chapter 9 - remedy

track no. 9
𝙎𝙚𝙚 𝙔𝙤𝙪 𝘼𝙜𝙖𝙞𝙣 𝘣𝘺 𝙒𝙞𝙯 𝙆𝙝𝙖𝙡𝙞𝙛𝙖 𝙛𝙩. 𝘾𝙝𝙖𝙧𝙡𝙞𝙚 𝙋𝙪𝙩𝙝



𝟸𝟾. 𝚂𝚎𝚙𝚝𝚎𝚖𝚋𝚎𝚛 𝟸𝟶𝟷𝟻 | 𝚒𝚖 𝙷𝚊𝚞𝚜 𝚍𝚎𝚛 𝙵𝚊𝚖𝚒𝚕𝚒𝚎 𝙼𝚒𝚗 | 𝙳𝚊𝚕𝚜𝚎𝚘𝚗𝚐-𝚐𝚞𝚗, 𝙳𝚊𝚎𝚐𝚞

YOONGI STARRTE auf die Tür am Ende des Flurs, die sich wie ein hölzerner Riese vor ihm aufbaute. Er fror am ganzen Körper. Dabei begann gerade mal der Herbst. Gerade mal... das war schön gesagt, wenn man wie Yoongi den Blättern voller Angst dabei zuschaute, wie sie sich langsam bunt färbten und ihren Halt zum Baum verloren. Er hatte sie diesen Frühling argwöhnisch, ja, fast ungläubig dabei beobachtet, wie sie aus frischen Knospen hervorgebrochen waren. Wie sie der Hitze des Sommers getrotzt hatten. Nun hielt erneut jene Jahreszeit Einkehr, deren Winde sie jede Sekunde von den Ästen abreißen und zu Boden segeln lassen konnten. Deswegen ging Yoongi nicht mehr raus. Er wollte den Blättern nicht beim Fallen zusehen.

»Worauf wartest du? Die Suppe soll nicht kalt werden!«, ertönte die Stimme seines Vaters hinter ihm. »Und denk an die Thrombose-Spritze, ja?«

Yoongi nickte mechanisch und endlich schaffte er es, seine Füße in Bewegung zu setzen. Wohl darauf bedacht, das Tablett mit der Suppe nicht zu sehr zu erschüttern, öffnete er die Tür mit dem Ellenbogen und schloss sie darauf ganz langsam mit seinem Fuß. Sofort drang wieder das Summen an sein Ohr. Dieses widerliche, niemals enden wollende Summen. Und dieser Geruch, der sich bereits auf eine parasitäre Weise in jedem Winkel dieses Zimmers festgesetzt hatte. Der Geruch von Krankheit.

»Hey Eomma«, kam es wie auswendig gelernt aus seinem Mund, ohne dass er seine Mutter dabei wirklich ansah. Er wusste, dass sie gerade nur versuchte, ihn anzulächeln.

Yoongi stellte das Tablett auf den Nachttisch und setzte sich auf die Seite des Betts, auf der normalerweise sein Vater schlief. Gerade war die Decke darauf kalt und verlassen. Er öffnete die Schublade, die inzwischen nur noch als einziger Medikamentenschrank diente. Die Tabletten für heute waren schon in eine der Pillenboxen umgefüllt worden. So musste Yoongi einfach nur die im Fach »Abends« herausnehmen und seiner Mutter zusammen mit einem Becher mit etwas Wasser reichen. Vorher aber kümmerte er sich darum, dass sie die bereits vorbereitete Spritze in ihren Bauch bekam.

Nachdem er das erledigt hatte, griff er nach dem Becher und den Tabletten. Es war das erste Mal, dass er seine Mutter seit dem Betreten des Zimmers richtig ansah. Ihr fahles, eingesunkenes Gesicht mit den tiefen Ringen unter den Augen und der Wollmütze, die sie auf ihrem Kopf trug. Überall hatten die vergangenen Monate Chemo- und Strahlentherapie ihre Spuren hinterlassen. Jede von Junghwas Bewegungen war langsam und kostete sie eine Menge Kraft. Nur der Blick, mit dem sie Yoongi bedachte, war noch der gleiche wie immer. Etwas, an das er sich klammerte wie an einen Rettungsring auf stürmischer offener See. Der einzige Grund dafür, dass er nicht einfach wegsah, als sich sein Herz beim Anblick ihres von Tag zu Tag schlechteren Zustands schmerzhaft zusammenzog.

»Oh Bärchen«, sagte Junghwa sanft, nachdem er ihr den Becher wieder abgenommen hatte. »Du musst das nicht tun, das weißt du doch.«

Yoongi hatte ihr längst wieder erlaubt, ihn so zu nennen. Sogar darauf gehofft, dass sie es wieder tun würde. Er saugte jedes bisschen Liebe, jeden noch so kleinen Fetzen in sich auf wie ein Schwamm - alles, was bewies, dass hinter dieser in sich zusammenfallenden Hülle immer noch seine Mutter steckte.

»Hast du deine Hausaufgaben schon gemacht?«, fragte sie durch zwei Löffel hindurch.

Yoongi log, indem er nickte. Er wusste nicht, wie oft er es in letzter Zeit nicht fertiggebracht hatte, irgendwas für die Schule zu tun und unter anderen Umständen hätten die Lehrer bestimmt schon angefangen, ihn dafür abzumahnen. Allerdings hatte Namjoon ihnen erzählt, was gerade zuhause bei ihm los war. Er hatte es getan, weil Yoongi von selbst nie darüber sprach. Seitdem ließen sie ihn aus Mitleid gewähren, auch wenn es ihm am Ende trotzdem nur schlechte Noten einbringen würde. Koreas Schulsystem war an vielen Ecken einfach erbarmungslos.

Ebenso erbarmungslos war die Macht der Traurigkeit, die sich wie eine Kuppel um ihn gelegt. Yoongi wusste nicht mehr, ob er Hyunjin, Saem oder all die anderen, die er früher noch auf dem Skateplatz getroffen hatte, noch seine Freunde nennen konnte... oder eher nennen durfte. Er konnte ihnen die Distanz, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, nicht einmal verdenken. Wer wollte sich schon mit jemandem beschäftigen, der den ganzen Tag apathisch vor sich hinstarrte und sich an keinem Gespräch aktiv beteiligte? Wie sollten sie Yoongi je verstehen, wenn sie selbst keine Ahnung davon hatten, wie sich das hier anfühlte?

»Komm her, mein Schatz.«

Seine Mutter sagte ihm das immer. Jeden Tag. Und wie immer erwiderte Yoongi nichts, sondern legte sich wortlos in ihre ausgestreckten Arme. Ließ den Geruch von Krankheit Überhand nehmen, der sich wie immer mit dem Waschmittel ihres Hoodies und der Bettwäsche vermischte. Er ließ zu, dass Junghwa ihn hielt, als wäre er nicht schon längst siebzehn, sondern immer noch süße fünf Jahre alt. Als wären ihre größten Probleme noch die Beerdigungen von Grashüpfern und nicht die ihre.

Wie jeden Tag vergingen auch heute ein paar endlose Minuten, bis seine Mutter ihm ein wenig auf den Rücken tätschelte und Yoongi sich wieder aufsetzte, um sie mit der Suppe zu füttern. Die Schüssel war zu schwer, als dass sie diese selbst halten konnte, deswegen übernahm er jeden Abend diesen langwierigen Job. Löffel für Löffel. Und seinem Gefühl nach aß seine Mutter jeden Tag einen weniger.

»Schaust du noch ein bisschen mit mir fern, Bärchen?«

Auch diese Frage stellte sie ihm jeden Abend und es hatte noch kein einziges Mal gegeben, an dem Yoongi sich dagegen entschieden hatte. Also zog er sich die frisch gemachte Decke von der Bettseite seines Vaters über den Körper und rückte näher an seine Mutter heran. So nah, dass er ihre Wärme fühlen konnte - auch, wenn diese ihn niemals wirklich aufwärmte.

Diese Momente gehörten zu Yoongis emotional schwächsten. Es waren jene, in denen er all seine Mauern über Bord warf, die er sonst gegenüber seiner Mutter als Sohn gehabt hatte. In denen er sich dafür schämte, dass er es die letzten Jahre peinlich gefunden hatte, sie zu umarmen, wenn sie ihn auf ihrem Weg zur Arbeit zur Schule gebracht hatte. Momente, in denen er sich fragte, wie er jemals hatte denken können, seine Mutter wäre selbstverständlich.

Yoongi schielte hinüber zu ihr, statt weiter die Naturdokumentation über Vögel in der Antarktis zu verfolgen, die gerade vor ihnen auf dem Fernseher flimmerte. Seine Mutter sah genauso aus wie immer um diese Zeit. Völlig weggetreten von den starken Schmerzmitteln, die sie vor dem Essen einnehmen hatte müssen. Ihr Mund stand leicht offen und ihre Augen sahen ständig so aus, als würden sie ihr gleich zufallen, während das flimmernde Licht des TV's ihre Haut noch blasser wirken ließ.

Schnell riss Yoongi den Blick wieder von ihr los. Dann starrte er kurz zur Flimmerkiste vor ihnen, auf deren Bildschirm gerade ein paar Pinguine gezeigt wurden, die von den Klippen ins Meer sprangen. Und dann schielte er hinüber zu dem zur Apotheke zweckentfremdeten Nachttisch. Wie jeden Abend.


~⋆☽ ❊ ☾⋆~


»Du bist ein ausgewachsener, hirnloser, naiver Vollidiot, weißt du das?«

»Du hast masochistisch vergessen.«

»Glaub mir, das wollte ich gerade noch anfügen! Genau wie dein armseliges narzisstisches Ego.«

Yoongi starrte ungerührt aus dem Autofenster. Namjoon, der vor ihm auf dem Fahrersitz thronte, warf ihm nur einen bösen Blick über die Schulter zu. Als würde nur die Straße und seine Pflicht als Fahrer ihn davon abhalten, Yoongi einmal kräftig durchzuschütteln.

»Jetzt mach mal halblang, Joon«, mischte sich Jin vom Beifahrersitz ein und schwenkte dabei demonstrativ seine schon halb leere Bierdose. »Ist doch seine Entscheidung, was er heute macht. Du kannst ihn nicht für immer zuhause einsper-«

»Darum geht es doch überhaupt nicht!«, fiel ihm Namjoon grantig ins Wort, ließ darauf jedoch relativ schnell ein frustriertes Schnauben hören. »Aber was rede ich hier überhaupt? Ja, es ist seine verdammte Entscheidung. Und der Ausgang dieses Abends wird demnach auch sein persönliches Problem sein.«

»Exakt«, murmelte Yoongi und ließ seinen Blick über die vor der Scheibe vorbeiziehenden Wäldchen des Gwanak-gus wandern, die sich bereits in tiefste Schwärze hüllten. »Du solltest übrigens besser weiter unten parken. So spät wie wir da aufkreuzen, wird oben am Forschungszentrum schon alles belegt sein.«

Namjoon grummelte etwas Unverständliches, ehe er mit dem Wagen schließlich auf den so gut wie verlassenen Parkplatz des College of Engineering abbog.

Yoongi folgte den beiden anderen mit etwas Abstand die Straße hinauf bis zu der steinernen Treppe, die am Observatorium gegenüber des Instituts für Molekular-Biologie & -Design in den Wald hinein führte. Namjoon war inzwischen dazu übergegangen, ihn mit all seinem Stolz zu ignorieren. Nicht, dass es Yoongi sonderlich stören würde. Er bereute es schon jetzt, überhaupt so zuvorkommend gewesen zu sein, seinen besten Freund mit seinen neuen Samstagabend-Plänen zu betrauen. Nicht auf ihre Abmachung geschissen zu haben und einfach alleine mit Jin hierhergekommen zu sein.

Viel schlimmer war jedoch der Groll, den er auf sich selbst hegte, nicht konsequent nach seinen Prinzipien leben zu können. Nun befand Yoongi sich wirklich auf dem Weg zu dieser beschissenen Party und das noch nicht mal mit einem valideren Grund in den Händen, als dem, dass er schlichtweg seinem verachtenswertesten Bedürfnis nachgab, ihn wiederzusehen. Verflucht seist du, Park Jimin, Ausgeburt der Hölle.

Yoongi hätte sich nicht hinreißen lassen sollen, er wusste das. Nicht nach den insgesamt sechs Stunden qualvoller Autofahrt, die er heute schon nach Daegu und wieder zurück mit seinem Vater und seinem Bruder hatte überleben müssen, während denen sie alle Ereignisse vom vergangenen Familienessen totgeschwiegen hatten. Vielleicht aber hatte genau jene unendlich lange Stille, unterlegt von furchtbaren Trott-Songs, Yoongi am Ende den letzten Schubs gegeben, seine Meinung doch noch einmal zu ändern. Wenigstens dem Abend die Chance zu geben, diesen Tag noch irgendwie zu retten, statt in seinem Zimmer zu sitzen und für die anstehenden Midterms zu lernen, wie er es wohl eigentlich langsam tun sollte.

Irgendwo tief in sich drinnen hörte er bei diesem Gedanken eine Stimme verächtlich lachen. Alles klar, Yoongi... erzählen wir keinem, dass du eigentlich nur eine Ausrede dafür gebraucht hast, dir heute Abend völlig die Kante zu geben.

Er zog die Nase hoch und versuchte, sich auf den Weg zu konzentrieren, der inzwischen von festen Stufen zu einem Trampelpfad gewechselt hatte und an einem Bach entlang führte. Nicht gerade das einfachste Unterfangen, wenn man bedachte, dass er sich schon heimlich mit Jin eine beträchtliche Menge kristallines MDMA genehmigt hatte, das so langsam seine Wirkung entfaltete. Es verfehlte seinen Effekt nicht. Yoongi schaffte es innerhalb von Sekunden, seine ganze Aufmerksamkeit auf die nächtliche Schönheit des Waldes zu lenken, ließ seine Finger durch das Blattwerk der Büsche wandern und erschauderte, als die Berührungen, gepaart mit dem Rauschen des Wassers ihm weitere Wellen von Serotonin durch den Körper jagten.

Es war ihm egal, dass Namjoon es früher oder später bemerken würde. Es wahrscheinlich schon längst bemerkt hatte. Dass Jimin irgendwo dort oben auf dem Hügel auch bemerken könnte, dass er auf einem guten Weg war, so high zu sein wie schon lange nicht mehr. Gerade war doch alles schön, oder? Scheiß mal auf alles, die Welt war so schön.

Die Party war bereits voll im Gange, als sie das Badehaus schließlich erreichten. Studenten lungerten rauchend an den Treppen hoch zum Pool herum, Stimmengewirr mischte sich unter die melodischen House-Beats und der Geruch eines Lagerfeuers lag in der Luft.

Yoongi musste sich ein Schmunzeln verkneifen, als Namjoon einen großen Bogen um die eingeschlagenen Fenster und ausgehängten Türen des Untergeschosses machte und argwöhnische Blicke in die dunklen Räume dahinter warf. Es war sein erstes Mal hier oben. Jin und Yoongi hatten schon einige Feiern an diesem Ort hinter sich und die verfallene Atmosphäre des Lost Places in unmittelbarer Uni-Nähe bereits zu schätzen gelernt. Der dicht bewachsene Wald verschluckte jeglichen Lärm in sich und hatte bisher zuverlässig vor Belästigungen durch die Polizei geschützt. Dementsprechend war es kein Wunder, dass Studenten, die nicht mit Wohnfläche zum Feiern dienen konnten, gerne einmal hier ihre Feierlichkeiten ausrichteten.

Sie sprangen nacheinander die Treppen hinauf, wo sich das weitläufige leere Becken als eindrucksvolles Loch in der betonierten Fläche vor ihnen eröffnete - malerisch eingerahmt von den Bäumen, die bei Tageslicht bereits in allen Farben leuchten würden. Irgendjemand hatte sich die Mühe gemacht, einen Generator und ein paar Boxen hier hoch zu schleppen und sie im seichteren Teil des Beckens abgeladen. Einige Leute hatten diesen Umstand genutzt und den mittleren Abschnitt des Pools zu einer Art Tanzfläche umfunktioniert. Das kleine Steinhäuschen, das wohl einst einmal ein Handtuchverleih gewesen sein musste, diente wie so oft als Lagerstätte jeglicher Getränke, die zum freien Verbrauch auf den Theken zusammen mit Stapeln voller Pappbecher abgestellt worden waren.

Yoongi sah sich um. In seinem derzeitigen Zustand war es ihm gleich, wie er gerade wirken musste. Dass er gerade ganz offensichtlich nach jemandem Ausschau hielt, dessen Haar sicher eine glorreiche Konkurrenz zu dem Lagerfeuer darstellte, welches sie auf der westlichen Seite der Plattform errichtet hatten. Ob es ihn wohl genau dort hingezogen hatte? Wie die tanzenden Flammen wohl seine Mähne zum Leben erwecken würden?

Yoongi war so verloren in jener Vorstellung, dass er erst mit etwas Verzögerung das orangene Blitzen am Rand seines durchaus eingeschränkten Sichtfeldes bemerkte. Dort stand er, an einem der Pfeiler des Betonhäuschens, dich belagert von Yeji, deren Hände gerade genau jene Haare zerwühlten, über die Yoongi gerade noch gedankliche Lobeshymnen geschrieben hatte.

Ein kleines gelachtes Schnauben entfuhr ihm. Wie viel Spaß die beiden da gerade haben mussten. Irgendwie ja schön, oder? Yoongi beflügelte es, wie gern sich die beiden haben mussten. Wäre da nicht dieses dumpfe Gefühl in seinem Unterbewusstsein, das eine gewisse Alarmglocke in ihm läuten ließ.

Ein bisschen fühlte es sich an wie Schweben, als er hinüber zu dem Häuschen torkelte, vorbei an dem knutschenden Pärchen und hin zu den angebrochenen Flaschen mit Alkohol. Wahllos schnappte sich Yoongi etwas, das schwer nach Whiskey aussah und mischte es mit verbissener Konzentration in einem Becher mit Cola. Der Umstand, dass sich die Sicht vor seinen Augen ab und an duplizierte, ließ dabei eine Menge Flüssigkeit auf den Boden schwappen.

»Hey... ehm... brauchst du Hilfe?«

Yoongi blinzelte und drehte den Kopf. Seine Mundwinkel zogen sich unwillkürlich nach oben.

»Jeongguk-aaah.«

Der junge Dealer erwiderte sein Lächeln nicht. Stattdessen bedachte er ihn mit wachsamen Augen. »Du scheinst bereits deinen Spaß zu haben, wie ich sehe.«

Yoongi genehmigte sich einen tiefen Schluck, zog darauf mit seiner freien Hand seine Zigarettenschachtel aus der Tasche und angelte sich eine mit dem Mund. »Gukkie, wir... uhm... müssen reden, schätz ich?«

Jeongguk legte den Kopf schief und musterte ihn von oben bis unten. Yoongi ließ sich von seiner abweisenden Grundstimmung nicht beirren. Der neu erwachte Drang, Harmonie in dieser Welt zu stiften, hatte längst seine Zunge gekapert und steuerte sie nun direkt ins Ungewisse.

»Hör zu, ich... ich war echt scheiße zu dir, hörst du? Es ist nur, dass... nun ja... wie erklär ich das am besten...«

»Hyung«, unterbrach ihn Jeongguk und nahm ihm ungerührt das gefährlich schwankende Glas aus den Händen. »Lass es einfach gut sein, okay?«

»Aaaber -«

»Nein, passt schon. Ich kenn dich und ich weiß, dass du manchmal Dinge sagst, die du eigentlich nicht so meinst. Lass uns einfach... wieder Freunde sein, okay?«

Yoongi blinzelte und nutzte seine freien Hände, um sich endlich die Zigarette anzuzünden. Dann hob er den Finger und schmunzelte den Jüngeren mit verhangenem Blick an. »Die Betonung liegt auf Freunde... verstanden?«

Jeongguk verdrehte die Augen und setzte jenen abwehrenden Ausdruck auf, den er sich durch seinen Job schon längst zu eigen gemacht hatte. »Wir waren beide besoffen, meine Fresse. Seit wann bist du so versessen darauf, irgendein Image zu wahren?«

Yoongi zog eine Schnute und ließ seinen Kopf nach hinten kippen, um stattdessen die Graffitis an der Decke des Häuschens zu betrachten. Ein unterschwelliges Gefühl riet ihm, dass es keine gute Idee war, dieses Gespräch weiter auszuführen. Jeongguks Seufzen, das relativ schnell folgte, schien dem Ganzen zum Glück eine Art Siegel aufzudrücken.

»Ist das Zeug, auf dem du bist, von Tae? Ich hatte überlegt, es heute selbst mal zu probieren. Willst du auch nochmal 'ne Nase? Oder muss ich wieder Angst haben, dass dein Anstands-Wauwau mich -«

Yoongi senkte widerwillig den Kopf, als Jeongguk mitten im Satz stockte. Er bemerkte die Anwesenheit der Personen, die sich zu ihnen gesellt hatten, erst, als bereits die glockenhelle Stimme an seine Ohren drang.

»Hyung, du bist echt gekommen!«

Er konnte gerade noch sehen, wie die am Eingang wartende Yeji Jeongguk mit einem misstrauischen, aber zugleich neugierigen Blick bedachte, ehe Yoongi in eine freundschaftliche Umarmung gezogen wurde. Sein Herz machte dabei einen unbeholfenen Salto und drückte dabei schmerzhaft gegen die Innenwände seines Brustkorbs. Was zur Hölle passierte hier gerade?

»J-Jimin-ah«, entwischte es ihm in einem Anflug von amphetaminbedingtem Schwindel. »Duuu... hast Geburtstag.«

»Gut erkannt«, lachte Jimin, der sich wieder einen Schritt von Yoongi entfernt hatte, aber dennoch die Hand auf seinem Oberarm ruhen ließ. Yoongi wünschte sich, dass sie dort durch seine Klamottenschichten schmelzen und mit seiner Haut verwachsen würde. Fuck, wäre das schön.

»Man, ich war überzeugt, du würdest echt lieber zuhause bleiben... Aber ist echt cool, dass du gekommen bist!«

Jimin nahm die Hand zu Yoongis Leidwesen wieder weg und fuhr sich damit ein wenig verlegen durch sein Haar. Offensichtlich schienen ihm die vorangegangenen Geschehnisse immer noch ein wenig unangenehm zu sein.

»Ich... eh... nun ja, hier gibt's Freigetränke«, druckste Yoongi herum und versuchte sich dabei möglichst lässig an die improvisierte »Theke« zu lehnen. Unglücklicherweise stieß er dabei ein paar Flaschen um, die zwar dramatisch zu Boden fielen, aber dort ein Glück nicht zu Bruch gingen.

Jimin kicherte und musterte ihn prüfend von oben bis unten. »Sag mal... bist du schon besoffen?«

»Uh... ehh.... ja, Jin hat mich auf dem Weg hierher schon ziemlich abgefüllt.«

Würde man in einem Lexikon nach dem Begriff Gutgläubigkeit suchen, würde man wahrscheinlich unter anderem auf ein Bild von Jimin stoßen. Entweder das, oder Yoongi war inzwischen wirklich etwas talentierter darin geworden, seine tellergroßen Pupillen und seinen verspannten Kiefer so unauffällig wie möglich zu halten. Vielleicht kam ihm hier aber auch einfach nur die Dunkelheit zugute.

»Ich... ich habe ein Geschenk«, versuchte er eine Spur unbeholfen, vom Thema abzulenken und tastete dabei fahrig nach seiner Jackentasche. Die Tatsache, dass sein Blick dabei ungeniert an Jimins Gesicht hing, verlängerte seine Suche dabei erheblich. Hatte er je einen anderen Menschen getroffen, der so schön war wie er?

»Oppaaa«, rief in diesem Moment Yeji vom Eingang und zog dabei eine ungeduldige Schnute. »Ich bin beim Feuer, wenn du mich suchst, ja?«

Sie unterzog Jeongguk einer letzten Ganzkörper-Musterung, ehe sie auf dem Absatz kehrtmachte und verschwand. Der Dealer, den ihr Auftritt etwas weniger aus dem Konzept gebracht zu haben schien wie Yoongi, schüttelte schnaubend den Kopf und starrte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Da bin ich auch, falls du noch auf mein Angebot zurückkommen willst«, gab er eine Spur säuerlich von sich, ehe er Yoongis Glas auf der Mauer neben sich abstellte und ebenfalls aus dem Häuschen verschwand. Jimin sah ihm für einen Moment nach, ehe er sich in seiner engelsgleichen Anmut wieder Yoongi zuwandte.

»Hat er dich bedrängt? Du hast so überfordert gewirkt«, kam er sofort zur Sache und stieß Yoongi damit gehörig vor den Kopf. So sehr, dass er völlig vergaß, weiter nach dem Geschenk zu tasten.

»Ich... was? Ehhh... nein, er ist nur...« Yoongi stockte. Er war noch genug bei Verstand, um zu merken, dass er jetzt vielleicht besser die Klappe halten sollte. So schwer es ihm auch gerade fiel. »Er ist nur ein Freund, mit dem ich... einen Streit geklärt habe. Keine große Sache.«

Jimin atmete tief durch und nickte. »Okay, dann bin ich beruhigt... Ich kenn ihn nur vom Hörsagen und von Jongins Party und... warte mal...«

Sein Blick verweilte eine Weile auf Jeongguks sich langsam entfernenden Nacken. Wahrscheinlich ein Moment, in dem Yoongi der Boden unter den Füßen hätte entgleiten sollen, doch irgendwie fand er es gerade fast schon irgendwie lustig.

»Damals im Proberaum... ist das nicht der Typ, von dem sie meinten, ihr beide hättet...?«

Yoongi zuckte mit einer aufgesetzten Grimasse die Schultern. »Wir waren so besoffen, dass ich ihn mit einer verwechselt habe, auf die ich damals stand... keine große Sache.«

Jimin gab ein geschnaubtes Lachen von sich. »Ihr habt aber gerade nicht deswegen gestritten, oder?«

»Was? Neein, nein... Das war... wegen was anderem.«

Es war purem Glück geschuldet, dass Jimin sich ab diesem Punkt offensichtlich nicht mehr dazu berufen sah, weiter nachzuhaken.

»Naja, wie auch immer... Offiziell war der Typ jedenfalls nicht eingeladen.«

Den seltsamen Ausdruck, mit dem er Jeongguk weiterhin bedachte, wusste Yoongi absolut nicht zu deuten. Da fiel ihm zu seinem Glück auch wieder sein eigentliches Vorhaben ein. Eine perfekte Gelegenheit, das Thema Jeongguk endlich unter den Tisch zu kicken.

»D-dein Geschenk!«

Jimin riss mit aufgerissenen Augen den Kopf herum. »Du hättest doch nicht -«

Er stockte, als Yoongi das kleine Stoffsäckchen endlich zu fassen kam und ihm entgegenstreckte. In diesem Moment half ihm nicht einmal das MDMA, gegen die in ihm aufkochende Unsicherheit anzukommen. Dass er miserabel im Schenken war, hatte er über die Jahre längst als eine nicht abstreitbare Schwäche seiner selbst anerkannt. Allerdings wäre es noch peinlicher gewesen, mit leeren Händen auf dieser Party aufzukreuzen.

Jimin nahm mit glühenden Wangen das Säckchen entgegen und öffnete es, um den Inhalt betrachten zu können. Aufgrund der mangelnden Lichtverhältnisse entschied er sich letztendlich doch dazu, das Säckchen in seine Handkuhle zu entleeren. Als er erkannte, womit es gefüllt war, trat Verwirrung auf sein Gesicht. Genau jene, vor der Yoongi sich die ganze Zeit gefürchtet hatte...

»D-das sind Sonnenblumensamen«, versuchte er sich rasch zu erklären. Die Kippe zwischen seinen Fingern hatte er schon längst wieder vergessen.

Jimin runzelte seine Stirn. »Und... soll ich die jetzt essen, oder...?«

»Nein, nein! Ich meine... könntest du schon, aber... ich hab da mehr an sowas wie... nun ja... Einpflanzen gedacht...«

Yoongis Herz pochte so heftig und schnell in seiner Brust, dass er sich langsam ernsthaft Sorgen machte, dass sein Trip sich gegen ihn wenden würde. Ecstasy stellte hierbei eine nicht ganz so große Gefahr dar wie halluzinogene Drogen, doch ein Abrutschen in ein Down war durchaus nicht selten. Vor allem, wenn man die Dosis nicht oder nicht mehr halten konnte.

Yoongis Blick fiel wie automatisch über die mit Getränken drapierte Mauer hinüber zum Feuer. Jeongguk stand dort bei Jin und das Lachen, das ihn gerade förmlich in die Knie zwang, war bestimmt von einer seiner schrecklichen Dad-Jokes ausgelöst worden. Namjoon stand ebenfalls dabei, doch er lachte nicht. Sein Blick war starr auf Yoongi gerichtet, wie ein Strahl brennfreudiges Öl, das geradewegs die Flammen seiner aufkochenden Unruhe fütterte.

»Das... das ist... wow, ich...«

Er riss den Kopf schnell wieder zu Jimin herum und zischte erschrocken auf, als ihm die abbrennende Kippe die Finger versengte. Schnell warf er den Stummel auf den Boden und zertrat die Glut mit seinen Doc Martens. Jimin schmunzelte.

»Du kannst ruhig sagen, dass es bescheuert ist«, murmelte Yoongi und krallte sich dabei so penetrant an seinem hinreißenden Lächeln fest, als wäre es sein letzter Rettungsring im aufkommenden Sturm. »Ich bin wirklich schlecht im Geschenke machen und hatte so wenig Zeit und -«

»Bevor ich irgendwas dazu sage, will ich erstmal, dass du mir erklärst, wie du darauf gekommen bist«, grinste Jimin unbeirrt weiter und schüttete die Samen dabei sehr achtsam wieder in das Säckchen zurück. »Ich meine... nimm's mir nicht übel, aber du wirkst nicht wie jemand, der sich für Blumen interessiert.«

Yoongi senkte den Kopf und wünschte sich zum ersten Mal während eines Ecstasy-Rausches, nüchtern zu sein. »Das ist... etwas kompliziert zu erklären... Ich verstehe nicht viel von Blumen, aber Namjoon... mein bester Freund, er studiert Biologie und... naja, er redet sehr viel darüber. Da schnappt man hier und da mal was auf.«

»Und wie genau kamst du ausgerechnet auf Sonnenblumen?«

Weil du eine fucking Sonne bist, Vollidiot.

»Ähm... nun ja, die sind gelb. Wie Rocket.«

Yoongi griff nach seinem Glas Whiskey-Cola und kippte sich die furchtbare Mische in einem Schluck hinunter. Nüchtern sein wollen hin oder her, gerade konnte er sich wirklich keinen Absturz leisten. Ob er Jeongguk nicht doch noch um eine Line bitten sollte...?

»Blühen Sonnenblumen nicht eigentlich im Sommer und werden dann riesengroß? Wir wohnen in einem Apartment...«

»Ja, aber das ist eine Zwergsorte... Man kann sie in Blumentöpfen auf der Fensterbank halten, solange sie nur genug Sonnenlicht abbekommen...«

Yoongi wäre so gerne einfach wieder gegangen. Vorzugsweise zu Jeongguk, um seine Dosis mindestens zu verdoppeln. Zumindest war es das, wonach jede Zelle seines Körpers schrie. Ein kleiner Teil, der mittig in seiner Brust saß, hielt jedoch an seinem erstmaligen Wunsch fest. Wie es jetzt wohl wäre, mit Jimin auf einer Ebene zu sein? Normal auf den Umstand klarzukommen, dass dieses Geschenk einfach purer Mist war, in der Eile in einem nahen Ramsch-Laden gekauft und absolut nicht dem ebenbürtig, was Yoongi Jimin eigentlich gerne gegeben hätte?

»Das... ist ein wirklich schönes Geschenk. Vielen Dank.«

Yoongi hätte wirklich alles erwartet. Spott, gespielte Freundlichkeit... aber ganz sicher keinen so ernsten Blick, wie Jimin ihn gerade aufgesetzt hatte. Sein umwerfendes Lächeln umspielte zwar noch immer seine Lippen, doch es ordnete sich dem Ausdruck unter, mit dem Jimin Yoongi in diesem Moment bedachte - die mit Ringen geschmückten Finger dabei fest um das kleine Säckchen geschlossen.

»Würdest du Alkohol trinken, wäre die Sache einfacher gewesen«, versuchte Yoongi die Stimmung wieder auf ein lockeres Niveau herabzustufen. Alles andere ertrug er gerade nicht.

Jimin lachte hohl auf und trat einen Schritt zur Seite, um auf die Ecke hinter sich zu deuten. »Immerhin hast du dich daran erinnert, dass ich nicht trinke...«

Yoongi sah Jimins Tasche, neben der sich teils in Tüten, teils gar nicht verpackte Flaschen reihten - offensichtlich alles Geschenke, die er an diesem Abend erhalten hatte.

»Oh... das... sind ja echt aufmerksame Menschen.«

Jimin zuckte mit einem gleichgültigen Lächeln die Schultern und verstaute das Säckchen mit den Samen sorgsam in der Innentasche seines schwarzen Mantels. »Ich nehme es ihnen nicht übel, ich kenne die alle ja auch erst seit ein paar Wochen... Es ist überhaupt ein Wunder, dass heute so viele gekommen sind.«

Yoongi zog unwillkürlich eine Augenbraue hoch. Wusste Park Jimin etwa nicht, dass er Park Jimin war? Oder machte er gerade nur einen auf bescheiden, um seinem makellosen Image gerecht zu werden? Yoongi war eigentlich ganz froh, dass das MDMA dafür sorgte, dass letzterer Verdacht in seinem Kopf zu einem pinken Wölkchen verpuffte. Die Welt war schön, schon vergessen? Fast so schön wie Park Jimin.

»Darf ich mir noch etwas zum Geburtstag wünschen, Hyung?«, fragte eben jenes Geschöpf des Himmels Yoongi nun und schmunzelte ihn dabei verschwörerisch an.

»Kommt drauf an, was.«

Mach dich nicht lächerlich, Yoongi. Nicht einmal nüchtern würdest du ihm mit diesem Blick irgendeinen Wunsch abschlagen können.

»Nein, ich glaube nicht«, flötete Jimin, als hätte er seinen Gedanken gelauscht und packte ihn zu seinem größten Entsetzen am Handgelenk. Ehe Yoongi sich versah, war er zu einer der rostigen Leitern gezogen worden, die hinunter in das leere Becken führten. Die Stelle, an der Jimins Hand ihn berührte, brannte heißer als das nahegelegene Lagerfeuer.

»Schaffst du es alleine da runter oder muss ich weiter deine Hand halten?«

Yoongi hätte ihm gerne gesagt, dass er von ihm aus bis ans Ende seiner Tage seine Hand halten konnte, entschied sich dann aber doch für die entschärfte Variante.

»Ich bin nicht besoffen genug, um freiwillig Händchen zu halten, und nehme deshalb lieber den Sturz in Kauf... aber trotzdem Danke für das Angebot.«

Keine zwei Sekunden später wünschte er sich, er hätte einfach nachgegeben. Es grenzte nahezu an ein Wunder, dass Yoongi es unbeschadet auf den Boden des Beckens schaffte, ohne einer Schwindel-Attacke zu erliegen. Die Art, wie Jimin ihm voller Leichtigkeit folgte, ließ ihn darauf kurz an der Wahnvorstellung festhalten, ein brennender Engel würde vom Himmel zu ihm herabsteigen. Da war es wieder, jenes Brummen, das sich hinter der Schädeldecke seiner Stirn konzentrierte. Der Serotonin-Überschuss, der ihn fühlen ließ, als befände er sich im schönsten Traum seines Lebens.

Yoongi war so glücklich, dass er sogar Han und Minsu dämliche angrinste, als er von Jimin über die Tanzfläche geschleppt wurde. Ihn störten nicht einmal die bass-lastigen Mixes bekannter Pop-Songs, die nach wie vor aus den Boxen schepperten und bei denen er im nüchternen Zustand wahrscheinlich Schmerzensgeld für seine Ohren verlangt hätte. Ganz besonders für jenen David-Guetta-Song, der gerade die tanzenden Studenten beschallte.

»Ich hoffe, dass du zumindest besoffen genug bist, um mich hierfür nicht umzubringen«, lachte Jimin und fuhr sich dabei durch die Haare. Dann begann er sich zur Musik zu bewegen. Und mit einem Mal war Yoongi gefangen.

Jimin tanzte, als würde nicht die Musik ihn lenken, sondern er die Musik. Als würde ihn die Schwerkraft nicht beherrschen können und sich stattdessen seinem Willen beugen. Er brachte die Luft um sich herum in Bewegung, ließ sie zu seinen Gunsten seinen Körper tragen und schaffte es dabei zu jeder Sekunde wie eine menschgewordene Gottheit auszusehen. Eines war Yoongi schon nach wenigen Sekunden des Beobachtens bewusst: Jimin war ein geborener Tänzer und die sich dazu addierende Tatsache, dass seine Stimme ihm einen Platz an einer der prestigereichsten Universitäten ganz Südkoreas eingebracht hatte, verdeutlichte nur, dass er eigentlich auf eine Bühne gehörte. Mit jeder Faser seines Körpers.

»Was ist los, Opa? Ein bisschen Tanzen ist doch als Geburtstagswunsch nicht zu viel verlangt, oder?«

Jimin bedachte ihn mit einem herausfordernden Blick, der Yoongi wieder halbwegs auf den Boden der Realität zurückholte. Dummerweise wurde ihm dabei auch bewusst, dass Überreste seines dämlichen Grinsens immer noch in seinen Mundwinkeln zu finden gewesen waren.

»Es ist sogar mehr als zu viel verlangt«, schnaubte Yoongi und schob dazu noch demonstrativ die Hände in die Jackentaschen. Vielleicht auch nur, um zu verstecken, dass sie ab und an im Takt des Beats zuckten.

»Ach, komm schon«, schmollte Jimin und griff zu seinem großen Schreck nach seinen Unterarmen. »Vielleicht ist es ja nur halb so schlimm, wie du es dir vorstellst... genau wie Fahrradfahren.«

Yoongi öffnete den Mund, um zu protestieren, sah sich jedoch gelähmt angesichts von Jimins indirekter Berührung durch seine Pullover-Ärmel. Wie in Trance verfolgte er, wie Jimin seine Hände dazu nutzte, seine Arme aus den Taschen zu befreien und hin und her schwingen zu lassen. Dann, ganz langsam, löste er seine Griffe wieder und fiel in seinen eigenen Tanz zurück, den Älteren dabei keine Sekunde aus den Augen lassend.

Wie gut, dass den meisten auf Ecstasy nichts peinlich ist. Andernfalls hätte es Jimin wahrscheinlich wesentlich mehr Überredungskunst gekostet, Yoongi dazu zu bringen, sich langsam aber sicher zu David Guetta zu bewegen.

Das gemeinsame Tanzen löste ein Gefühl in ihm aus, das er so zuvor noch nie gespürt hatte. Yoongi arbeitete in einem Club. Er sah ständig Menschen, die sich mit vollem Körpereinsatz der Musik hingaben und volle Glückseligkeit darin fanden... und doch hatte er sich gescheut, es jemals selbst zu probieren. Nicht einmal zuhause, alleine in seinem Zimmer.

Warum fühlte sich das hier so richtig an? War es nur, weil es ihn in diesem Moment auf eine seltsam verdrehte Weise mit Jimin verband? Weil die Chance bestand, dass er ihn damit glücklich machte? Waren es doch nur die Drogen, die nach wie vor seinen Blutkreislauf beherrschten? Oder war es... weil es eigentlich wirklich Spaß machte?

Yoongi konnte sich nur schwer davon abhalten, einfach den Kopf in den Nacken zu werfen und glücklich zu seufzen. Stattdessen steckte er sich mitten auf der Tanzfläche eine weitere Zigarette an und zog den Rauch ein, als wäre er seine eigentliche Luft zum Atmen. Ohne das Nikotin würde sein Kopf wahrscheinlich bald explodieren.

»Oppa, ich wusste gar nicht, dass du tanzt.«

Yoongis Augen öffneten sich flatternd. Er wusste nicht für wie lange er sie geschlossen gehalten hatte. Inzwischen plärrte ein anderer Song aus den Boxen und Yeji räkelte sich zwischen ihm und Jimin. Yoongi war zu high, um sich an diesem Umstand aufzuhängen. Das dämliche Grinsen hatte er immerhin nach wie vor nicht vollständig aus seinem Gesicht bannen können.

»Was weißt du schon über mich?«, flog es ihm mit keinerlei feindlichem Unterton über die Lippen und Yeji spiegelte sein Lächeln. Ihr verschleierter Blick ließ darauf deuten, dass sie schon ein paar Becher intus hatte.

»Stimmt...«, säuselte sie und kam einen Schritt näher. »Also wie wär's, du erzählst mir was über dich, ja?«

Die Tatsache, dass sie fast denselben Wortlaut nutzte wie Jimin, ließ Yoongi nicht zurückweichen, als sie ihre Arme auf seinen Schultern ablegte. Nicht einmal dann, als sich eine ihrer Hände mit den langen Gelnägeln in die Hosentaschen an seinem Hintern schob, die andere in seinen Nacken. Yoongis Kopf ging auf Standby, als die Gesichter um ihn herum sich vermischten. Jimins rote Haare tanzen wie wunderschöne Flammen vor seinen Augen.

Yoongi spürte, wie fremde Lippen mit seinen kollidierten. Es lag völlig außerhalb seiner Kontrolle. Er stellte sich vor, es wäre Jimin, dessen Hüfte er näher zu sich heranzog. Jimin, dem er nun seine Zunge in den Mund schob. Jimin, der den Ausschuss von einer Übermenge an Serotonin in seinem Gehirn befeuerte und ihn fühlen ließ, als durchlebte er gerade den besten anhaltenden Orgasmus seines Lebens.

Der einzige Haken... er wusste, dass es nicht Jimin war.

Jetzt können sie alle sehen, dass du nicht komisch bist, säuselte ihm die verrückte Stimme in seinem Kopf zu. Und wer weiß, vielleicht wird Jimin es ja jetzt auch endlich sehen. Vielleicht wird er verstehen, was er an dir hat.

Yeji kicherte hemmungslos, als sie sich von ihm löste. »Vielleicht habe ich dich wirklich falsch eingeschätzt, Oppa.«

Yoongi musste mehrfach blinzeln, um seine Sicht wieder zu justieren. Der Anblick von Yejis Gesicht versetzte seinen Mund mit einem bitteren Geschmack. Den endgültigen Dämpfer erfuhr er aber erst, als er in Jimins erkaltete Gesichtszüge blickte.

Er tanzte immer noch, direkt neben ihnen - wenn auch mit wesentlich weniger Elan als zuvor. Sein starrer Blick war in die Luft zwischen sie alle gerichtet. Yoongi hatte diesen Ausdruck noch nie an ihm gesehen. Nicht einmal dann, als sie sich vor zwei Wochen so heftig miteinander gestritten hatten.

Vielleicht wäre es der richtige Zeitpunkt gewesen, um zu reflektieren. Sich ein wenig zusammenzureißen und zu verstehen, was hier gerade passiert war. Was Yoongi da eigentlich gerade getan hatte.

Es waren die Boxen, die ihn letztendlich daran hinderten. Die Playlist, besser gesagt, die in diesem Moment einen Remix anlaufen ließ, der die Menge schon bei der ersten ikonischen Tonabfolge zum Gröhlen brachte. Ein paar Sekunden später sangen sie alle mit Charlie Puth.

Yoongi spürte, wie ein Schauer seinen Körper durchlief. Einer jener Sorte, die einem den Boden unter den Füßen wegrissen, aber auf eine schleichende Weise. Man realisierte den Fall erst, wenn man schon längst die Chance versäumt hatte, sich noch irgendwo festzuhalten.

Mit einem Schlag waren die Bilder wieder in seinem Kopf. So viele Bilder, die aktuellsten davon erst an diesem Morgen geschossen.

Namjoon hatte recht gehabt. Es war eine dumme Idee gewesen, hierher zu kommen. Ausgerechnet heute hierher zu kommen... am 13. Oktober.

Yoongis High erreichte Rock-Bottom. Die Zigarette erlosch zischend in einer kleinen Pfütze.


~⋆☽ ❊ ☾⋆~


𝟷𝟹. 𝙾𝚔𝚝𝚘𝚋𝚎𝚛 𝟸𝟶𝟷𝟻 | 𝚒𝚖 𝙷𝚊𝚞𝚜 𝚍𝚎𝚛 𝙵𝚊𝚖𝚒𝚕𝚒𝚎 𝙼𝚒𝚗 | 𝙳𝚊𝚕𝚜𝚎𝚘𝚗𝚐-𝚐𝚞𝚗, 𝙳𝚊𝚎𝚐𝚞

Kalt und dunkel lag der Flur vor Yoongi. Kalt trotz der auf Hochtouren laufenden Heizungen, dunkel trotz der brennenden Lichter, die das ganze Haus erhellten - untermalt von den stumm rotierenden Blaulichtern, die in einem stetigen Rhythmus wie Geister durch die offene Haustür hindurch an den Wänden der Innenräume tanzten.

Yoongi sah zu, wie die Sanitäter die Liege aus dem Schlafzimmer heraus in seine Richtung manövrierten. Sein Blick verschwamm bei Anblick der dunklen Folie, unter der sich unschwer eine zierliche Silhouette abzeichnete und in seinem Kopf herrschte nur dumpfes Dröhnen. Das war nicht echt, durfte es nicht sein. Er träumte, oder?

Die fremden Leute warfen ihm nur kurze routinierte Blicke zu, ehe sie die Liege an ihm vorbei durch die Haustür bugsierten. Yoongi presste sich an die Kommode hinter sich und fand doch keinen Halt. Er versuchte zu atmen und doch füllten sich seine Lungen mit nichts.

Irgendwo in der Ferne hörte er Geumjaes ersticktes Schluchzen und als wäre dies ein Weckruf für Yoongis Beine gewesen, setzten sich diese in Bewegung. Langsam, ohne jemals seine Sohlen vom Boden anzuheben. Stützend fuhren seine tauben Hände an den Wänden entlang. Es half nicht.

»Erzähl mir, was ihr heute unternommen habt. Geht es Namjoon gut?«

Es musste ein Traum sein. Sie hatte ihm gestern noch so völlig normale Fragen gestellt. Mit ihm im Bett gelegen und über diese dumme Doku über Faultiere gelacht. Wie immer nicht bemerkt, dass Yoongi genauso weggetreten gewesen war wie sie, nachdem sie ihre abendliche Dosis an Medikamenten bekommen hatte. Sie hatten darüber geredet, dass Yoongi vielleicht bald ein Haustier bekommen sollte. Dass er einen Hund wollte, aber Appa dagegen war wegen der ganzen Arbeit. »Was hältst du denn von einem Wellensittich?«, hatte Yoongis Mutter ihn mit ganz leiser Stimme und einem liebevollen Lächeln gefragt. »Einem, der dir immer auf die Schulter fliegt und irgendwann alles nachplappert, was du sagst.«

Yoongi hatte ihr Lächeln erwidert und es sich vorgestellt. »Ich würde ihn Frühling nennen.«

»Bomi? Das wäre ein wirklich schöner Name, mein Bärchen.«

Es war doch alles gut gewesen.

»Yoongi-yah, bring mir das Telefon! Deine Mutter, sie... scheiße nochmal, das Telefon, Yoongi!!!«

War es seine Schuld, dass es jetzt passiert war? Weil ihn die Angst zu sehr paralysiert hatte, um nach dem Hörer zu greifen? Weil sein Vater am Ende doch selbst losrennen und den Notruf hatte tätigen müssen?

Yoongis Finger klammerten sich um den Türrahmen. Pilwoo saß auf dem Bett, Geumjae auf seinem Schoß. Er hatte beide Arme um den Dreizehnjährigen geschlungen und wog ihn hin und her. Es gab keinen Rhythmus. Dafür weinten beide zu unkontrolliert, zu hemmungslos.

Der schwere Geruch von Krankheit, der ihn nun wieder umgab, zwang Yoongi fast in die Knie. Da war noch eine Delle im Kissen, wo ihr Kopf gelegen hatte. Falten auf dem Laken, als wäre sie nur kurz aufgestanden, um auf die Toilette zu gehen. Und dort lag ihr schwarzer Hoodie...

»Shhhh, Jae, ganz ruhig... Es ist alles gut, ja? Komm, ich bring dich hier raus.«

Ihr Vater schien offenbar seine Stimme wieder gefunden zu haben und sie klang stärker, als sein Anblick es vermuten hätte lassen. Er war schon immer stark für sie gewesen, wann immer die Umstände es von ihm verlangt hatten. Nun erhob er sich vorsichtig mit Geumjae, trug in Schritt für Schritt in Richtung Tür, weg von dem tragischen Ort des Geschehens, welches Yoongi noch nicht in seinem Kopf manifestieren wollte.

Er ignorierte Pilwoo, als dieser ihn mit Geumjae passierte. Yoongis Blick war immer noch auf den ausgeblichenen schwarzen Hoodie mit dem alten Nike-Logo gerichtet. Wie in Trance trottete er hinüber zum Bett, griff mit beiden Händen nach dem Kleidungsstück und presste es sich ins Gesicht. Sofort wurde er eingehüllt von dem ihm so vertrauten Geruch, versetzt von Krankheit, aber trotzdem so so deutlich sie.

Yoongi schmiegte sich tiefer in den Hoodie, auch als er Minuten, ja, vielleicht auch Stunden später die erdrückende Leere des Schlafzimmers verließ. Er folgte den Geräuschen, die aus dem Wohnzimmer drangen. Geumjae, eingewickelt in eine Decke auf dem Sofa und ihr Vater, wie er mit zitternden Fingern am Radio herumdrehte. Er erwischte einen der Sender, die neben den neusten K-Pop-Hits auch internationale Songs spielten. Einer von diesen drang nun kratzig aus den Boxen und füllte auf eine deplatzierte und absurde Weise die Stille, die das Haus bis gerade eben noch beherrscht hatte.

»...Es war ein langer Tag ohne dich, mein Freund...«, säuselte der amerikanische Sänger durch die Boxen, begleitet von einem Klavier. »...Ich erzähl dir alles, wenn wir uns wiedersehen...«

Es war der Moment, in dem Yoongi verstand, dass es vorbei war.

Seine Mutter war fort.

Und erst sein eigener Tod würde dafür sorgen, dass er wieder ihre Nähe spüren konnte.


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☽ 𝐚𝐮𝐭𝐡𝐨𝐫'𝐬 𝐧𝐨𝐭𝐞 ☾

So, all diejenigen, die sich gefragt haben, was Yoongi in seiner Vergangenheit zu den Drogen geführt hat, dürften nun ihre Antwort bekommen haben :')

Um dieses wirklich schwere Kapitel mit einer kleinen, aber niedlichen Anekdote zu unterlegen: MsWinter ist der Ursprung des Geschenks, das Yoongi Jimin macht, nachdem ich mit ihr vor Wochen, nein, Monaten für dieses Kapitel gebrainstormt habe. In einer Kurzschlussreaktion habe ich extra Sonnenblumenkerne und Töpfe bestellt und drei kleine Pflänzchen an meinem Fenster angepflanzt. Eine davon hat vor einer Woche angefangen zu blühen T-T (Hat lange genug gedauert, wirklich).

Aber nochmal zurück zur Story: Dieses Kapitel war für mich sehr schwer zu verfassen, da es auch eine persönliche Note besitzt. Ich habe inzwischen eigentlich aufgegeben, explizit nach Feedback zu fragen, da ich nicht will, dass sich irgendwer gezwungen fühlt, aber hier wäre es mir wirklich sehr wichtig zu hören, was ihr von dem Kapitel hält. Vielen Dank ♡


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