chapter 7 - yellowish

track no. 7
𝙔𝙚𝙡𝙡𝙤𝙬 𝘣𝘺 𝘾𝙖𝙢𝙚𝙧𝙤𝙣 𝙋𝙝𝙞𝙡𝙞𝙥



ZU BEHAUPTEN, Yoongis Herz hätte beim Warten in der vergangenen Stunde mit einem regulären Puls geschlagen, wäre gelogen gewesen.

Jimin hatte nicht noch einmal geschrieben, seit er auf dessen kryptische Nachricht mit einem einfachen armseligen Fragezeichen geantwortet hatte. Seither saß Yoongi mit dem Hintern auf seinem Board, um irgendwie seinem nervösen Gezappel mit stetigem Hin- und Herrollen etwas entgegenwirken zu können. Obendrauf hatte er sich inzwischen schon die vierte Kippe angezündet. Seine Versuche halfen ihm nur bedingt.

Was, wenn Jimin sich einen Scherz mit ihm erlaubte, um ihn später damit aufzuziehen, wie lange er hier auf ihn gewartet hatte? Sollte er besser einfach gehen? Aber was, wenn Jimin genau dann auftauchen würde, tatsächlich mit der freudigen Absicht, etwas Zeit mit ihm alleine zu verbringen? Die Situation war wirklich zum Haareraufen. Zumal Yoongi viel zu nüchtern war und es obendrauf versäumt hatte, etwas für alle Fälle von zuhause mitzunehmen. Ein Missgeschick, das ihm sonst eigentlich nie passierte.

Er seufzte schwer und rieb sich genervt von sich selbst mit den Handballen die Augen. Hätte ihm jemand gestern Abend gesagt, wie dieser Sonntag ablaufen würde, hätte er die Person dafür ausgelacht. Nun wollte Yoongi sich einfach nur noch selbst auslachen. Oder wer weiß...vielleicht übernahm Jimin das später auch für ihn. Falls er denn wirklich hier auftauchte.

Unweigerlich glitt Yoongis Blick mal wieder zu den Radwegen, die hier entlang des Hangangs fast wie ein etabliertes Straßennetz funktionierten. Viele nutzten das einigermaßen angenehme Wetter, um eine Spritztour entlang des Flusses zu machen. Yoongi visierte sie alle an, in der Angst und Hoffnung, endlich einen kupferfarbenen Haarschopf ausmachen zu können. Vergebens.

Mach dich nicht lächerlich! Du bist nicht auf ihn angewiesen und solltest dich hier auch nicht zum Affen machen, zischte ihm die Stimme der Vernunft zu. Geh verdammt nochmal nach Hause und genieß deinen Sonntag wie immer: Alleine und in Ruhe!

Yoongi war gerade dabei, die Entscheidung wie einen Download in seinem Kopf zu installieren, als etwas seinen Blick auf sich zog wie ein gegenpoliger Magnet. Er wusste nicht ob seine Aufmerksamkeit durch den auffällig kupferfarbenen Haarschopf oder das gelbe Fahrrad erregt worden war, welches genauso gut auf einer Postkarte aus Amsterdam hätte abgebildet sein können. Jimin fuhr langsam und auf den Pedalen stehend auf den Moonlight-Plaza auf und ließ den Blick suchend schweifen. Eine leichte Windböe brachte sein Haar durcheinander, erreichte darauf Yoongi und sorgte bei ihm für ein Schwindelgefühl. Als wäre er selbst plötzlich nichts weiter als ein Blatt in der Spätsommerbrise – machtlos gegen die Kräfte der Natur.

Wenn es denn so war, dann war Jimin definitiv die menschgewordene Sonne, die sich nun endlich durch die Dunstglocke gekämpft hatte, die nach wie vor über Südkoreas Hauptstadt hing. Die warmen Strahlen trafen Yoongi in Form eines Grinsens, das auf den Lippen des Studenten erschien, kaum hatte er seinen Kommilitonen bei den Holzterrassen ausgemacht. Mühelos sprang er von seinem quietschgelben Fahrrad und schob es den Rest des Weges.

»Sag bloß, du hast wirklich hier gewartet«, begrüßte Jimin Yoongi ohne ein Hallo und musterte ihn dabei neugierig. »Ich dachte echt, du würdest in der Zwischenzeit einfach wieder abhauen.«

»Hättest du dir noch weitere zehn Minuten Zeit gelassen, wäre ich das definitiv«, log Yoongi und fakte einen abschätzigen Blick.

»Vielleicht hab ich es auch einfach nicht für nötig gehalten, mich zu beeilen«, erwiderte Jimin schlagfertig und schenkte ihm ein selbstgefälliges Lächeln. »So ein bisschen Warten hat noch keinem geschadet.«

Es war unverkennbar, dass er auf Yoongis Verschwinden beim Festival anspielte und seine minimalistische Rache nun in vollen Zügen genoss. Offensichtlich war er schlau genug gewesen, um für sich selbst zu registrieren, dass er sich diese Aktion hatte erlauben können. Immerhin war es auch Yoongi gewesen, der ihn überhaupt erst gefragt hatte, hierher zu kommen.

Aber nun war er hier. Er war wirklich hergekommen. Hatte diese Information Yoongis Hirn überhaupt schon gänzlich erreicht?

»Und?«, fragte Jimin herausfordernd, als er keine Reaktion erhielt. »Willst du mir jetzt zeigen, wie ich mir am besten auf dem Ding den Hals breche? Wolltest du mich deshalb bei meinem Date stören?«

Die Empörung ließ Yoongi für einen kurzen Moment seine Anspannung vergessen. »Entschuldige mal, ich hab dich weder gezwungen, auf dein Handy zu schauen, noch hierher zu kommen. Es wäre mir –«

»Natürlich«, unterbrach ihn Jimin grinsend. »Es wäre dir absolut Schnuppe gewesen.«

»Wie auch immer«, lenkte Yoongi schnell vom Thema ab. »Es ist gut, dass du gekommen bist. So musste ich mich nicht selbst zu dir bewegen, um das halbwegs... egal, ich wollte eigentlich nur... naja...«

Er spürte, wie ihn mit jedem Wort sein Selbstvertrauen mehr und mehr verließ und Jimins erhobene Augenbraue half dabei nicht wirklich weiter.

»... Ich... ich wollte mich eigentlich nur entschuldigen«, brachte er schließlich widerwillig hervor. »Für Freitagabend, meine ich.«

Jimin legte den Kopf schief und lehnte sich lässig über den Lenker seines Fahrrads. »Entschuldigen? Meinst du für das Verschwinden beim Festival, die erste Beleidigung, die zweite, oder deine seltsamen Kumpels, von denen dich einer ja dann wie einen entlaufenen Patienten einer Irrenanstalt von dieser Party gezerrt hat?«

Yoongi atmete tief durch und verkniff sich mit aller Gewalt einen bissigen Kommentar. Er hatte sich in der letzten Stunde so oft und fest vorgenommen, das hier durchzuziehen, falls Jimin denn wirklich auftauchen würde. Er konnte sich jetzt nicht von diesen (wohlbemerkt wahrscheinlich wohlverdienten) Sticheleien aus dem Konzept bringen lassen.

»In erster Linie vielleicht mal dafür, dass ich deinen Yogurt Soju nicht ansatzweise trinken konnte... und ja... meine Freunde... Namjoon hatte seine Gründe, mich da wegzuholen. Ich wollte auf jeden Fall nicht so einen komischen Abgang hinlegen, deswegen sorry... Zum Rest kriegst du ganz sicher keine Entschuldigung, die hast du schon längst bekommen, also träum weiter.«

Jimin schnaubte, lächelte dabei aber unbeirrt weiter. »Er hatte seine Gründe? Hängt das mit diesem Vorfall zusammen, den sie im Proberaum angesprochen haben?«

»Nein, nicht wirklich.« Yoongi war froh, hierbei nicht lügen zu müssen. Wenn Jimin allerdings weiter nachhakte, würde er Probleme bekommen. Schnell fügte er noch ein »Und ich möchte gerade nicht wirklich darüber sprechen« hinzu, welches auch ein Glück sogleich seine Wirkung tat. Die Vorwitzigkeit verschwand fast gänzlich aus Jimins Gesicht.

»Na gut, dann...was hältst du davon, wenn wir drüben am Kiosk was zu trinken holen und uns in den Park setzen? Du glaubst mir nicht, was für einen Durst ich habe.«

Yoongi war überrascht, wie leicht es ihm fiel, sich auf diesen Vorschlag einzulassen. Noch mehr sogar, wie herrlich unkompliziert die Umsetzung des Plans vonstatten ging. Neben Jimin mit dem Skateboard unter dem Arm herzulaufen, während dieser sein Fahrrad schob und darüber plauderte, vor welch nervige Herausforderungen ihn Seouls furchtbarer Verkehr auf dem Weg hierher gestellt hatte. Fast nichts war mehr von der Anspannung zu spüren, die all ihre letzten Gespräche durchzogen hatte wie ein wucherndes Geschwür. Jenem, das sich mit Yoongis Ego einen Namen teilte.

»Und... wieso genau hast du dich dazu entschieden, dein Date sitzen zu lassen?«, wagte er es schließlich zu fragen, kaum hatten sie beide eine Flasche Chilsung Cider in den Händen – Jimin die mit Pfirsich-Geschmack. Sein Fahrrad hatten sie an einem der Stellplätze am Rand des Parks abgeschlossen.

»Ach, Yeji hatte ohnehin noch was vor«, erwiderte Jimin achselzuckend und blickte dabei verträumt auf den Hangang. »Und ich wollte noch ein bisschen draußen bleiben. Seit die Uni wieder angefangen hat, bin ich viel zu selten an der frischen Luft.«

Yoongi hätte ihm gerne entgegnet, dass die Luftqualität heute alles andere als frisch war, doch er ließ es sein. Zu fasziniert war er von dem Anblick, den Jimin ihm gerade bot – den Fluss und die Nord-Kulisse von Seoul direkt hinter ihm. Es war ein Leichtes für ihn, sich mit der Ausdrucksstärke dieses Panoramas zu messen.

Sie überquerten den Square, bis sie schließlich die asphaltierten Wege erreichten, die sich entlang von Rasenflächen entlang des Hangangs zogen. Es gab auch eine Anlegestelle für die Touri-Boote und ein paar kleine Stände von Straßenverkäufern. Ihr eigentliches Ziel war allerdings die gepflegte Wiese, die von den Spazierwegen eingerahmt wurde.

»Da vorne sieht es doch gut aus, findest du nicht?«

Jimin deutete auf eine schattige Stelle unter einem kleinen Ginkgo-Baum, welche noch nicht von anderen Parkbesuchern besetzt worden war. Um genau zu sein, lag sie sogar mit gutem Abstand zu den vielen Picknickdecken und kleinen bunten Zelten, welche man hier zu Lande gerne bei Ausflügen aufzubauen pflegte.

Yoongi stimmte ihm mit einem Nicken zu und ehe er sich versah, saßen sie beide auf dem glücklicherweise sehr trockenen Gras. Das Schweigen, das sie nun wieder umgab, war seltsam, aber irgendwie auch nicht unangenehm. Trotzdem war Yoongi froh, als Jimin es mit seiner samtweichen Stimme wieder durchbrach.

»Wie kommt man eigentlich als jemand wie du dazu, in einem Club zu arbeiten?«

»Was soll das denn heißen, jemand wie ich?«

»Oh, versteh mich nicht falsch, das war nicht negativ gemeint! Aber du wirkst nicht wie jemand, der sich... besonders gerne mit Menschen umgibt. Schon gar nicht auf engstem Raum. So ist es in der Uni... und auch auf der Party hatte ich ein wenig das Gefühl... Weißt du, wie ich das meine?«

Yoongi schmolz innerlich dahin, als Jimin aufgrund seiner falschen Ausdrucksweise Spuren von Verlegenheit zeigte. Gleichzeitig kam in ihm die Frage auf, ob er ihm eigentlich je etwas wirklich hatte böse nehmen können... egal, wie sehr er es sich einzureden versucht hatte.

»Es ist schwer zu erklären«, begann er unschlüssig und spürte gleichzeitig, wie er es doch irgendwie ausführen wollte. Ein ungewohntes Gefühl. »Ich... ich mag die Atmosphäre im VIBE... Nicht allgemein in den Clubs, aber dort auf jeden Fall... Hinter der Theke ist man ja ziemlich isoliert von dem Gedrängel. Ich mag auch die Variation an Musik dort... Ist irgendwie anders als in den Standard-Schuppen in Hongdae.«

Jimin nickte zustimmend. »Ja, das ist mir auch aufgefallen. Nicht dieser wirre Mix aus Charts, Hip-Hop und alten Pop-Klassikern. Aber... naja... dieser Theken-Job... macht der dir wirklich Spaß?«

Yoongi spürte erneut eine gewisse Anspannung in ihm aufkochen. Wenn Jimin nur wüsste, unter welchen Einflüssen er bei ihrer Begegnung im VIBE gestanden hatte. Was wirklich hinter dem Verhalten gesteckt hatte, das der andere Student wohl für sich selbst als fehlende Begeisterung für den Job interpretiert hatte.

»Doch, doch... das tut er auf jeden Fall. Ich glaube, ihr habt mich an dem Abend nur auf dem falschen Fuß erwischt.«

Jimin legte nachdenklich den Kopf schief und musterte ihn genau. »War es, weil...«

Yoongi wusste, worauf er hinauswollte und auch, weshalb er stockte. Was er nicht wusste, war, warum er plötzlich so einen Erklärbedarf hatte. So kannte er sich selbst nicht. Zumindest nicht aktuell.

»Ich...ich hab nicht die besten Erfahrungen gemacht mit... solchen Gruppierungen... wenn du verstehst, was ich meine. Kids, denen der Status und das Geld so wichtig ist... Ich hatte nie wirklich Probleme mit Han, Minsu und den anderen...aber das liegt wohl auch nur daran, dass Jin mein Mitbewohner und Kumpel ist. Jemand wie ich wird bei denen normalerweise weitaus mehr von oben herab behandelt.«

Jimin senkte den Kopf und scharrte mit seinen in Chucks steckenden Füßen unruhig im grünen Gras herum. Ausnahmsweise schien er um eine Erwiderung verlegen. Yoongi beschloss, das Gespräch nicht weiter in diese Richtung kippen zu lassen. Sie hatten Freitagnacht schon zur Genüge festgestellt, dass sie hierbei wahrscheinlich nicht so schnell auf einen Nenner kommen würden.

»Wir sollten lieber über etwas anderes sprechen«, sagte er langsam und löste seinen Blick von seinem Sitznachbarn. »Wie bist du dazu gekommen, dir so ein widerlich hässliches Fahrrad zuzulegen?«

»Entschuldige mal!«, entgegnete ihm Jimin sofort entrüstet und erinnerte in diesem Licht dabei an eine endlos schöne Marmorbüste eines Gottes, der bereit war, in den Krieg zu ziehen. »Was erlaubst du dir, Rocket als hässlich zu bezeichnen? Du kannst froh sein, dass sie außer Hörweite ist!«

Yoongis Mundwinkel zuckten. »Es ist gelb, Jimin-ah. Gelb!«

»Es ist eine Sie! Und in welcher Welt lebst du, in der das ein ausschlaggebendes Argument ist, ein armes, unschuldiges Fahrrad als hässlich zu betiteln? Was hat es dir bitte getan?«

Jimin schien ehrlich empört, doch die Art, wie er seine Haare zurückwarf und sich seine schicke rundglasige Sonnenbrille auf die Nase schob, zeugte von zu viel Theatralik, als dass er es vollkommen ernst meinen konnte. Das ergebene Lachen, das ihm entglitt, als er Yoongis aufgesetzten skeptischen Blick bemerkte, unterstrich dies nur. Den Dunkelhaarigen dagegen traf es mitten ins Herz, wie ein Schwarm wildgewordener Libellen. Anders konnte er sich jedenfalls nicht die Worte erklären, die ihm darauf über die Lippen rutschten.

»Schön, ich nehme es zurück. Ein sehr... ansehnliches Fahrrad. Würdest du mir trotzdem erklären, was es mit dieser exotischen Farbwahl auf sich hat?«

Ein sanftes Grinsen legte sich in Jimins Mundwinkel und er ließ seinen Blick über die Ränder seiner Brille hinweg über den Hangang schweifen.

»Es war ein Geschenk meiner Mutter. Wir haben schon seit ich ein Kind war ständig davon geredet, dass wir, wenn ich alt genug bin, eine Fahrradtour entlang der Küste von Busan bis zum Hafen von Wando machen. Das ist eine verdammt lange Strecke und man braucht dafür selbst mit etwas Erfahrung gut zwei Wochen. Naja... aufgrund diverser Umstände ist es leider nie dazu gekommen. Stattdessen sind wir einfach so mit der Fähre auf Jeju gefahren und als Entschädigung hat mir meine Mutter dort Rocket gekauft. Es gab keine Auswahl, es war ein Second-Hand-Shop und der Verkäufer hatte nur das im Angebot. War uns aber egal, denn es war in einwandfreiem Zustand. Darauf haben wir eine wesentlich kleinere Rad-Tour auf der Insel gemacht... aber ich zähle diese Reise nach wie vor zu den besten Erlebnissen meines Lebens. Nur meine Eomma, mein Bruder und ich. Es war wirklich schön...«

Yoongi traute sich nicht, Jimin zu fragen, welche Umstände die eigentliche Tour letztendlich verhindert hatten. Es blieb ihm auch gar nicht viel Zeit, um überhaupt ausführlich darüber nachzudenken. Ehe er sich auch nur den Ansatz einer Reaktion zu Jimins Erzählung überlegen konnte, hatte dieser sich schon mit einem schelmischen Ausdruck zu ihm umgedreht, der absolut nichts Gutes zu verheißen mochte.

»Erzähl mir von deiner Familie. Hast du ein gutes Verhältnis zu deinen Eltern?«

»Ich... ähm...«

Die Trockenheit, die sich in Yoongis Mund ausbreitete, legte seinen Sprech-Apparat fast augenblicklich lahm. Er spürte, wie das altbekannte Ziehen in seine Brust zurückkehrte. Die Wut, die Schuld...der Schmerz.

»Mein Vater und ich... Er wohnt zwar mit meinem Bruder auch hier in Seoul, aber wir sehen uns sehr selten... Das Verhältnis ist... eher angespannt. Ich hab ihn ein paar Mal zu oft enttäuscht.«

Jimins Augen weiteten sich ein wenig, doch auch Verständnis blitzte in ihnen auf. »Oh...ich verstehe... Ich hab auch nicht die beste Beziehung zu meinem Vater... Hast du denn wenigstens noch Kontakt zu deiner Mutter, oder...?«

Jenes oder schwebte zwischen ihnen in der Luft, als unschuldiger Träger von so vielen unaussprechlich schrecklichen Möglichkeiten. Yoongi hasste es, Jimin die schlimmstmögliche davon offenzulegen. Nicht, dass er sich wirklich dazu bereit fühlte, darüber zu reden. Hierbei handelte es sich lediglich um Worte, die er über die letzten drei Jahre auswendig gelernt hatte. Worte, die mechanisch über seine Lippen kamen, egal wer da gerade vor ihm saß.

»Sie ist 2015 gestorben.«

War es gerade noch der Hauch von schockierter Erkenntnis gewesen, der Jimins Züge geprägt hatte, so überwältigte ihn nun sichtlich das volle Ausmaß davon. Yoongi war diese Reaktionen gewohnt und er hasste sie wie die Pest. Gleich würde er sich wieder die fassungslosen Beileidsbekundungen anhören müssen. Jene tröstlich gemeinten Worte, die jedoch niemals irgendetwas ausrichten würden können.

»Tut mir leid... ich wollte nicht... fuck, tut mir echt leid.« Jimin fuhr sich sichtlich durch den Wind mit der Hand durch die Haare und sah betreten auf seine Beine. »Wir können sofort das Thema wechseln, wenn du möchtest. Ich wollte wirklich nicht –«

»Schon okay«, unterbrach ihn Yoongi, innerlich ziemlich dankbar für diese doch relativ nüchterne Reaktion. »Es ist drei Jahre her. Ich sollte langsam drüber weg sein.«

»...sicher?«

»Ja, so langsam. Ich denke trotzdem nicht, dass jetzt und hier...«

Er stockte und presste die Lippen aufeinander. Jimin nickte verständnisvoll. Einen Moment herrschte betretene Stille zwischen ihnen, bis ein leichter Boxhieb in die Seite Yoongi aufschrecken ließ. Da war wieder jenes besorgniserregende Grinsen in Jimins Gesicht getackert, dieses Mal mit noch mehr elektrisierendem Enthusiasmus dahinter.

»Der Deal war ja eigentlich, dass du auch etwas mehr über dich erzählst. Da ich wohl aber dazu tendiere, den Finger immer wieder in eine Wunde zu legen, schlage ich eine Alternative vor. So als kleine Entlohnung dafür, dass ich meinen Arsch extra hierher bewegt habe, um mir deine Entschuldigung anzuhören.«

Yoongi zog misstrauisch die Augenbrauen hoch. »Was willst du?«

Jimins Grinsen wandelte sich von frech zu teuflisch. »Hmm...siehst du das kleine Gebäude da vorne?«

»Oh... oh nein!«

»Oh doch!«


~⋆☽ ❊ ☾⋆~


Yoongi konnte sich nicht ganz erklären, was ihn letztendlich hatte weich werden lassen. Vielleicht nicht unbedingt Jimins Worte, so überzeugend sie auch gewesen sein mochten. Dann doch eher seine niedlichen braunen Welpenaugen, die ihm suggeriert hatten, dass es gerade wirklich nichts gab, was er lieber tun würde, als sich ein verdammtes Fahrrad beim Kiosk auszuleihen. Eigentlich hasste Yoongi Fahrradfahren wie die Pest. Aber für Jimin hatte er beschlossen, dass er eine Ausnahme machen würde. Nur dieses eine Mal.

»Min Yoongi, was bist du bitte für ein Lahmarsch, huh?«

Jimin lachte so laut, dass sich einige Spaziergänger auf dem Fußweg erschrocken zu ihm umdrehten. Er trat dabei so leichtfüßig in die Pedale von Rocket, dass es fast schon den Anschein erweckte, er würde gerade für einen lächerlichen Werbespot posieren. Yoongi befand sich gut zwei Meter hintendran und schaffte es einfach nicht, zu ihm aufzuschließen. Zusätzlich schmerzte sein Hintern bereits in einem Ausmaß, als hätte er schon drei Monate auf dem verdammten Gerät gesessen.

»Ich hasse Fahrradfahren!«, brüllte er Jimin demonstrativ zum bestimmt fünften Mal zu und wusste auch nun gar nicht so recht, ob er das auch wirklich so meinte. Aber einen Teufel würde er tun und zugeben, dass das hier eigentlich sogar ein wenig lustig war. Trotz wundem Arsch.

»Stell dich nicht so an«, rief Jimin fröhlich und fuhr sich lässig durch seine kupferfarbenen Haare. Yoongis Skateboard klemmte gut gesichert auf seinem Gepäckträger. »Hast du mal nach da vorne geschaut? Ist das nicht wunderschön?«

Er musste Yoongi nicht erst darauf hinweisen, er hatte es längst gesehen. Sie hatten bereits die Unterführung unter der Dongjak-Brücke durchfahren und radelten nun immer weiter dem Sonnenuntergang entgegen. Der Himmel war bereits von diesem ganz bestimmten Blauton erfüllt, der immer mehr im gräulichen Dunst verblasste, je näher er an die Spitzen der Hochhäuser heranreichte. Seouls westliche Distrikte jenseits des türkis-schimmernden Hangangs spiegelten in ihren Fensterscheiben das Orange des Abendlichts wider. Es war, als würde Yoongi eine Postkarte betrachten. Etwas, das sich andere Menschen sicher als Hintergrundbild für ihren Desktop einstellen würden.

»Wie weit willst du denn noch fahren?«, fragte Yoongi laut und versuchte sich dabei dieses Mal mehr auf den Fahrradweg zu konzentrieren statt auf die pittoreske Kulisse vor ihm.

»Ich dachte, bis zur Hangang-Brücke, dort eine kurze Pause machen und dann wieder zurück.«

»Fuck, wie weit ist das noch?«

»Gar nicht mehr weit. Da vorne kannst du sie schon sehen!«

Sie fuhren inzwischen entlang an unzähligen Pfeilern. Die Schnellstraße erstreckte sich wie ein Dach über ihnen. Yoongi konnte die Hangang-Brücke mit ihren charakteristischen weißen Bögen tatsächlich bereits ganz nah erkennen. Er stellte sich jetzt bereits vor, wie gut die Aussicht von dort oben sein musste.

Als sie ein wenig weiterfuhren, schloss sich die Unterführung zu einem wahrhaftigen Tunnel. Dies war der Moment, in dem Jimin beide Arme von seinen Lenkern nahm und sie weit von sich streckte, fast so, als wollte er fliegen. Er hatte absolut freie Bahn – kein Gegenverkehr, nur sie beide, wie sie die Unterführung entlangbretterten.

»Wohoooo«, brüllte Jimin dabei mit einer heiseren Stimme, die als Echo von den Wänden und der Decke widerhallte. Die Szenerie fühlte sich an, als wäre sie einem Film entsprungen. Yoongi konnte keine einzige Sekunde die Augen von ihm lassen. Jimin war der Protagonist, ganz klar. Wunderschön, alles einnehmend, unantastbar. Der König der Welt.

Yoongi hatte sich immer noch nicht ganz von jenem Anblick erholt, als sie fünf Minuten später am Geländer der Hangang-Brücke lehnten. Autos rollten gemächlich im Stau des beginnenden Feierabendverkehrs entlang der Olympic-daero zu ihrer Linken und am Horizont zeichneten sich vor der Kulisse des Sonnenuntergangs die Eisenbahnbrücke und die Hochhäuser von Yeouido ab. Wenn sie weiter über die Brücke fahren würden, könnten sie auf die kleine Insel Nodeulseom gelangen. Eine kleine Kulturstätte mit viel Parkfläche zum Lesen und Natur genießen. Manchmal fanden dort sogar kleine Festivals oder Konzerte statt.

»Und? Bereust du es, dich auf einen Drahtesel gesetzt zu haben?«, fragte Jimin mit einem träumerischen Unterton, ehe er einen Schluck von seinem Chilsung Cider nahm.

Yoongi brummte. »Frag das meinen Arsch. Ich spüre ihn nicht mehr.«

Jimin lehnte sich ein wenig zurück, als würde er wirklich seiner Aufforderung nachkommen. »Ey, Yoongis Arsch... Gib's zu, für diesen Ausblick hat es sich gelohnt, ein paar Qualen zu erleiden.«

Yoongi konnte nicht anders als zu grinsen. Es kam selten vor, dass er dies nicht in einem einfachen Mundwinkelzucken vertuschen konnte. Das hier... das fühlte sich so ungewohnt gut an. Er fühlte sich frei. Frei mit Jimin.

»Ich fand's richtig schön, weißt du?«, sagte dieser plötzlich und schaute Yoongi dabei offen ins Gesicht. »Noch was mit dir zu unternehmen, meine ich. Und rauszufinden, dass du doch zu so etwas wie einem Lächeln fähig bist. Du hast so kleine Zähne, das ist irgendwie süß.«

Süß. Hatte er das wirklich gerade gesagt?! Yoongi musste sein Gesicht abwenden, um die Röte zu verstecken, die ihm in die Wangen kroch.

»Ich... ich mag sie nicht besonders«, grummelte er verlegen.

»Ach komm, sie sind wenigstens gerade. Schau dir meine an.«

Jimin bleckte die Zähne, um Yoongi den schiefen Schneidezahn zu präsentieren, für den dieser längst in aller Detailgenauigkeit ein Denkmal in seinem Kopf gemeißelt hatte.

»Ich überlege, mir irgendwann, wenn ich das Geld habe, eine Zahnspange zu holen. Oder ich lasse ihn direkt richten.«

»Mach es nicht.«

Jimin blinzelte überrascht auf. »Wieso?«

»Ich... ich finde ihn nicht hässlich. Und der Zahn... er gibt dir irgendwie etwas Einzigartiges.«

So wie jeder Zentimeter deines Gesichts, deine schönen Augen und die vielen Lachfältchen, innerhalb der sie verschwinden, sobald du dieses wunderschöne Lächeln auf diesen Blütenblätterlippen trägst. So wie deine weiche Haut, deine dir immer ins Gesicht fallenden Haare, deine etwas klein geratenen Hände. Die Art, wie du gehst, wie du den Kopf zurückwirfst, wenn du etwas besonders komisch findest... wie du von etwas redest, das dich begeistert...

Yoongi hätte Jimin auf Anhieb einen Vortrag über all die Dinge halten können, die er an ihm einzigartig und besonders fand. Im mehr als positiven Sinne. Und umso mehr er sich damit beschäftigte, desto eher wurde ihm klar, dass er noch nie jemanden wie Jimin getroffen hatte. Es gab ab und an Leute, die sich nicht von seiner abweisenden Art abschrecken ließen. Leute, bei denen er sogar etwas auftauen und nette Gespräche mit ihnen führen konnte. Aber noch nie hatte sich jemand so unvoreingenommen und mutig an ihn herangewagt. Noch nie hatte ihn jemand so unerschrocken und taub für seine zwanghaft miesepetrige Ader an der Hand genommen und in die Welt hinausgezogen. Yoongi fühlte sich plötzlich, als würde er nicht mehr das Leben leben, das er noch vor drei Wochen gelebt hatte, als er frisch zurück aus Busan gekommen war. Alles nur durch eine kleine Fahrradtour entlang des Hangangs. Fuck, wieso war ihm jetzt plötzlich nach weinen zumute?

»Ich fand es auch schön.«

Eigentlich hatte Yoongi seinem Mund nie befohlen, diese Worte zu formen. Trotzdem hatten sie mit einer Selbstverständlichkeit seine Lippen verlassen, als hätte er nur geatmet. Die Scham, die sich in ihm ausbreitete, wurde jedoch sehr schnell von dem gerührten Blick verscheucht, den Jimin ihm daraufhin schenkte.

»Das freut mich sehr... Hast du denn Lust, noch etwas zu Essen zu besorgen und dann die Fontänen-Show anzuschauen?«

Yoongi lächelte und dieses Mal fiel es ihm um einiges leichter. »Klingt nach einem guten Plan.«


~⋆☽ ❊ ☾⋆~


Die schwimmenden Inseln neben der Banpo-Brücke leuchteten in Blau und Grün, während die Pfeiler und der Moonlight-Square in ein grelles Orange getaucht wurden. All jene Farben spiegelten sich in voller Intensität im Wasser des Hangangs wider, zusammen mit den stetig wechselnden Scheinwerfern, welche die tanzenden Fontänen bestrahlten, die sich von der Brücke in den Fluss ergossen.

Yoongi saß auf einer der steinernen Stufen, die eine Art Arena um den Square bildeten. Jimin befand sich direkt neben ihm. Ihre Arme berührten sich immer ein wenig, wenn sie sich bewegten.

Es war ein Moment für die Ewigkeit. Friedlich und schön. Yoongi wusste, dass der Song, der passend zu den Fontänen aus irgendwelchen Lautsprechern tönte, für immer in seinem Gedächtnis bleiben würde. Gebunden an diese neue Erinnerung, wie ein Tattoo.

Die letzte Stunde hatten sie damit verbracht, auf eine angenehme Weise über den besten Lieferdienst zu streiten, bis der Ältere schließlich Jimins Wunsch (Koreanisches Chicken mit Honig und Kimchi Bokkeumbap – gebratener Reis) nachgegeben hatte. Als das Essen geliefert worden war, hatten sie einen der besten Plätze auf der weitläufigen Treppe ergattert, die während der Fontänen-Shows als Zuschauerränge dienten. Seit die Kartons geleert waren, hatten sie nicht mehr viel miteinander gesprochen. Nun allerdings fühlte sich Yoongi seltsam hibbelig. Der Tag neigte sich dem Ende und dieses Schweigen befriedigte ihn nicht. Ein seltsamer Umstand, wo er doch Unterhaltungen sonst vermied, wann immer es ihm möglich war.

»Kennst du die Band, die den Song singt?«, fragte Yoongi und fühlte sich sofort wie ein Terrorist, der mit Gewalt die vorherrschende Atmosphäre zerstörte. Zu seiner Beruhigung lächelte Jimin darauf unbeirrt, ja, vielleicht sogar wieder ein wenig verträumt.

»Ja, der ist von einer K-Pop-Band. BTS heißt sie.«

»Oh... ja. Hab glaub mal von denen gehört.«

Yoongi wollte nicht zugeben, dass der Hype um dieses inzwischen weltweit boomende Phänomen namens BTS auch an ihm nicht vorbeigegangen war. Nicht, dass er sich sonderlich für K-Pop interessierte, doch ein paar vereinzelte Songs dieser Gruppe hatten ihren Weg doch schon zwischen seine üblichen Hip-Hop- und Trap-Playlisten gefunden. Dieser würde hierbei wohl keine Ausnahme bilden.

»Es ist einer meiner Lieblingssongs von ihnen, weißt du?«, lächelte Jimin zu ihm herüber. »Heartbeat heißt er. Hat mir damals aus einer sehr schweren Zeit geholfen.«

Yoongi schwieg und lauschte weiter den Zeilen, die von vielen verschiedenen Stimmen gesungen wurden. Auch wenn es ihn in den Fingern juckte, dieses Mal nachzuhaken. Doch es fühlte sich nach wie vor an, als wäre er nicht in der Position dazu. Als wäre dies hier zwischen ihnen zu flüchtig, zu zerbrechlich.

Jimin summte leise mit und formte ab und an ein paar Worte mit den Lippen. Seine Stimme war lieblich und erinnerte an süßen Mango-Saft in einer Hängematte, an sanfte Flügelschläge von Schmetterlingen, an Tautropfen auf gelben Blumen auf einer Weide im Morgennebel.

Yoongi hatte seine Hände rechts und links von sich auf der Steinstufe abgestützt, genau wie Jimin. Um genau zu sein, fehlten nur wenige Zentimeter, dass sich ihre kleinen Finger berührten. Yoongi biss sich auf die Zunge. Alles, worüber er gerade nachdenken konnte, war, ob er es wagen sollte. Er konnte es wie ein Versehen aussehen lassen. Schauen, wie Jimin reagierte...

Worüber dachte er da bitte nach? Er wollte doch nicht etwa...?! Nein, einfach nein!

Jimin bemerkte nicht, wie Yoongi sich unmerklich schüttelte und sein Blick unweigerlich auf den Jüngeren fiel. Die Lichter der Fontänen spiegelten sich in Jimins Augen und ließen das Schauspiel noch schöner wirken, als es eigentlich war. Yoongi wäre am liebsten in ihnen versunken wie in einem stillen, tiefen Ozean. Er wusste, wie gefährlich es war, wenn der andere sein heimliches Starren bemerkte, doch er konnte sich einfach nicht losreißen... erst recht nicht, als die Worte in einer erschreckenden Endgültigkeit wie ein flackerndes Neon-Schild in seinem Kopf aufleuchteten.

Du hast einen Crush auf ihn, Yoongi. Und wenn du so weitermachst, gibt es für dich bald kein Zurück mehr.

Die Erkenntnis ließ ihn innerlich erschaudern, jagte eine Gänsehaut über seine Arme und eine Übelkeit in seinen Rachen. War er jetzt wirklich wieder dem Straight-Guy-Syndrom zum Opfer gefallen? Ausgerechnet er, der sich eigentlich davor gesträubt hatte, sich in naher Zukunft überhaupt in irgendwen zu verlieben?

Jimin hatte keinen blassen Schimmer, welcher Gedanken-Taifun gerade Yoongis Kopf verwüstete. Immer noch starrte er wie gebannt auf die Fontänen und summte die Ballade mit, die inzwischen aus den Lautsprechern des Platzes säuselte.

Yoongi war drauf und dran, seine Hände in seinem Schoß abzulegen. Raus aus der Gefahrenzone, innerhalb der sie etwas wirklich Dummes anstellen konnten. Doch die Winzigkeit einer Berührung brachte ihn in genau diesem Moment zum Zögern. Das konnte doch nicht... bildete er sich das gerade ein?

War das etwa Jimins kleiner Finger, der gerade seinem eigenen entgegen gezuckt war?

Yoongi konnte sich nicht zurückhalten und schielte unauffällig auf die freie Fläche zwischen ihnen. Es war keine Halluzination, die sich sein vergleichsweise nüchternes Gehirn da zurechtgelegt hatte. Da fand eine Berührung statt, die gut zwei Zentimeter Haut betraf. Und genauso war es kein Hirngespinst, als Jimins kleiner Finger sich ganz leicht über Yoongis legte. So sanft, als hätte er dort gerade einen zitronenfarbenen Schmetterling landen lassen.


~⋆☽ ❊ ☾⋆~


»Ich hoffe doch schwer, dein Bild von mir hat sich durch heute ein wenig zum Positiven verändert«, erleuchtete Jimins Stimme die vorherrschende Dunkelheit, komplimentiert vom Ansatz eines schelmischen Grinsens.

Das Chaos, das der Taifun in Yoongi zurückgelassen hatte, ließ ihn lange nach seiner Schlagfertigkeit suchen. Schwerer wurde es daher, nichts von der Wahrheit durchblicken zu lassen, die ihm jetzt klarer denn je vor seinem inneren Auge schwebte. Die Erkenntnis ließ Yoongi sich fühlen, als hätte er mal wieder drei Tage hintereinander im Wechsel Pep und Keta gezogen. Sein Geist war erschöpft, wenngleich eine beträchtliche Menge an Adrenalin seinen Körper funktionieren ließ. Beste Voraussichten, wenn man bedachte, dass er heute noch eine gute Strecke mit dem Bus hinter sich bringen musste, bis er wieder zuhause war.

Jimin hatte ihn noch zur Haltestelle begleitet. Er selbst würde den Weg heim mit seinem Fahrrad bestreiten, hatte aber darauf bestanden, noch mit Yoongi zu warten. Er hielt Rocket mit einer Hand am Lenker fest, während die andere in der Tasche seiner Lederjacke ruhte, die er sich inzwischen zum Schutz vor der Kälte übergezogen hatte. Ein niedlicher blassroter Schimmer hatte sich angesichts der gesunkenen Temperaturen auf seiner Nase und seinen Wangen gebildet.

»Ein wenig vielleicht«, erwiderte Yoongi leider ein paar Sekunden zu spät und ohne Jimin dabei wirklich ansehen zu können.

Jimin lächelte und zeigte dabei deutlich seinen schiefen Schneidezahn. »Gut... Ich dachte schon, ich hätte mir mit dem Fahrradfahren und dieser 08/15-Touri-Attraktion eher Minus-Punkte eingeholt.«

Yoongi, der sich schon Minuten nach dem Finger-Ereignis darauf besonnen hatte, dass es ein dummes Versehen gewesen sein musste, schüttelte träge den Kopf.

»Es war ganz nett.«

Jimin presste die Lippen zu einem Schmunzeln aufeinander und atmete seufzend durch die Nase. »Aus deinem Mund klingt das fast schon wie eine Liebeserklärung.«

Yoongi verschluckte sich auf diesen unschuldigen Kommentar hin um ein Haar an seiner eigenen Spucke. Nur mit Müh und Not schaffte er es, dies nicht ersichtlich werden zu lassen. Stattdessen umklammerte er sein Skateboard fester und tat so, als würde er einen Blick über seine Schulter werfen, um den Verbleib seines Busses zu checken.

»Bild dir nichts drauf ein. Vielleicht war es auch nur das Essen, was mich nach dieser furchtbaren Höllenfahrt besänftigt hat«, erwiderte er dabei so beiläufig wie möglich und betete, dass Jimin die Schwingungen seines schnell schlagenden Herzens nicht durch die Luft spüren konnte. Auch nicht den tiefen Fall, den es erlebte, als er tatsächlich die Nummer seines Busses in der Ferne aufleuchten sah.

»Dann merke ich mir fürs nächste Mal, wieder so lange zu diskutieren, bis du mich auch da das Essen aussuchen lässt«, erwiderte Jimin amüsiert. »Das da vorne ist deiner, oder? Dann schwing ich mich mal auf Rocket...«

»Fahr vorsichtig, ja?«

Yoongi hatte eigentlich nicht so sentimental wirken wollen, doch die Worte waren unaufhaltsam über seine Lippen gepurzelt. Wenn das so weiterging, würde ihm vor Jimin bald auch der letzte Rest seines mühsam aufgebauten Images flöten gehen. Aber was hätte er in diesem Moment schon groß dagegen unternehmen können? Jimins Erwähnung eines möglichen nächsten Mal's hatte ihm innere Höhenflüge beschert.

»Mach ich. Und du... schlaf nicht ein.«

Für einen kurzen Moment sah es so, als läge Jimin noch etwas anderes auf der Zunge. Einige Sekunden lang schaute er Yoongi ins Gesicht, die plumpen, wohlgeformten Lippen leicht geöffnet und der Ausdruck in seinen Reh-Augen unergründlich. Dann jedoch schien er sich eines Besseren zu besinnen und das natürlich mit seinem Gesicht verschmelzende Lächeln feierte sein Comeback. Zeitgleich wie der Bus mit einem quietschenden Laut neben dem Bordstein zum Stehen kam und seine Türen öffnete.

»Wir sehen uns morgen, Hyung.«

»Ja... bis dann.«

Yoongi fühlte sich, als hätte sich ein Teil von ihm gelöst, den er nun mit schweren Ketten schwerfällig hinter sich her in das Gefährt schleppen musste. Fast blind hielt er seine Karte gegen das Lesegerät, während sein Blick weiter auf Jimin ruhte. Er beobachtete ihn dabei, wie er sich auf sein Fahrrad schwang und langsam aus seinem Sichtfeld verschwand – das leuchtende Gelb seines Gefährts im hellen Kontrast mit der Nacht, genau wie seine feurigen Haare.

Jimin drehte sich nicht noch einmal um. Er sah nicht, wie Yoongi nun vollends in der Melancholie versank, die nur das Ende eines einmalig schönen Tages mit sich bringen konnte.


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☽ 𝐚𝐮𝐭𝐡𝐨𝐫'𝐬 𝐧𝐨𝐭𝐞 ☾

Well, that's actually one of my favorite chapters so far.

Das liegt wohl vor allem daran, dass ich die Banpo-Bridge und die Hannam-Bridge bereits besucht und die Szene auch mitunter dort geplant habe. Die Fahrradtour wollten wir genau so ausführen, aber es war leider viel zu heiß. Ähnliches Spiel bei meinem Plan, mit dem Laptop zum Moonlight Plaza zurückzukehren, um die Szene dort fertigzuschreiben – da kam leider der Jahrhundertregen und hat den kompletten Park bei den Fontänen über Wochen hinweg überflutet :') 

Im Nachhinein ist es nicht schlimm, ich hab ohnehin alles nochmal umgeschrieben XD 

PS: NOCH VIER WOCHEN BIS NEW YORK, I'M DYING!!!

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