17.000 Meter

Mir ist kalt. Der Wind wird immer kühler, dabei ist doch eigentlich Hochsommer. Mein Gesicht klebt von den Tränen. Es fühlt sich trocken und spröde an. Ich fühle mich ausgehöhlt. Als hätte ich meine Seele in den Asphalt geweint und dort unter der dicken Schicht in der Erde gelassen.

"Wer braucht dich schon", flüstere ich zu mir selbst, während ich versuche meinen Stolz zurück zu erobern, in dem ich ihm zeigen werde, dass ich diese 17 Kilometer auch alleine im Stande bin zu laufen. Wer braucht schon diese graue, unsichtbare Seele? Sie hat doch meinen Körper nur beschmutzt und ausgenutzt. Ich kann auch ohne Seele leben. Tot wie ein Zombie. Vielleicht könnte ich ihn dann auch töten, bevor er mich tötet. Er wird mich töten. Ich weiß es. Ich spüre es. Aber, verdammt, wenn ich meine Seele dort zurückgelassen habe, sollte ich dann keine Angst mehr spüren?

Der Weg scheint endlos, und obwohl sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, fühle ich mich kein bisschen sicherer. Wieso hat er mich hier draußen gelassen? Ich höre hinter mir einen Motor. Scheinwerfer blitzen auf, werden immer heller. Das Auto verlangsamt. Bleibt stehen.

"Hey! Was machst du hier? Steig ein!"

Ich runzele die Stirn, versuche in das heruntergelassene Fenster zu spähen, dann zeige ich dem Typen mit den dunklen Locken und dem herzförmigen Gesicht den Vogel: "Hau ab du Freak!"

Er zieht verwirrt die Brauen zusammen, zuckt dann mit den Achseln und düst davon.

Was war das bitte für ein gruseliger Irrer? Hat der nichts besseres zu tun als nachts wildfremde Frauen auf der Straße anzusprechen und in sein Auto zu bitten? Was für ein Idiot. Kopfschüttelnd setze ich meinen Weg fort. Wie lange ich wohl schon laufe? Ich habe keine Ahnung. Wenn ich im Auto mitgenommen wurde, konnte ich viel besser einschätzen, wann ungefähr das erste Zeichen von Zivilisation einbrechen würde. Doch so kam es mir vor, als würde ich in einer Zeitschleife feststecken und immer denselben Weg erneut gehen. Vielleicht habe ich meine Seele ja doch verloren und so fühlt sich der Tod an. Trotzdem denke ich nicht daran aufzugeben. Ich laufe tapfer weiter. Irgendwann werde ich schon irgendwo ankommen.

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Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als ich endlich unsere Haustür erreiche. Geschwächt von dem langen Tag krame ich nach dem Hausschlüssel in meinem kleinen Rucksack und merke, dass mir vor Müdigkeit beinahe die Augen beim Suchen zufallen. Doch bevor ich den Schlüssel finden kann, öffnet er mir die Tür. Ich schaue zu ihm hoch. Seine Augen sind rot geädert, er muss geweint haben. Seine große, starke Hand stützt ihn am Türrahmen, als müsse er sich festhalten. Wir starren uns eine ganze Weile an. Sein vertrauter Duft steigt mir in die Nase und der besorgte Ausdruck in seinen Nordpol-Augen lässt mich ganz klein fühlen. Ich will wieder das fünfjährige Mädchen sein, das nach dem Duschen in eine Decke gewickelt und auf dem Sofa verfrachtet wird, auf dem es mit einer heißen Schokolade ihren Lieblingszeichentrick schauen kann. Mit einem einzigen Schritt lehne ich mich vor und lasse mich an seine starke Brust fallen. Er legt die Arme um mich, schließt die Tür und hält mich fest. Sein Gesicht vergräbt sich in meinen Haaren, ich spüre seinen warmen Atem und ein paar kalte Tropfen. Er weint.

"Ach Violet... wieso tust du mir das an?"

Ich entziehe mich irgendwann seiner Umarmung und gehe an ihm vorbei in die offene Küche, wo ich, wie immer, meinen Rucksack auf einem der Barhocker abstelle und mich an die Insel setze. Dort steht ein kleines Glas mit Süßigkeiten in der Mitte. Ich greife rein und nehme mir ein Schokobon heraus.

"Ich habe gekocht", sagt er wieder mit festerer Stimme hinter mir.

Ich blicke rüber auf die Herdplatte, wo eine dampfende Auflaufform steht. "Ich weiß. Ich habe es gerochen", antworte ich und drehe mich mit einem spitzbübischen Lächeln um, "Hab ne gute Nase. Und du hast schon wieder Spinat reingehauen."

"Oh nein..." Er schlägt die Hände über den Kopf zusammen, geht um die Kücheninsel herum und hebt die Auflaufform mit einem Topflappen an, um reinzusehen. Als könnte er den Spinat mit seinen Augen wieder raus-scannen. "Tja", seufzt er, "Dann muss ich den leckeren Chili-Honig Lachs mit Spinat-Sahne Soße wohl selber essen..."

"Das muss dir das Herz brechen", erwidere ich theatralisch mit der schmelzenden Schokolade im Mund.

"Zutiefst. Aber wenn du Hunger hast, von gestern ist noch Spaghetti da."

"Ich hab ein Date mit den Nudeln." Ich springe vom Barhocker auf und gehe zum Kühlschrank um mir das gestrige Abendessen rauszuholen. Gemeinsam richten wir unser Essen her und setzen uns zurück an die Insel, mit einem Stuhl Abstand zwischen uns. Ich habe so Hunger, dass ich die Nudeln fast im ganzen herunterschlinge und die Soße überall an meinem Gesicht hängen bleiben muss. Zumindest das warme Spaghetti essen und die Soße an meinem Gesicht erinnern mich auch ein bisschen an gute alte Zeiten.

"Wieso hast du mir nicht einfach eine kurze Info geschrieben, dass du später nach Hause kommst?", fragt er plötzlich in die Stille hinein.

"Weil ich nicht geplant hatte so lange weg zu bleiben", antwortete ich ehrlich und fragte mich gleichzeitig, ob die Zeit mit Blade wirklich so schnell vergangen war. Wir hatten uns doch an der Bushaltestelle getroffen und waren dann gerade einmal zwanzig Minuten im Lions & Dragons, bevor er aufgetaucht ist. Oder habe ich schon wieder einen Blackout von zwischen Therapie-Ende und Blade-Treffen?

"Worüber denkst du nach?"

"Ähm... nichts. Passt schon. Tut mir leid. Woher wusstest du, dass ich im Lions bin?"

"Weil ihr dort immer seid."

"Hm, das stimmt wohl." Ich schiebe den leeren Teller von mir und wische mein Gesicht mit dem Handrücken einmal ab. Dann spring ich vom Barhocker und bin überrascht, dass ich gar nicht so weit oben saß, wie ich dachte. Bin ich etwa gewachsen? Sieht so aus. Ich schaue hinab. Der Abstand zum Boden ist viel größer geworden. Mir wird leicht schwindelig.

"Violet?" Sofort steht er auf und hält mich an der Schulter, als ich schwanke.

"Passt schon", sag ich schnell und entziehe mich seiner Hand um in mein Zimmer zu rennen, "Danke fürs Essen."

👥

In meinem Zimmer schmeiße ich mich aufs Bett und realisiere erst gar nicht, dass es gar nicht meine Dino-Bettdecke ist, die ich so sehr liebe.

"Hä, warum?", murmele ich verärgert zu mir selber, während ich den weiß-grau gemusterten Stoff in meiner Hand zusammenknülle, als könnte ich dadurch die Dinos wieder herzaubern. Da waren heute Früh doch noch die Dinos drauf! Hat er etwa?... Mit einem innerlichen Schaudern schaue ich zu meiner braunen Zimmertür, die einige Kratzer an den Rändern aufweist. Es gibt nur einen Grund, wieso er für mich einfach so random die Bettdecken tauscht.

Ein kleines dreckiges Monster kriecht von meinem Unterleib bis in mein Magen und spielt dort Rodeo bis mir schlecht wird. Ich wische mir einen kalten Schweißfilm von der Stirn, fühle mich angeekelt, wertlos, wie ein kleines Stück Tempo am Straßenrand, das einmal benutzt und weggeschmissen wurde. Ich will das nicht mehr, schluchze ich innerlich, das darf nicht schon wieder passiert sein. Wieso kriege ich das nicht mit? Wieso kann ich das nicht stoppen?

Mit Tränen in den Augen greife ich in meinem Nachtschränkchen nach meinem Tagebuch, doch meine Hand ertastet nur viele Magazine. Ich ziehe sie heraus. L-Mag, Miraculous, Happinez, Geo, Jurrasic World... Die Dino Magazine kenne ich, sind ja meine. Sind ja alles meine, aber ich kann mich nicht erinnern den anderen Kram je gelesen zu haben. Miraculous ist mir zu kitschig, auch wenn die Bösewichte manchmal ganz cool sind. Aber L-Mag? Wer liest so politischen langweiligen Kram? Geo? Geschichte habe ich genug in der Schule! Aber wo ist mein Tagebuch? Ich lasse mich kopfüber vom Bett hängen und schaue unter das Bett. Nichts. Nur ein paar Haargummis, Flusen, Socken und ein Kuscheltier. Ich bin verwirrt. Ich habe doch gestern erst da rein geschrieben und es in mein Nachtschränkchen gelegt.

Das bedeutet... jetzt laufen mir die Tränen vor Wut und Angst über die Wange. Das bedeutet, nur er kann es beim Bett beziehen gefunden und mitgenommen haben.

Verzweifelt greife ich nach meinem Handy und suche in meinen Kontakten nach dem Sonnenblumen Emoji. Es ist ganz oben in der Liste unter dem mit dem Vögelchen.

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Ich weiß nicht was los ist, es macht mir angst... mein tagebuch ist weg, die bettdecke frisch bezogen und ich fühle mich richtig angeekelt und will einfach nur sterben.
LG merida

Whatsapp ist eine richtige Stalker-App. Ich kann sehen, dass Frau Jahn schon länger nicht mehr online war. Vielleicht liest sie es heute gar nicht mehr. Was soll ich dann tun? Ich habe das Gefühl ich drehe komplett durch, wenn ich nicht mit jemandem reden kann. Ich fühle mich so allein und habe Angst. Wie soll ich ihm denn in die Augen schauen wenn ich weiß, dass er der einzige hier im Haus ist der mir die Sachen wegnehmen kann? Und...

Hallo Merida,
tief durchatmen. Ich kann mir vorstellen, dass du sehr verwirrt sein musst. Welches Tagebuch suchst du? Können dir die Anderen dabei helfen?
Liebe Grüße
Ira Jahn

Ich hasse es, wenn sie mit diesen Antworten kommt. Ich weiß nie, was sie damit meint. Die Anderen... die Anderen... welche Anderen? Dann versucht sie mir immer weis zu machen, dass ich nicht allein in meinem Körper lebe. Die spinnt doch!

Ich weiß nicht was ich tun soll ich fühl mich so widerlich.... ich weiß IMMER wenn die bettdecke frisch ist das es wieder passiert ist. das ist immer so IMMER!

-Merida, weißt du, welches Jahr wir gerade haben?

Macht die Witze? Was ist das für eine bescheuerte Frage? Hastig wische ich mir die Tränen von der Wange und tippe wütend zurück:

Hä klar wtf soll die frage?! 2022! ich bin doch nicht blöd! ich weiß nicht was ich tun soll ich will grad wirklich sterben!

-Wenn wir das Jahr 2022 haben, dann weißt du, dass du 21 Jahre alt bist und bei deinem Onkel Alexej lebst, seit dein Vater vor vier Jahren verstorben ist?

Quatsch! ich bin dreizehn und ja natürlich weiß ich das er auf mich seitdem aufpassen MUSS weil ich sonst ja ins kinderheim gekommen wäre!!!

Ich sehe unter ihrem Profilbild, dass sie offline geht und eine ganze Weile nicht mehr online kommt. Was jetzt? Wieso antwortet sie nicht mehr? Wütend knalle ich das Handy auf mein Nachtisch, vergrabe mein Gesicht in das Kissen und fange laut an zu weinen. Nicht einmal auf Frau Jahn kann man sich verlassen. Alle lassen mich im Stich.







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