"Violet, ich möchte mich für gestern entschuldigen", sagt sie so plötzlich, dass mein Verstand die Worte erst gar nicht verarbeiten kann.
"Was?", frage ich blöd wie Brot.
Sie hebt den Blick und sieht mir direkt in die Augen. Sie sind nicht ganz so dunkel wie die Nacht zuvor, und trotzdem könnte man in ihrem Dunkelblau die Sterne glitzern sehen. "Ich rede von meiner Frage. Ich fürchte, sie war zu direkt. Wir haben uns lange nicht gesehen, haben keinen Kontakt gehabt... ich wollte dir nicht zu nahe treten."
Fast hätte ich aufgelacht. Mir zu nahe treten? Ich war einfach einen Schritt auf sie zugegangen, nach fünf langen Jahren, und hatte sie nach kaum fünf Minuten Gespräch geküsst. Bei der Vorstellung schießt mir schon wieder das Blut ins Gesicht.
"Es hat mich trotzdem nie losgelassen", setzt sie fort und blick hinaus auf den Fluss, "Seit ich wieder abgereist bin und im Ausland gearbeitet habe, konnte ich kaum einen Tag verbringen ohne mir die Frage zu stellen, wie es dir geht."
Die Vorstellung, dass sie mich in all den Jahren genauso wenig vergessen hatte wie ich sie, löst ein inneres Zittern in mir aus. So wie sie mit mir spricht, könnte ich mir fast einbilden, dass ich ihr etwas bedeute. Mehr als bloß eine schöne Freundschafts-Sommererfahrung. Ich schweige.
"Ich hätte nicht so überstürzt sein dürfen und dennoch quält mich die Frage immer noch, Vio." Sie dreht ihren Kopf wieder in meine Richtung und beinahe glaube ich, dass sie gleich meine Hand in ihre nimmt, doch sie lässt sie weiterhin locker über ihre Knie hängen und spielt mit einem Grashalm, das sie ausgerissen hatte.
Irgendwas in mir entfernt sich, ohne, dass ich sagen könnte was genau. Genauer fühlt es sich eher so an, als würde mein Körper neben ihr sitzen bleiben, während ich selbst immer weiter verschwinde, nach hinten gleite, als würde ich weggezogen werden. Das Gefühl ist so merkwürdig, dass ich beinahe ihre Worte vergesse, die ich ... ja, was eigentlich? Beunruhigend oder verstörend finden sollte? Für eine Sekunde fühle ich mich, als würde ich in einen Sekundenschlaf fallen und nach hinten wegkippen.
Auf einmal sitze ich auf dieser nassen Wiese und wieso zum Teufel starrt sie mich so merkwürdig an? Diesen Blick kenne ich. Den kenne ich von Frau Jahn genauso wie von Alexej oder Jade und ich hasse ihn. Es ist dieser verschissene "ich sehe dass etwas nicht stimmt-Blick", als wüssten sie alles besser.
"Was?", frage ich, gereizter als ich will und halte ihrem Blick stand. Meine Augenbrauen habe ich so fest zusammengezogen, dass mir beinahe die Stirn wehtut.
"Ich muss es dich nochmal fragen. Und ich hoffe, dass du mir diesmal antwortest...", um ihre Lippen spielt ein Schmunzeln, "...anstatt mich zu küssen."
Sie zu küssen? Spinnt die komplett? Ich schnaube verächtlich und fühle mich beinahe schlecht, als ihr Lächeln verschwindet. Es ist irgendwie hübsch.
"Was willst du fragen", entgegne ich dennoch weiterhin ziemlich unwirsch und verschränke aus einer mir typischen Abwehrhaltung heraus die Arme vor der Brust.
Sie sieht mich lange einfach nur an. Fast so, als stünde eine Steintafel mit Hieroglyphen vor ihr, das se entziffern muss. Dann atmet sie Luft aus, die sie schon länger angehalten haben muss.
"Bist du in Sicherheit?"
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