Kapitel 10

Yuichiro POV:

Es waren jetzt sechs Tage vergangen, seitdem ich den Posten meines Bruders übernommen hatte. Sechs Tage, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, ein Albtraum, aus dem ich nicht erwachen konnte. Die Nächte waren die schlimmsten, die ich je erlebt hatte. In meinen Träumen sah ich Muichiro immer wieder. Doch jedes Mal, wenn ich aufwachte, war es noch schlimmer. Er war nicht mehr hier. Er war fort.

„Er kann nicht tot sein", murmelte ich immer wieder vor mich hin, als ob diese Worte mich irgendwie von diesem Schmerz befreien könnten. „Muichiro muss noch leben..." Ich rieb mir das Gesicht und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr verdrehte sich alles in meinem Kopf. Es war zu viel. Der Verlust. Die Verantwortung. Und die ständigen Erinnerungen an ihn.

Ich hatte das Stichblatt meines Bruders an meinem Schwert anfertigen lassen. Ein Symbol. Etwas, das mir zeigte, dass ich ihn ehren wollte. Es war nicht nur ein Stück Metall. Es war ein Zeichen dafür, dass ich die Verantwortung, die er hinterließ, nicht einfach aufgab. Ich wollte der Nebelsäule gerecht werden, so wie er es war. Aber der Gedanke, dass er tatsächlich tot war... Es schmerzte einfach zu sehr.

„Du bist der Einzige, der den Posten übernehmen kann. Du bist sein Bruder", hatte Amane-sama mir gesagt, als sie mich bat, die Stelle anzutreten. Aber was wusste sie schon? Sie hatte nie mit eigenen Händen den Verlust erlebt. Sie konnte sich nicht vorstellen, was es bedeutete, zu versuchen, in die Fußstapfen von jemandem zu treten, den man über alles geliebt hatte.

Sanemi und Obanai hatten mich nicht mal als Säule akzeptiert. Sie fanden mich zu unwürdig, um den Posten meines Bruders zu übernehmen. Und da hatten sie recht. Ich war nicht wie Muichiro. Ich hatte nie die gleiche Ausstrahlung, nie die gleiche Ruhe. Ich war einfach... ich. Immer schon in seinem Schatten. Und jetzt, da er nicht mehr da war, war ich nichts anderes als ein Schatten eines Schattens.

„Du bist nicht gut genug", flüsterte ich immer wieder, als ich allein in meinem Zimmer saß. „Du bist nicht gut genug, um seinen Platz einzunehmen. Du wirst niemals so gut sein wie er."

Ich blickte auf das Schwert, das neben mir auf dem Tisch lag. Das Stichblatt glänzte im schwachen Licht der Kerzenflamme. Ich zog das Schwert heraus, betrachtete es eine Weile und spürte, wie sich eine Welle der Verzweiflung in mir aufbaute. Es war nicht gerecht. Es war nicht fair. Ich sollte nicht derjenige sein, der diese Verantwortung trug. Es sollte Muichiro sein, der mit dieser Last kämpfte, nicht ich.

„Warum musstest du gehen, Muichiro?" flüsterte ich mit zitternder Stimme. „Warum konnte ich dich nicht beschützen?"

Es war, als ob mein Herz in meiner Brust zerspringen würde. Es war so schwer zu atmen. Die Verantwortung, die auf meinen Schultern lastete, war zu viel. Sie zerriss mich von innen heraus. Ich wollte nicht der Nebelsäule sein. Ich wollte einfach nur, dass Muichiro zurückkommt. Aber das war unmöglich, nicht wahr?

Ich hatte ihn verloren. Für immer. Und ich konnte nichts tun.

Die Gedanken kreisten weiter, und ich fühlte mich, als ob mein Verstand langsam zerbröckelte. Ich hatte meinen Bruder verloren. Aber viel mehr noch – ich hatte mich selbst verloren. Der Mann, der ich heute war, war nicht der, der ich sein wollte. Der Titel der Nebelsäule war ein Fluch, und ich wusste, dass ich niemals in Muichiros Fußstapfen treten konnte.

„Warum...", flüsterte ich erneut, diesmal mit einer Schärfe in meiner Stimme, die die Tränen in meinen Augen brennen ließ. „Warum musstest du immer der Stärkere, der Bessere sein?"

Die Stille um mich herum war erdrückend. Niemand hörte mich. Niemand verstand den Schmerz, den ich in mir trug. Es gab keine Worte, die mich beruhigen konnten. Und das Schwert – das Erbe meines Bruders – schien mir nur noch mehr die Last seiner Abwesenheit zu zeigen.

Ich stand auf, warf das Schwert auf den Boden und rannte nach draußen. Die kalte Nachtluft schlug mir entgegen, als ich ziellos durch den Wald rannte. Meine Beine trugen mich immer weiter, ohne ein Ziel. Ich wollte einfach nur weg. Weg von allem. Weg von dieser Verantwortung. Weg von dem Wissen, dass ich meinen Bruder nie wieder sehen würde.

„Muichiro...", rief ich laut in die Nacht, als ob ich ihn hören könnte. „Warum... hast du mich alleine gelassen?"

Aber natürlich kam keine Antwort. Nur das Rauschen des Windes in den Bäumen und das Knacken von Ästen unter meinen Füßen. Es war so ruhig, dass es fast schmerzte. Und dann brach ich zusammen. Inmitten der Dunkelheit, umgeben von der Stille der Nacht, fiel ich auf die Knie und begann zu weinen.

„Ich kann das nicht", stieß ich durch Tränen hervor. „Ich bin nicht gut genug. Ich werde niemals so gut sein wie du. Warum hast du mich allein gelassen?"

Ich war nicht bereit, diese Last zu tragen. Und ich wusste, dass ich es niemals schaffen würde, Muichiro zu ersetzen.

Ich jagte Dämonen – unaufhörlich, bis meine Muskeln schmerzten, bis mein Körper an seine Grenzen stieß. Aber es war nie genug. Ich wollte Muichiros Tod rächen. Es war alles, was mich noch antrieb. Mein Kopf war nur noch ein ständiges Rauschen aus Wut und Trauer. Jeder Dämon, den ich erlegte, schien mich nicht einen Schritt weiterzubringen. Was war der Sinn? Selbst wenn ich jeden Dämon auf der Welt tötete, würde es nicht zurückbringen, was ich verloren hatte.

„Muichiro..." flüsterte ich immer wieder in den Wind, während ich durch die Dunkelheit lief. „Du warst mein Bruder. Du warst alles für mich."

Die Worte kamen mir schwer über die Lippen. Ich wollte nicht akzeptieren, dass er nie wieder hier sein würde. Dass ich nie wieder seine sanfte, aber auch stürmische Präsenz fühlen würde. Es war als ob ein Teil von mir selbst mit ihm gestorben war.

Ich kämpfte weiter, als ob ich es schaffen könnte, die Leere zu füllen, die Muichiro hinterlassen hatte. Doch je mehr Dämonen ich tötete, desto größer wurde die Leere. Kein Sieg, kein Kampf, nichts konnte mir den Frieden bringen, den ich so verzweifelt suchte.

Ich erinnere mich an die Tage, als wir zusammen trainierten, uns gegenseitig herausforderten, uns mit einem Lächeln verspotten. Muichiro hatte immer diese ruhige Art. Ich hatte nie verstanden, wie er so gelassen sein konnte, aber heute wünschte ich, ich hätte es damals mehr geschätzt. Wir hatten uns manchmal gestritten, oft miteinander gelacht. Und dann, plötzlich, war all das fort. Und es gab niemanden mehr, mit dem ich diese Momente teilen konnte. Niemanden, dem ich meine Gedanken anvertrauen konnte.

„Warum? Warum musstest du gehen, Muichiro?"

Ich schrie es in die Nacht, als ich wieder ein paar Dämonen erledigte. Es war das einzige, was mir geblieben war: der Schmerz. Die Trauer. Und der unerbittliche Drang, zu rächen, was mir genommen worden war. Aber kein Kampf, keine Schlacht würde jemals den Verlust ausgleichen, den ich fühlte.

Ich hatte mit niemandem mehr gesprochen. Sanemi, Obanai, alle... Sie akzeptierten mich nicht. Sie hielten mich für zu schwach, zu fehlerhaft. Aber sie wussten nicht, wie es war, einen Bruder zu verlieren. Sie wussten nicht, was es bedeutete, mit dem Wissen zu leben, dass die Person, die man am meisten liebte, nie wieder zurückkehren würde.

„Ich bin so wütend, Muichiro..." sagte ich leise, als ich mit zitternder Hand das Schwert auf den Boden drückte. „Ich bin so wütend, dass du einfach weg bist, und ich konnte nichts tun."

Die Tränen kamen langsam. Zuerst nur ein paar Tropfen, dann immer mehr. Die Wut, die Trauer, alles strömte aus mir heraus, als ob ich meinen Schmerz in die Nacht schreien könnte. Aber es half nicht. Nichts half. Denn nichts konnte den Schmerz in meiner Brust lindern. Es war, als ob ich in einer endlosen Dunkelheit gefangen war, ohne Hoffnung auf ein Ende.

Ich ließ mich auf die Knie fallen, meine Hände zitterten, als ich nach Luft schnappte.

„Es tut mir leid, Muichiro. Ich wollte immer nur, dass du stolz auf mich bist. Ich wollte dir zeigen, dass ich dich nicht enttäusche..."

Ich hatte nie die Chance gehabt, ihm das zu sagen. Ich hatte nie die Chance, ihm zu sagen, wie viel er mir bedeutete, wie viel er für mich war. Stattdessen war er weg, und ich blieb zurück, alleine, mit all dem, was nie ausgesprochen wurde.

„Warum hast du mich allein gelassen?"

Ich schluchzte, die Worte kaum zu fassen. „Warum musstest du... warum hast du uns verlassen? Ich wollte dir immer alles erzählen... ich wollte dir immer sagen, wie sehr du mir fehlst..."

Aber er konnte mich nicht hören. Er war nicht mehr hier. Und ich blieb zurück, gefangen in diesem endlosen Abgrund, den der Verlust von Muichiro hinterlassen hatte.

„Ich weiß, du bist stark, Muichiro... Du hast immer gewusst, was zu tun ist... aber ich... Ich bin so schwach ohne dich."

Ich beugte mich weiter vor, meine Stirn drückte sich gegen den kalten Boden. Die Tränen flossen unaufhörlich, und ich konnte nichts dagegen tun. „Es tut so weh... Es tut so weh, dich nie wieder zu sehen. Ich... Ich weiß nicht, wie ich ohne dich weitermachen soll."

Ich wollte nicht länger kämpfen. Ich wollte nicht mehr Dämonen töten. Ich wollte einfach nur, dass alles aufhört. Dass der Schmerz aufhört. Doch nichts änderte sich. Nichts konnte ihn zurückbringen.

Der Wind wehte durch die Bäume, und der Mond schien auf mich herab, als ob er mich in meine Einsamkeit hüllte. „Muichiro..." flüsterte ich noch einmal, als die Dunkelheit mich umhüllte. „Ich hoffe, du kannst mir irgendwann vergeben. Ich hoffe, dass du mir irgendwann sagst, dass ich gut genug war."

Doch es gab keine Antwort. Nur die endlose Stille, die mich wie ein schwerer Mantel umhüllte.

Muichiro POV:

Ich stand in einem kalten, düsteren Raum, die Atmosphäre schwer von Macht und Bedrohung. Vor mir saß ein Mann, dessen Präsenz selbst die Luft erstarren ließ – Muzan Kibutsuji, der Dämonenoberhaupt. An seiner Seite stand Kokushibo, der Mann mit den sechs Augen, der mich ausgebildet hatte und der mich nun zu dem gemacht hatte, was ich war: stärker, schneller, unaufhaltsam. Aber all das, was mich ausmachte, schien fremd. Ich wusste nicht, wer ich war, bevor ich dieser Welt begegnete. All die Erinnerungen an mein menschliches Leben waren ausgelöscht, als ob sie nie existiert hätten.

„Mujirou", sagte Muzan mit seiner tiefen, furchteinflößenden Stimme, „wie viele Menschen hast du schon gefressen?"

„2791", antwortete ich monoton, als ob die Zahl nichts mehr für mich bedeutete. Ich wusste, dass es eine beachtliche Zahl war, aber in diesem Moment fühlte es sich leer an. Der Hunger, die Jagd – all das war ein Teil von mir, aber es war nicht mehr das, was mich wirklich beschäftigte. Ich war ein Dämon, ein Werkzeug in einer Welt, in der nur Macht zählte.

„Das ist beachtlich", sagte Muzan und musterte mich mit seinen kalten Augen. „Aber meine wahre Frage an dich ist: Wem gilt deine Loyalität?"

Ich starrte ihn an. Die Frage, die mich aus der Dunkelheit riss, in der ich mich befand. Wem galt meine Loyalität? Ich hatte keine Erinnerungen an das Leben, das ich einst geführt hatte. Ich wusste nicht, ob ich eine Familie gehabt hatte oder Freunde. Alles, was ich wusste, war, dass ich jetzt hier war, vor diesen zwei mächtigen Wesen. Kokushibo, der mich zu einem besseren Jäger gemacht hatte, und Muzan, der in seiner Güte oder Grausamkeit über alles herrschte.

„Mir selbst", antwortete ich, ohne zu zögern. Was anderes konnte ich sagen? Meine Existenz war nun das, was sie mir aufgetragen hatten zu sein. Ein Jäger, ein Werkzeug. Nichts mehr, nichts weniger.

Muzans Augen verengten sich. „Du bist ein Diener, Mujirou. Deine Loyalität gehört uns – mir und Kokushibo. Nichts anderes."

Ich nickte, obwohl ich innerlich spürte, dass irgendetwas in mir zerrissen wurde. Eine fremde Erinnerung, die ich nicht benennen konnte, ein Gefühl, das ich nicht einordnen konnte. Aber ich hatte keine Wahl. Ich war ein Dämon, ein Krieger des Oberhauptes, und alles, was ich tun musste, war zu gehorchen.

„Gut", murmelte Muzan, als er sich zurücklehnte und mit seinen Fingern schnippte. Ein dämonischer Untergebener trat vor und überreichte mir ein weiteres Auftragspapier, das ich stumm entgegennahm. „Du wirst weiter jagen, Mujirou. Dein Hunger soll niemals gestillt sein. Und deine Loyalität soll dir nicht erlauben, etwas anderes zu wollen. Verstehst du das?"

„Ja, Herr", antwortete ich, ohne zu zögern.

Kokushibo, der in der Ecke des Raumes stand und mich schweigend beobachtete, trat einen Schritt nach vorn. „Mujirou, du bist stark geworden. Aber vergiss niemals, wer dich hierher geführt hat. Du bist ein Krieger des Dämonenoberhaupts, und du wirst deinen Platz in dieser Welt behaupten."

Ich nickte. Auch wenn die Worte schwer in meinem Inneren lasteten, wusste ich, dass ich keine andere Wahl hatte. Sie hatten mich erschaffen. Sie hatten mich zum Leben erweckt – oder zumindest zu dem, was ich jetzt war.

„Mach dich bereit", sagte Kokushibo, bevor er sich zurückzog. „Die nächsten Aufgaben werden härter. Aber du wirst sie überstehen."

Die Worte waren wie ein Befehl, und ich wusste, dass sie wahr waren. Der Weg vor mir war festgelegt, und ich hatte keine Erinnerung daran, jemals etwas anderes gewollt zu haben. Wer war ich eigentlich? Ich kannte nur noch den Hunger, die Jagd und die Befehle, die ich befolgen musste.

„Du wirst stark bleiben, Mujirou", sagte Muzan schließlich und nickte mir zu. „Du wirst der Zerstörung ein weiteres Gesicht geben. Mach dich bereit."

„Ja, Herr", sagte ich, und mein Blick wanderte zu Kokushibo, der mir mit einem ernsten Blick begegnete. Aber auch in ihm sah ich keine Spur von Menschlichkeit mehr, nur die kalte, unerschütterliche Entschlossenheit eines Kriegers.

„Deine Zukunft liegt in deinen Händen", fügte Kokushibo hinzu. „Aber erinnere dich stets daran, wer dich geformt hat. Und was du in dieser Welt erreichen wirst."

Ich nickte erneut, ohne wirklich zu verstehen, was er meinte. Meine Welt bestand aus einem ständigen Nebel aus Befehlen und Blut. Aber auch in diesem Nebel konnte ich mich zurechtfinden. Ich war stark. Vielleicht war das alles, was ich noch brauchte.

Der Raum war still, nur das Rauschen der Dunkelheit um uns herum war zu hören. Und so verließ ich schließlich den Raum, bereit, weiter zu jagen, bereit, weiter zu töten. Wer ich auch gewesen war, es spielte keine Rolle mehr.


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