Kapitel 16
Yuichiro POV:
Die Zeit rann mir durch die Finger, und die Sonne kannte keine Gnade. Ich hörte das Zwitschern der Vögel, das leise Rauschen des Windes in den Blättern – alles war so friedlich, als wäre die Welt nicht gerade dabei, mir meinen kleinen Bruder zu nehmen.
„Verdammt... wo bleibt diese verdammte Krähe?!" zischte ich und blickte verzweifelt zum Himmel. Keine Spur von ihr. Keine Spur von Hilfe.
Dann passierte es.
Die ersten Sonnenstrahlen schoben sich durch die Blätter über uns hinweg und fielen auf Muichiros Arm. Sofort zischte es, als ob sein Fleisch verbrannte, und er stieß einen erstickten Schrei aus. Sein Körper zuckte heftig, und er klammerte sich an mich, während sich dunkle Rauchfäden von seiner Haut lösten.
„Yuichiro...! Es tut so weh...!"
Seine Stimme war voller Panik, voller Schmerz – und ich konnte nichts tun.
„Scheiße, nein!" Ich reagierte instinktiv, warf mich über ihn und drängte ihn mit aller Kraft tiefer in den Schatten. Ich spürte, wie sein Körper zitterte, wie seine Finger sich an mein Gewand krallten, und ich hätte am liebsten selbst geschrien.
Doch es reichte nicht.
Die Sonne kroch unaufhaltsam weiter und erhellte den Wald immer mehr. Egal, wie sehr ich mich bemühte, mein Schatten war nicht groß genug, um ihn vollständig zu bedecken.
„Yuichiro... hilf mir...!"
Sein Flehen bohrte sich wie ein Dolch in mein Herz. Ich konnte das nicht zulassen. Ich konnte nicht einfach zusehen, wie er vor meinen Augen verbrannte! Ich war sein großer Bruder! Ich musste ihn beschützen!
Dann fiel es mir ein.
„Muichiro! Hör mir zu!" Ich packte ihn an den Schultern und zwang ihn, mich anzusehen, obwohl seine Augen voller Tränen waren. „Dämonen können ihre Körpergröße verändern, verdammt! Tu es! Schrumpfe! Mach dich kleiner, damit ich dich schützen kann!"
Sein Atem ging schwer, und für einen Moment schien er zu zögern.
„Ich... ich weiß nicht, ob ich das kann..."
„Du KANNST es!" schrie ich. „Wenn du es nicht tust, bist du tot!"
Sein Körper bebte. Noch mehr Sonnenstrahlen brachen durch das Blätterdach, und ich sah, wie seine Wangen langsam verbrannten. Panik flammte in seinen Augen auf. Dann – plötzlich – begann sein Körper zu schrumpfen.
Innerhalb von Sekunden war er kein Teenager mehr.
Er war ein Kleinkind.
Ein winziger Junge mit großen, verweinten Augen, blasser Haut und einem viel zu großen Kimono, der nun lose um seinen winzigen Körper hing.
Ich keuchte. Es hatte funktioniert.
Muichiro sah an sich herunter, seine kleinen Hände zitterten, seine Lippen bebten – er verstand selbst nicht, wie er das getan hatte.
„Yuichi... ro...?" Seine Stimme war kaum mehr als ein Wimmern.
Ich zog ihn sofort an mich, barg seinen kleinen Körper unter meinem Mantel und presste ihn fest gegen mich, um ihm so viel Schatten wie möglich zu spenden.
„Alles gut... ich hab dich... ich hab dich, Muichiro..." Ich wiederholte es immer wieder, als ob es ihn beruhigen würde, als ob es mich selbst beruhigen würde.
Er klammerte sich an mein Gewand wie ein verängstigtes Kind – was er jetzt ja tatsächlich war – und weinte leise gegen meine Brust.
Die Sonne stieg immer weiter, doch jetzt reichte mein Schatten aus.
Ich atmete tief durch und kämpfte gegen den Kloß in meiner Kehle an.
Ich hatte ihn gerettet. Gerade so.
Doch uns war die Zeit davongelaufen. Keine Hilfe war gekommen. Ich konnte nicht ewig hier sitzen und hoffen, dass irgendwer auftauchen würde. Ich musste selbst einen Weg finden, ihn zu retten.
Ich blickte auf das zitternde Kind in meinen Armen hinab.
„Ich bring dich hier raus, Muichiro", versprach ich ihm leise. „Ich schwöre es."
Ich hielt Muichiro fest in meinen Armen, sein kleiner Körper zitterte immer noch. Die Sonne brannte gnadenlos auf uns herab, doch dann – endlich! – schoben sich dichte Wolken vor die Sonne und warfen einen kühlen Schatten über uns.
Das war meine Chance.
Ohne eine Sekunde zu zögern, packte ich Muichiro fester und sprang auf. „Halte dich gut fest! Wir müssen hier weg, bevor die Sonne wieder herauskommt!"
Muichiro schlang seine winzigen Arme um meinen Hals und vergrub sein Gesicht an meiner Schulter. Er sagte nichts, aber sein leises, zittriges Atmen sagte mir genug. Er hatte Angst. Und ich konnte es ihm nicht verdenken.
Ich rannte los.
Der Waldboden flog unter mir vorbei, während ich so schnell wie möglich durch das dichte Unterholz sprintete. Mein Herz hämmerte in meiner Brust. Ich musste es schaffen. Ich durfte nicht scheitern.
Muichiro war so leicht – zu leicht. Es machte mir Angst, wie klein und zerbrechlich er war. Er war mein kleiner Bruder, aber jetzt fühlte es sich an, als wäre er wieder ein Kleinkind, so hilflos, so verletzlich.
Dann, wie ein Dolchstoß, spürte ich die Hitze der Sonne wieder auf meiner Haut.
„Verdammt!" Ich keuchte, als ich sah, dass die Wolken sich langsam auflösten. Sonnenstrahlen brachen wieder durch.
„Yuichiro...!" Muichiros Stimme war kaum mehr als ein Wimmern.
Ich entdeckte einen großen Baum mit breiten Ästen und dichten Blättern und setzte alles daran, ihn rechtzeitig zu erreichen. Mein Körper protestierte, meine Beine brannten vor Anstrengung, aber ich durfte jetzt nicht langsamer werden.
Mit letzter Kraft warf ich mich unter den Schatten des Baumes und sank auf die Knie. Muichiro klammerte sich an mich, seine kleinen Finger gruben sich in meinen Kimono.
Ich keuchte schwer, mein Körper zitterte vor Erschöpfung.
„Alles... alles gut..." Ich streichelte ihm beruhigend über den Kopf, auch wenn mein eigener Herzschlag wild gegen meine Rippen hämmerte.
Muichiro schluchzte leise. „Ich... ich hatte Angst..."
Ich schloss die Augen und drückte ihn fester an mich. „Ich weiß, Muichiro... Ich weiß."
Wir blieben so sitzen, während mein Atem sich langsam beruhigte. Aber ich wusste, dass wir hier nicht ewig bleiben konnten.
Ich hob meinen Blick zum Himmel. Die Wolken wurden immer dünner, die Sonne hatte bald wieder die Oberhand.
Verdammt.
Ich musste einen Weg finden, ihn sicher zum Anwesen zu bringen. Doch wie? Wir hatten keine Hilfe, keine Krähe war zurückgekehrt, und die Sonne war unser schlimmster Feind.
Muichiro hob seinen kleinen Kopf und sah mich mit seinen großen, verweinten Augen an.
„Yuichiro... was machen wir jetzt?"
Ich biss die Zähne zusammen.
„Wir müssen uns von Schatten zu Schatten bewegen", sagte ich schließlich. „Immer weiter, bis wir sicher sind."
Muichiro nickte langsam, aber ich sah die Erschöpfung in seinem Gesicht. Er war schwach, sein kleiner Körper war noch nicht an diese Form gewöhnt.
Ich schloss kurz die Augen und fasste einen Entschluss.
„Egal was passiert, Muichiro... ich lasse dich nicht los."
Er blinzelte mich an. Dann nickte er und klammerte sich erneut an mich.
Ich holte tief Luft. Dann wartete ich auf die nächste Wolke.
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