chapter 4 - escapism
♫ track no. 4
𝙋𝘼𝙍𝘼𝙉𝙊𝙄𝘿 𝘣𝘺 𝘾𝙝𝙖𝙨𝙚 𝘼𝙩𝙡𝙖𝙣𝙩𝙞𝙘
𝟷𝟸. 𝚂𝚎𝚙𝚝𝚎𝚖𝚋𝚎𝚛 𝟸𝟶𝟶𝟿 | 𝚟𝚘𝚛 𝚍𝚎𝚖 𝙷𝚊𝚞𝚜 𝚍𝚎𝚛 𝙵𝚊𝚖𝚒𝚕𝚒𝚎 𝙺𝚒𝚖 | 𝙳𝚊𝚕𝚜𝚎𝚘𝚗𝚐-𝚐𝚞𝚗, 𝙳𝚊𝚎𝚐𝚞
YOONGIS FINGER klammerten sich um das hübsch verpackte Geschenk auf seinem Schoß. Seine Mutter hatte dafür gesorgt, dass das Band darum sich perfekt kringelte und nun spiegelte es das Licht der Herbstsonne in Regenbogenfarben an die Decke des kleinen Hyundais. Das Radio, aus dem ein koreanischer Folk-Song dudelte, war heruntergedreht worden.
»Worauf wartest du, Bärchen?«, fragte ihn Junghwa und musterte ihn dabei vom Fahrersitz aus ganz genau.
»Ich hab doch gesagt, dass du mich nicht mehr so nennen sollst«, grummelte Yoongi. »Das ist peinlich.«
Seine Mutter verzog die Mundwinkel zu einem wissenden Lächeln. »Okay, wie du möchtest. Aber dafür sagst du mir, wieso du nicht aussteigen möchtest.«
Yoongi starrte missmutig auf das Geschenk. »Ich... ich kenn die anderen doch alle nicht... Das sind Namjoons Freunde.«
»Ja, und in ein paar Monaten könnten es auch deine sein. Namjoon ist dein bester Freund und er kann es sicher kaum erwarten, dir all seine Kumpels von der Middleschool vorzustellen. Ich bin mir sicher, dass dir das so vieles an der neuen Schule erleichtern wird.«
»Aber... aber was ist, wenn sie mich nicht mögen?«
Seine Mutter streckte eine Hand aus und legte sie ihm sanft auf den Hinterkopf. »Nicht alle Menschen sind gleich, Yoongi-yah. Du solltest ihnen eine Chance geben. Und wenn etwas ist, ruf mich einfach an, ja? Ich hol dich dann so schnell wie möglich ab, versprochen.«
»Hmm... okay...«
Yoongi war nicht überzeugt, aber ließ sich dennoch dazu ermutigen, endlich seinen Anschnallgurt zu lösen. Als er das Auto verließ und ein letztes Mal zu seiner Mutter zurücksah, winkte sie ihm mit einem ermutigenden Blick zu. Es konnte Yoongis Nervosität nicht tilgen. Lediglich sorgte es dafür, dass er es schaffte, den restlichen Weg zu der ihm bereits altbekannten Haustür des Mehrfamilienhauses zurückzulegen, in dem Namjoon mit seiner Familie wohnte. Yoongi war schon unzählige Male hier gewesen. Allerdings hatten ihn jene Male nie ein Gefühl der Angst begleitet.
»Ahhh, hallo Yoongi-yah!«, begrüßte Namjoons Mutter ihn, kaum war er wenige Minuten später durch die Wohnungstür im ersten Stock getreten. »Die anderen Jungs sind im Wohnzimmer. Nimm dir ruhig etwas von den Snacks, ja?«
Mit weichen Knien ließ sich Yoongi von ihr in besagten Raum schieben, der auch die einzige Lärmquelle des Apartments bildete. Aus den Boxen dröhnten die Beats eines koreanischen Rappers, die nur von den grölenden Stimmen von mindestens fünf Jungs übertönt wurde, die sich um den Zataku-Tisch in der Mitte des Raums geschart hatten. Einer von ihnen hob sofort den Kopf und zeigte sein Grübchen-Grinsen, kaum hatte er Yoongi im Türrahmen entdeckt.
»Yoongi ist da«, rief Namjoon und forderte damit die Aufmerksamkeit all seiner Gäste. »Macht mal Platz für ihn!«
Yoongis Muskeln verkrampften sich merklich mit jedem Schritt, den er dem Tisch näherkam. Er spürte die neugierigen Blicke der anderen auf sich. Die schroffe Stimme des Rappers, dessen Worte der Zwölfjährige kaum verstehen konnte, war für einen Moment alles, was die Stille füllte. Es gefiel Yoongi nicht, dass er letztendlich zwischen zwei Fremden sitzen musste. Aber wer gab auf einer Party schon freiwillig den Platz neben dem Geburtstagskind auf?
»Das sind Jun, Jaesung, Mireu und Kaito«, stellte Namjoon sofort seine Freunde vor und deutete schneller auf die zugehörigen Gesichter, als Yoongi sich es in seiner Nervosität merken konnte.
»Ich...ich hab noch was für dich«, murmelte er, statt sich selbst noch einmal vorzustellen und reichte seinem besten Freund das Geschenk über den von Sammelkarten bedeckten Zataku, als würde es ihm allmählich die Finger verbrennen.
Namjoons Augen leuchteten vor Neugier, als er sofort damit begann, das Papier aufzureißen. Aber nicht nur er war gespannt darauf, was er auspacken würde. Die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Jungs lag auf seinen Händen und alle quasselten durcheinander, was es denn sein könnte.
»Boah, ist das ein Spiel für den Nintendo?!«
»Neeeein, Namjoonie hat doch nur eine Play-Station! Und wie doof bist du, hast du überhaupt schon mal ein Nintendo-Spiel gesehen?!«
»Vielleicht ist es auch eine DVD von Spider-Man! Die hat er sich doch gewünscht.«
Mit jedem Wort, das durch den Raum gerufen wurde, sank Yoongi mehr im Schneidersitz ein. Als Namjoon endgültig das Papier auf den Boden warf, wurde es wieder ganz still.
»Das...ist ein Buch?«, stellte der Junge, dem Yoongi vage den Namen Jaesung zuordnete, mit leichter Ungläubigkeit in der Stimme fest.
»Bitte schenk mir niemals ein Buch zum Geburtstag«, flüsterte der namens Jun mit einem unterdrückten Kichern dem Jungen neben sich zu. Vielleicht dachte er, er säße weit genug weg, dass Yoongi ihn nicht hören würde. Vielleicht war es ihm aber auch völlig gleichgültig.
»Hast du dir das gewünscht, Joon?«, hakte Jaesung frech grinsend nach und versuchte neugierig, einen besseren Blick auf den Einband zu erhaschen. »Ich wusste gar nicht, dass du schon lesen kannst.«
Namjoon hatte seinen Blick bisher nicht von dem Buch abgewandt. »Flora & Fauna Südkoreas« prangte als Titel auf dem Cover und wurde umrahmt von einer gewaltigen Fülle an Pflanzen und Tieren. Er ließ sich mit seiner Antwort Zeit, bis er auch noch die Rückseite eingehend studiert hatte. Als er den Kopf wieder hob, galt sein Lächeln nur Yoongi. Jaesungs sarkastische Frage ignorierte er komplett.
»Das ist echt cool... Dankeschön.«
Yoongi erwiderte das Lächeln zaghaft. Als sein bester Freund das Buch jedoch ohne einen Blick ins Innere auf das Regal neben sich legte und seine Aufmerksamkeit wieder zu den Karten auf dem Tisch lenkte, entglitt es ihm wieder.
»Was sollen wir tun?«, fragte er in die Runde. »Yoongi weiß nicht, wie das Spiel geht und es ist doof, wenn er dadurch jetzt einen Nachteil hat.«
Kaito riss die Augen auf. »Er weiß nicht, wie man Pokémon spielt?!«
»Ja, aber ist ja auch egal. Wir können auch was anderes machen.«
Der Junge, der japanische Wurzeln zu besitzen schien, kam nicht über seinen Schock bezüglich der gerade fallengelassenen Information hinweg. Er starrte Yoongi mit großen Augen an.
»Aber du weißt schon, was Pokémon ist, oder?!«
»Natürlich weiß ich das.«
»Aber du hast es nie gespielt? Nicht mal am Nintendo?!«
Yoongi wich seinem Blick aus und starrte auf die Tischkante. »Ich... ich hab keinen Nintendo.«
»Auch keinen GameCube? Oder eine PlayStation?«
»Nein...«
»Oha, das ist echt traurig.«
»Nicht jeder verschwendet seine Zeit mit Computerspielen«, unterbrach sie in diesem Augenblick die Mutter streng. »Namjoon hat recht, ihr solltet etwas anderes machen. Wieso geht ihr nicht ein bisschen an die frische Luft? Die meisten von euch haben doch keinen Garten, also wieso nutzt ihr das nicht aus, hm?«
Es stimmte, die wenigsten hier in Daegu konnten von sich behaupten, dass sie einen richtigen Garten hinterm Haus besaßen. Namjoons Vater allerdings war Leiter einer Gärtnerei und hatte viel Wert auf den Standort gelegt, an dem sie sich als Familie niederließen. Seine Naturverbundenheit zeigte sich in der Hingabe, mit der er das kleine Gewächshaus und die an ein Wäldchen grenzende Naturfläche hinter dem Mehrfamilienhaus pflegte, welches er sowohl bauen hatte lassen als auch untervermietete. Yoongi hatte oft mitbekommen, wie Namjoon seinem Vater voller Eifer bei der Gartenarbeit geholfen hatte. Genau deswegen hatte er auch eigentlich gedacht, das Geschenk könnte ihm gefallen. Aber vielleicht besaß seine Familie auch schon mehr als genug Bücher über Pflanzen... Ja, vielleicht war es doch ein vollkommener Fehlgriff gewesen, den er zusammen mit seiner Mutter beim Einkaufen gemacht hatte. Wieso hatte Yoongi nur auf sie gehört und nicht nach einem Spiel für Namjoon gesucht?
Der Gedanke daran zog ihn so runter, dass er die Begeisterung, die der Vorschlag »Draußen spielen« mit sich brachte, kaum teilen konnte. Auch wenn es ihm ersparte, sich mit sowas wie Pokémon auseinandersetzen zu müssen. Er hatte seine Eltern nie darum gebeten, ihm Tüten der beliebten Sammelkarten zu kaufen und glaubte auch nicht, dass sie das unterstützt hätten. Er verbrachte seine Freizeit lieber damit, mit seinem kleinen Bruder zu malen, bei seiner Oma am Klavier herumzuspielen oder vielleicht mal ein Buch zu lesen. Nun allerdings versuchten Jaesung, Mireu und Kaito einstimmig und unter lautem Gebrüll Fußballspielen als neue Aktivität durchzusetzen – ebenfalls etwas, bei dem Yoongi kein Talent vorweisen konnte. Zum Glück war Namjoon geübt darin, die Meute unter Kontrolle zu halten.
»Ich wäre dafür, dass jeder sich eine Sache aussuchen darf, die wir spielen«, schlug er diplomatisch vor, kaum standen sie im grünen, perfekt gestutzten Gras hinterm Haus. Seine Stimme vermischte sich mit dem Rauschen des Windes in den Baumkronen am Waldrand und dem Vogelgezwitscher. »Ich hab Geburtstag, also bestimme ich die Reihenfolge! Yoongi-yah... willst du als Erster?«
Yoongi zuckte unter der plötzlich wiedergekehrten Aufmerksamkeit aller unfreiwillig ein wenig zusammen. »Ich... ich weiß keine guten Spiele...«
»Hockst du sonst nur zuhause in deinem Zimmer oder wieso kennst du keine?«, fragte Jun. Wahrscheinlich meinte er es nicht einmal böse, doch für Yoongi war es trotzdem wie ein Schlag mit der Faust. Ja, er saß sonst nur zuhause rum. Es gab ja außer Namjoon und seiner Familie nicht wirklich jemanden, der ihn dazu animierte, nach draußen zu gehen. Das wollte er vor diesen Jungs aber natürlich nicht zugeben.
»Mir fällt einfach gerade keins ein«, verteidigte er sich mit einem angespannten Kribbeln unter der Haut und schob seine Hände in die Taschen seiner Jeans. »Ihr kennt bestimmt Bessere... Hyung, wieso lässt du nicht jemand anderen zuerst aussuchen?«
Namjoon wirkte überrascht, zuckte dann jedoch mit den Schultern. »Okay, dann sucht eben Jun zuerst aus.«
»Versteck-Fangen«, antwortete dieser prompt und mit einem breiten Grinsen. »Aber nicht nur im Garten, auch im Wald.«
Yoongi schielte zu seinem besten Freund hinüber. Dieser dachte einen Moment über den Vorschlag nach und nickte dann.
»Okay, dann lasst mal alle zusammen Kai-Bai-Bo spielen. Der Verlierer muss als Erster suchen, wer zuerst gefangen wird, kommt danach und so weiter...«
~⋆☽ ❊ ☾⋆~
Yoongi war überrascht von sich selbst. Nicht nur von der Tatsache, dass er sogar in einem Glücksspiel wie Kai-Bai-Bo nicht als Verlierer hervorging, sondern auch davon, dass er in der ersten Runde nicht als Erster gefunden wurde. Vielleicht kam ihm dabei die Tatsache zugute, dass er schon viele Male mit Namjoon alle Winkel des Gartens und des Waldrands ausgekundschaftet hatte. Es fiel ihm leicht, eine kleine Auswahl von guten Verstecken festzulegen.
In der zweiten Runde entschied er sich für das Gewächshaus. Vielleicht nicht der beste Ort, wenn man nach einem möglichen Auffliegen wegrennen musste, doch Yoongi traute sich durch seine schmale Figur zu, zwischen den Blumentöpfen entwischen zu können. Allerdings hatte er die Rechnung nicht mit Jun gemacht. Der schien nämlich ähnliche Pläne wie er zu haben.
»Lass uns einfach hinter die beiden Kübel hocken, da passen wir beide hin«, schlug er zu Yoongis Überraschung vor und winkte ihn in geduckter Haltung zu der Stelle, die er meinte. Es wäre zu diesem Zeitpunkt ohnehin für jeden von ihnen zu spät, sich ein neues Versteck zu suchen. Mireu war bereits fast durch mit dem Zählen.
Für eine Weile saßen Yoongi und er einfach nur nebeneinander und lauschten. Jun war schlau genug gewesen, die Tür des Gewächshauses leise hinter sich zu schließen, weswegen er sich nun, nach zwei Minuten völliger Stille auch sicher genug fühlte, in flüsterndem Ton zu sprechen.
»Also...du kennst Namjoon aus der Schule? Du bist noch auf der Elementary School, oder?«
»Ich kenne ihn seit dem Kindergarten«, erwiderte Yoongi schüchtern. »Und ja...aber nächstes Jahr komm ich auf die Middle School.«
Jun grinste. »Dann bist du ja echt das Maknae.«
Der Zwölfjährige wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Es fiel ihm oft schwer, Gespräche mit anderen aufrechtzuerhalten, wenn er sie schlecht kannte. Besonders dann, wenn er sie irgendwie auch gar nicht kennen wollte. So sehr er sich auch danach sehnte, mehr Freunde als nur Namjoon zu haben, so schwer fiel es ihm dann in den Situationen, in denen sich ihm eine Möglichkeit eröffnete. Aber was sollte er auch über sich erzählen? Was sollte er fragen? In Yoongis Kopf herrschte bloß gähnende Leere.
»Stimmt es eigentlich echt, dass du gar keine Konsole hast?«, nahm stattdessen Jun wieder die Konversation auf und musterte ihn dabei genau.
»Ich... ich darf manchmal an den Computer meines Vaters...«
»Sind deine Eltern arm oder so? Oder warum kaufen sie dir keinen eigenen?«
»Nein... ich glaube nicht, dass wir –«
»Naja, wenn sie dir weder eine Konsole noch einen Computer kaufen können, heißt das schon, dass ihr irgendwie arm seid.«
Yoongi starrte Jun mit steinerner Miene an. Er wusste wieder nicht, was er darauf sagen sollte. Seine Mutter hatte immer gesagt, dass sein Appa als Arzt genug verdiente. So viel jedenfalls, dass sie nicht auch auf Vollzeit arbeiten musste und die Zeit nutzen konnte, um sich um ihn und seinen kleinen Bruder Geumjae zu kümmern. Aber stimmte das wirklich? Würden sie ihm nicht auch einen Nintendo kaufen, wenn es wirklich so wäre?
»Psst, ich glaube, da kommt jemand«, zischte Jun plötzlich und sie duckten sich beide unwillkürlich.
Tatsächlich wurde in diesem Moment die Tür zum Gewächshaus geöffnet. Yoongi konnte durch die Blätter hindurch die Silhouette einer Person erkennen, die langsam ihren Weg rechts an den Blumenkübeln vorbei einschlug. Schnell drehte er sich zu Jun herum, um ihm anzudeuten, dass sie gleich in seine Richtung flüchten mussten. Er erschrak sich fürchterlich, als er bemerkte, dass dieser schon aufgesprungen war und bereits zum Rennen ansetzte.
»HIER HINTEN, JAESUNG-AH!! VERSCHON MICH UND SCHNAPP DIR DEN ANDEREN!«
~⋆☽ ❊ ☾⋆~
Yoongis Handflächen bebten, während er sie sich auf die Augen drückte. Seine Stimme konnte die Geräusche und das sich entfernende Gekicher um ihn herum nicht wirklich übertönen. Die Stille, die relativ bald einkehrte, war jedoch erdrückend. Er wollte nicht suchen. Erst recht nicht, nachdem Jun ihn so gemein an Jaesung ausgeliefert hatte.
Als er mit dem Zählen fertig war, überlegte er sogar für einen Moment, es einfach sein zu lassen. Einfach nach drinnen zu gehen und Namjoons Mutter zu sagen, dass sie ihm das Haustelefon geben sollte. Aber die Enttäuschung seiner eigenen Eomma wollte er sich ersparen. Er hasste es, wenn sie ihn mit diesem mitleidigen Blick betrachtete. Sie verstand doch sowieso nie, was wirklich abging und hielt ihn noch für ein kleines Kind. Dabei war er doch alt genug, um zu entscheiden, was er wollte und was nicht!
Mit ein wenig mehr Motivation straffte Yoongi die Schultern und marschierte los über den Rasen. Vielleicht, wenn er nur schnell genug jemanden erwischte, würde er den Jungs beweisen können, dass er zu etwas zu gebrauchen war. Dass es sich bei ihm nicht nur Namjoons komischen Kumpel aus Kindergartenzeiten handelte, den sonst keiner kannte und der keine Ahnung von Computerspielen und Pokémon hatte. Ja, er würde sich einfach ganz viel Mühe geben und heute Abend sogar seiner Mutter vorhalten können, dass er es geschafft hatte.
Yoongis erster Instinkt trieb ihn zum Waldrand. Dort hatte er das letzte Mal Geräusche wahrgenommen. Und da! War das nicht gerade ein Knacken im Dickicht gewesen?
Ohne groß darüber nachzudenken, rannte er los. Er rannte und rannte, bis er an dem Ort ankam, den er angesteuert hatte. Das Baumhaus, das Namjoon einst zusammen mit seinem Vater gebaut hatte, thronte vor ihm in einer Eichenkrone. Ein triumphierendes Lächeln huschte über seine Lippen, als er eine Bewegung hinter den Fenstern wahrnahm. Da hatte er wohl jemand in die Enge getrieben.
»Hey, ich hab dich!«, rief Yoongi hinauf und sah sich dabei nach der Hängeleiter um – dem einzigen Weg in und aus dem Baumhaus. »Komm runter oder ich komm hoch!«
»Ach ja, du kommst hoch?«, hörte er die ihm inzwischen bekannte Stimme von Jun, gepaart mit einem irren Kichern. »Und wie willst du das bitte anstellen?«
Das Lächeln rutschte von Yoongis Gesicht, als erst einer, dann drei und schließlich vier Köpfe auf ihn herabblickten. Jun, der am breitesten von allen grinste, hielt dabei die zusammengerollte Leiter in die Höhe und winkte fröhlich zu ihm nach unten.
»Tja, sieht so aus, als wird das nichts mit Fangen«, lachte Mireu und beugte sich dabei so weit er konnte über die Brüstung.
»Hey, das ist ungerecht!«, versuchte sich Yoongi mit einem wütenden Fußstampfen Gehör zu verschaffen. »Wir können nicht zu Ende spielen, wenn ihr nicht da runterkommt!«
»Müssen wir doch auch gar nicht«, antwortete ihm Kaito achselzuckend. »Du hast einfach verloren. So ist das halt.«
»Aber das ist nicht fair!«
»Es wäre auch nicht fair, dich hochzulassen. Hier dürfen nur Leute hoch, die cool sind. Aber du hast nicht mal einen Nintendo und spielst wahrscheinlich lieber mit Puppen. Zumindest hat mir das einer aus deiner Klasse erzählt!«
Yoongi spürte, wie sich alles in seinem Inneren zusammenzog. Deswegen waren sie so gemein zu ihm? Weil Jun bereits mit jemandem aus seiner Klasse geredet hatte? Weil seine Antworten nur noch einmal Bestätigung für sie gewesen waren, in dem, was sie bereits über ihn gedacht hatten?
»Das stimmt aber nicht!«, verteidigte er sich wütend und kämpfte mühsam die bereits in seinen Augen brennenden Tränen zurück. Wo war eigentlich Namjoon? War er auch oben bei den anderen und zu feige, sich zu zeigen? Warum ließ er zu, dass seine Freunde sowas mit Yoongi machten?
»Aber was machst du denn sonst den ganzen Tag? Wenn du so viel Zeit mit Lernen verbringen würdest, wärst du doch sicher auch besser in der Schule, oder?«
»Ich bin gut in der Schule!«
»Echt? Da haben wir aber anderes gehört...«
Die Jungs wechselten Blicke und nickten sich kichernd zu, ehe ihre Aufmerksamkeit wieder zu Yoongi wanderte.
»Was auch immer, Maknae... Wir haben uns beraten und beschlossen, dass wir dich hochlassen. Vorausgesetzt, du bestehst unsere Aufnahmeprüfung.«
Yoongi hätte ihnen gerne erzählt, dass sie ihn mal am Arsch lecken konnten. Dass er mit Namjoon schon Jahre bevor sie ihn überhaupt gekannt hatten in diesem Baumhaus gespielt hatte. Aber der Teil von ihm, der akzeptiert werden wollte, war in diesem Moment stärker. Jener Teil wollte mit glänzenden Augen über all jene Gemeinheiten hinwegsehen und diesen älteren Jungs mit allen Mitteln beweisen, dass er es wert war, dazuzugehören.
»Okay... W-was soll ich tun?«, fragte Yoongi deshalb unsicher.
Juns Grinsen wurde breiter. »Einfach nur stillhalten.«
In diesem Moment erschienen die Hände der anderen und alle hielten sie eine Wasserflasche. Jene Flaschen, die Namjoons Mutter ihren Sohn dort oben immer im Übermaß lagern ließ, dass er auch ja immer genug trank. Nun jedoch ergoss sich der Inhalt jener Plastikbehälter in vier dicken Strahlen auf Yoongi herab und durchnässte innerhalb vom Bruchteil einer Sekunde seine Haare, seine Kleidung und seine Schuhe.
Der Schock hinderte Yoongi daran, zurückzuspringen. Er blieb zitternd und keuchend an Ort und Stelle stehen, bis jeder der vier Jungs seine Flasche komplett über ihm ausgeleert hatte. Ihr Grölen und Gackern angesichts ihres Streichs wurde in seinen Ohren von einem grellen monotonen Piepen übertönt. Mit einem Mal stockte sein Atem und sein Blick verschwamm vor seinen Augen, als die Realisation langsam in seinem Kopf durchsickerte – genau wie das Wasser stetig von seinem ganzen Körper auf den ohnehin schon nassen Waldboden tropfte.
Yoongi schaffte es gerade noch so, sich auf dem Absatz umzudrehen und loszurennen, bevor die ersten Schluchzer aus seinem Mund entwischten. Zweimal stolperte er fast über eine Wurzel, weil er vor lauter Tränen fast nichts sehen konnte und als er das Haus erreichte, war es noch lange nicht besser geworden. Er stürzte halb blind in die Wohnung der Familie Kim und tastete im Flur nach dem an der Wand angebrachten Telefon, mit dem er schon so oft seine Mutter angerufen hatte. Auch nun hatte er nicht vor, eine andere als ihre Nummer zu wählen.
»Yoongi-yah? Was ist passiert?!«
Yoongi rutschte vor Schreck der Hörer aus der Hand, so dass dieser gleich einem Bungee-Springer am Kabel auf und ab sprang. Namjoon war aus der Küche in den Flur gestürmt. Seine Hände steckten in viel zu großen Backhandschuhen. Offensichtlich schien seine Mutter ihn zwischendurch zum Helfen ins Haus geholt zu haben. So erleichternd der Gedanke allerdings auch war, so wenig konnte sich Yoongi gerade daran erfreuen. Hier stand er vor seinem besten Freund, klatschnass von oben bis unten und verheult wie ein kleines Kind. Er wollte Namjoon nicht erzählen, was passiert war. Dann müsste er sich auch noch die Blöße geben und mit dem kläglichen Rest an Stimme sprechen, der ihm noch geblieben war.
»Hey...waren das die anderen?! Was haben sie mit dir gemacht?«
Namjoon hatte die Backhandschuhe rücksichtslos auf den Boden geworfen und war in Windeseile hinüber zu seinem besten Freund geeilt. Als seine Hände nach Yoongis Oberarmen griffen, konnte dieser sich nicht weiter zurückhalten. Erneut entglitt ihm ein Schluchzen, das er nicht mit der Hand, die er sich zeitgleich auf den Mund presste, ersticken konnte.
»Namjoon-ah? Ist alles in Ordnung bei dir?«, rief Namjoons Mutter in diesem Moment misstrauisch aus der Küche.
»Ja, alles gut, Eomma«, gab ihr Sohn schnell zurück. »Ich muss nur kurz was erledigen, bin gleich wieder da!«
Ehe Yoongi sich versah, hatte Namjoon seinen Arm um seine Schulter gelegt und ihn in Richtung seines Zimmers geschoben. Er schloss die Tür hinter ihnen mit dem Schlüssel ab.
»Ich geb dir ein paar von meinen Klamotten, ja?«, sagte er und begann sofort damit, in seinem Kleiderschrank herumzuwühlen. »Willst du mir dann, wenn du dich umgezogen hast, sagen, was die anderen gemacht haben? Oh man, ich hab ihnen tausendmal gesagt, sie sollen nicht auf den Mist hören, den die aus deiner Klasse rumerzählen. Die sind so bescheuert, ehrlich!«
»D-du bist trotzdem mit denen befreundet«, schniefte Yoongi, als er das frische T-Shirt entgegennahm. »Obwohl sie bescheuert sind.«
Namjoon warf die restlichen Kleidungsstücke energisch aufs Bett und verschränkte die Arme vor der Brust. Für einen kurzen Moment dachte Yoongi, er würde seine Kumpels vor ihm verteidigen. Namjoons grantiger Blick richtete sich jedoch nur aus seinem Fenster, von dem aus man den Waldrand sehen konnte.
»Ich will mit denen nicht meinen Geburtstag feiern, wenn sie nur scheiße zu dir sind«, stellte er entschlossen fest, ohne die Augen von den Bäumen abzuwenden.
»Aber sie hatten bestimmt auch bessere Geschenke als ich...«
»Ist doch gar nicht wahr!«
»Aber du hast das Buch sofort weggelegt...«
Namjoons Wangen färbten sich rosa und ein peinlich berührter Schimmer trat in seine Augen. »Ich...ich fand es toll, wirklich! Ich wollte nur nicht...«
»Du wolltest nicht, dass sie dich damit aufziehen, dass du Pflanzen und Tiere magst?«, fragte Yoongi angesäuert und wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht.
Sein bester Freund senkte betreten den Kopf. »Tut mir leid...ehrlich... Aber ich fand das Buch wirklich gut, okay? Du hast mir wenigstens was geschenkt, was ich mag...die anderen nur das, was eben jeder gerade mag.«
»Trotzdem kannst du sie jetzt nicht alle wegen mir nach Hause schicken«, murmelte Yoongi und schälte sich aus seiner ekelhaft klebenden Hose. »Ich ruf einfach meine Mutter an und lass mich abholen...«
»Nein, das wirst du nicht!«, rief Namjoon empört und baute sich dabei ungeachtet der Tatsache, dass Yoongi im Moment nur eine Boxershorts trug, vor ihm auf. »Ich hab meiner Mutter gerade dabei geholfen, Bungeoppang zu machen. Wir sagen ihr einfach, wir bringen sie zu den anderen, aber gehen stattdessen heimlich zum Bach! Den Weg dahin kennen nur wir zwei.«
»Aber Hyung, deine Mutter wird furchtbar sauer sein, wenn du das machst...«
Namjoon biss sich auf Lippen und sah zu Boden. Yoongi wusste, dass er sich eigentlich nie gegen die Regeln seiner Eltern stellte und dieses Argument ihm nun schwer zu denken gab. Dann jedoch reckte er sich erneut zu seiner vollen Größe auf.
»Mir egal. Zieh dich an und dann hauen wir ab. Ich will nur noch mit dir meinen Geburtstag feiern... Mit dir und vielleicht noch ein paar Krebsen.«
~⋆☽ ❊ ☾⋆~
Der angenehme Duft von sich langsam dem Herbst hingebenden Blättern lag in der Luft. Erdig und süßlich wie Moschus gab er der Nacht eine fast schon friedliche Note, als wäre nicht wenige Kilometer das Zentrum einer der größten Metropolen der Welt. Die Idylle der Parkanlage wurde nur von den Rauchschwaden gestört, die Yoongi mit dem eisernen Willen ausstieß, endlich ein paar Ringe zu erzeugen. Er lag schon eine gute Weile hier und versuchte das. Vielleicht war er zwischenzeitlich auch mal eingedöst, aber bestimmt nicht lange. Und vielleicht hatte er es währenddessen auch endlich geschafft, zu verdrängen, was ihn überhaupt hierhergeführt hatte.
Yoongi wusste nicht, wieso er ausgerechnet jetzt an Namjoons dreizehnten Geburtstag hatte denken müssen. Vielleicht hatte seine berühmt-berüchtigte unterbewusste Selbstablenkungstaktik dazu geführt, vielleicht war es aber auch nur der hier so präsente Duft des Waldes gewesen, der sich kein bisschen von dem in Daegu unterschied.
Sie waren damals tatsächlich mit den Armen voller Bungeoppang – koreanische Waffeln in Fischform, gefüllt mit süßer Bohnenpaste – zum kleinen Bach gerannt, der durch das Waldstück in der Nähe vom alten Grundstück seiner Familie floss. Namjoon hatte den Anschiss seiner Eltern und den Groll seiner Freunde in Kauf genommen – für Yoongi. Auch heute nahm er vieles für ihn in Kauf... Wenn man aber genauer darüber nachdachte, zu wesentlich weniger heroischen Zwecken. Die mutigen Regelbrüche, die früher damit begonnen hatten, seinen besten Freund zu schützen, waren in etwas übergegangen, das nur dazu diente, Yoongi den Ärger zu ersparen, den er eigentlich verdiente. Sie waren keine lachenden Kinder mehr, die sich mit verschmierten Mündern zwischen Schilf vor den bösen Eltern und fiesen Klassenkameraden versteckten. Vielmehr der Junge, der sich kontinuierlich mit Drogen betäubte und sein nach wie vor bester Freund, der ihm dabei half, seine Sucht vor seinem Vater zu verstecken – so lange jedenfalls bis ihm wieder nichts übrigbleiben würde, als ihn mit einer weiteren Überdosis erneut in die Notaufnahme zu tragen.
Yoongi war so eingenommen von der melancholischen Leere, die diese Gedanken in ihm verursachten, dass er die sich nähernde Gestalt erst bemerkte, als es bereits zu spät war. Sie brachte ihn mit einem gezielten metaphorischen Schlag in die Magengegend wieder in die Realität zurück. Verdammt, Yoongi hatte sie nicht vermisst.
»DU!«, brüllte Jimin und fuchtelte dabei mit seiner Hand herum. Mit der freien, in der er nicht gerade eine fette Mülltüte trug. »Warst du die ganze Zeit hier? Ist das dein scheiß Ernst?!«
Yoongi richtete sich aus seiner liegenden Position auf und konnte sich dabei ein Ächzen nicht verkneifen. Er hatte nicht beachtet, was so ein paar Holzplanken einer Parkbank dem Rücken auf Dauer antun konnten. Zumal der Joint, den er vor nicht allzu langer Zeit etwas abseits der Wege geraucht hatte, ihn auch überempfindlich für jeden Schmerz machte. Genau aus diesem Grund konnte er Jimin auch nichts weiter als ein Brummen mit einem Fragezeichen dahinter entgegenbringen.
»Ich dachte echt, du hättest dich nach Hause verpisst«, schnaubte dieser voller Wut, als er dicht vor Yoongi zum Stehen kam und damit auch den Müllbeutel auf den Boden pfefferte. »Aber dass du hier seit Stunden rumchillst, ist ja wohl echt der Gipfel. Was ist dein verficktes Problem? Ich hab den ganzen Mist alleine machen müssen! Und dass ich jetzt schon mit Aufräumen fertig bin, liegt auch nur daran, dass mir irgend so ein Typ vom Nachbarstand geholfen hat. Ich wollte eigentlich noch auf 'ne Party, du ignoranter Arsch.«
»Wie spät ist es?«, fragte Yoongi tonlos. Ihm war immer noch schwindelig vom Aufrichten und aus den dunklen Bäumen hinter Jimin taten sich seltsame formlose Gestalten hervor. Er konnte sich kaum darauf konzentrieren, dass sein Standpartner wohl kurz davor war, ihm eine zu scheuern. Warum hatte er sich auch ausgerechnet hier eine Bank gesucht? Hier, wo jeder ihn aus der Ferne ausmachen konnte, der auf dem Weg zu den verdammten Mülltonnen war.
»Zu spät, Dreckskerl«, erwidert Jimin voller Verachtung und verschränkte die Arme vor der Brust. »Denkst du wirklich, du kannst mir jetzt mit irgend so einer Scheiße kommen wie, dass du die Zeit vergessen hast?!«
Yoongi gab ein leises, schmatzendes Geräusch von sich. »Wer sagt, dass ich mich bei dir rechtfertigen will?«
Jimin klappt empört der Mund auf. »Was zum... Willst du mich eigentlich verarschen? Was zur Hölle ist dein Problem mit mir, hm? Was hab ich dir getan, dass du dich so unfassbar widerlich aufführst, obwohl ich dir nur helfen wollte? Ist es nur wegen deines Handys? Ganz ehrlich, ich hätte dir die verdammte Reparatur ohne Umschweife bezahlt, aber nach der Aktion und deinem ganzen Getue kannst du mich echt mal am Arsch.«
»Ich brauch deine Almosen nicht. Und um deine Hilfe hab ich nie gebeten.«
»Schön, werde ich mir für die Zukunft vormerken! Genau wie ich mir in meinem Kalender notieren werde, vor unserem netten Professor eventuell zu erwähnen, dass eine gewisse Person nur ein Drittel der Zeit am Stand anwesend war.«
Yoongis Blick zuckte wieder zu Jimin. »Wie bitte...?«
»Ja, du hast mich schon richtig verstanden«, erwiderte Jimin und seine Mundwinkel deuteten ein kaltes Lächeln an. »Denkst du, ich bin bescheuert und weiß nicht, dass Kim Sungho-nim dich dazu verdonnert hat?«
Es war, als würde jemand in zunehmendem Tempo Säure auf Yoongis Eingeweide träufeln. Er fühlte sich nicht mehr fähig, etwas zu erwidern. Stattdessen saß er einfach nur noch wie versteinert da und ließ zu, dass die Zigarette in seiner Hand gnadenlos bis auf den Filter herunterbrannte. Jimin sah angesichts des Anblicks, den er dabei abgab, sehr zufrieden mit sich aus.
»Ja... ja, ich glaube, das sollte ich wirklich tun«, überlegte er provokant laut und rieb sich mit den Fingern übers Kinn. »Wenn ich mich recht entsinne, hat der dich doch eh auf dem Kicker... Könnte eventuell ganz schön in die Noten für dich gehen, wenn's blöd läuft...«
Yoongi schmiss die Zigarette achtlos weg und funkelte Jimin bitterböse an. Er hatte seine Stimme wiedergefunden.
»Und das hast du wie rausgefunden? Lutschst du Kim in den Pausen heimlich den Schwanz oder was?«
Homophobie als Eigenschutz, das sah man gerne. Aber Yoongi hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Sein Hirn war bereits zu matschig von den Oxys und dem Gras, als dass er noch Angemessenes und Unangemessenes auseinanderhalten konnte.
»So weit müsste ich nicht gehen, um das zu bekommen, was ich will«, schnaubte Jimin verächtlich.
»Ach, du wolltest Infos zu mir? Willst du mir etwa den Schwanz lutschen oder was?«
»Ach, fick dich doch ins Knie, ganz einfach.«
Jimin wirkte nun wirklich so aggressiv, dass Yoongi sich ernsthaft für einen Schlag bereit machte. Doch dieser blieb aus. Stattdessen starrte ihn Jimin nur mit einem Todesblick nieder, der sich für Yoongi fast wirklich ein bisschen nach Sterben anfühlte. Er wollte Jimin packen und wissen, wie seine Lippen geladen mit all diesen Emotionen schmeckten. Gleichzeitig wollte er sich für diesen Gedanken selbst in einer Toilette ertränken.
»Sorry.«
Yoongi wusste nicht, was mit ihm falsch lief. Natürlich grenzte es an kompletten Wahnsinn, zu glauben, dass diese mickrige Entschuldigung irgendetwas anderes als peinlich war. Dennoch brachte sie es fertig, Jimin zumindest für ein paar Sekunden völlig aus der Fassung zu bringen. Dann verzog sich sein makelloses Gesicht (das selbst wütend einfach nur hinreißend aussah) zu einem angewiderten Ausdruck.
»Ist das jetzt... dein scheiß Ernst?«
Yoongi fuhr sich nur mit der Zunge über die Lippen und zog eine weitere Zigarette aus der Schachtel, die halb aufgeraucht neben ihm lag. Was sollte er dazu schon noch groß sagen?
Jimin gab schlussendlich ein empörtes Grunzen von sich. »Also du denkst jetzt wirklich, damit wäre es getan? Damit?!«
Yoongi verdrehte genervt die Augen. »Was willst du denn noch? Sorry, ich hab die Zeit vergessen und bin schon seit Tagen so von deinen Arschgeigen-Freunden genervt, dass es mich echt nur bedingt zu diesem Stand zurückgezogen hat. Sorry, dass ich mir ungern gebe, wie Everybody's Darling neben mir einen auf Regenbogen-Pony-Land macht, wenn ich mich am liebsten einfach nur erschießen würde. Sorry, dass ich ein unausstehlicher Arsch bin, mit dem aus gutem Grund so gut wie keiner befreundet ist. Reicht das?«
Es hatte ihn eine unheimliche Mühe gekostet, die Sätze ohne Versprecher aneinanderzureihen. Kein Wunder, so wie sie gerade aus Yoongi herausgebrochen waren. Nun fühlte er sich noch einmal minderwertiger. In etwa so, wie ein zerknülltes Blatt Papier, bei dem man sich noch nicht einmal die Mühe gemacht hatte, den Mülleimer beim Werfen zu treffen.
»Du... was?«
»Du hast mich schon richtig verstanden«, äffte Yoongi ihn nach und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Sein Hals war vom ganzen Kettenrauchen inzwischen sehr angeschlagen und er musste sich zusammenreißen, um keinen Hustenanfall zu erleiden.
Jimin dagegen schien völlig aus dem Konzept gerissen. Vielleicht hatte er sogar vergessen, dass er sich gerade eigentlich noch heftig aufgeregt hatte. Nun starrte er Yoongi einfach nur an, als wäre dem plötzlich ein zusätzlicher Kopf gewachsen.
»Du... du...«
»Was?«, blaffte Yoongi und ließ dabei fast die Zigarette fallen, die zwischen seinen Lippen steckte. Seine Hände hatte er zeitweilig unter seine Schenkel geschoben. Hauptsächlich, um das Zittern zu kaschieren.
Jimin zögerte, schnaubte dann jedoch, wenn auch wesentlich weniger angepisst als zuvor. »Denk ja nicht, dass ich das damit jetzt einfach unter den Tisch fallen lasse...«
»Habe ich nicht von dir erwartet. Immerhin werde ich dir meine demolierte Handyscheibe auch nicht in naher Zukunft verzeihen.«
»Schön, kann ich mit leben.«
»Dito.«
Es folgte ein angespannter Blickwechsel, dem gleichzeitig eine gewisse Endgültigkeit innelag. Yoongi konnte seine Hände wieder unter seinen Schenkeln hervorziehen. Sie zitterten nicht mehr.
Jimin, dem die Stille wohl zu unangenehm wurde, warf ein wenig unbeholfen den Kopf zurück. »Du weißt schon, wie scheiße ungesund Rauchen ist?«
»Ja«, antwortete Yoongi trocken und nahm einen demonstrativ tiefen Zug. »Ich sterbe gerne möglichst früh, langsam und qualvoll.«
Jimin rümpfte die Nase, als hätte er ihn persönlich mit dieser Aussage beleidigt. »Schön... aber falls du nicht schon direkt an einer Lungenentzündung krepieren willst, solltest du vielleicht auch nach Hause gehen. Das Fest ist quasi vorbei und es fährt bald kein Bus mehr.«
Yoongi zog eine Augenbraue hoch und fragte erneut: »Wie spät ist es?«
»Kurz vor Mitternacht«, erwiderte Jimin bissig und mit einem Blick auf seine Apple-Watch. »Was auch bedeutet, dass ich meinen letzten Bus verpasst habe und ein Taxi nehmen muss. Vielen Dank auch.«
Yoongi konnte sich nur schwer zusammenreißen, nicht verwirrt den Kopf zu schütteln. Hatte er wirklich mehrere Stunden auf dieser verdammten Drecksbank verbracht? Vielleicht sollte er es wirklich für heute gut sein lassen. Erst jetzt wurde ihm wirklich bewusst, was er da eigentlich gerade getan hatte... und damit einher ging der Ansatz eines schlechten Gewissens.
»Wolltest du zu Jongins Party?«, fragte er möglichst beiläufig.
Jimins Augenbrauen zogen sich zusammen, dann nickte er jedoch langsam.
»Jongins Wohnung... Sie ist nicht so weit weg von hier. Vielleicht zwanzig Minuten zu Fuß.«
Jimin verzog irritiert das Gesicht. »Ich soll jetzt noch zu der Party?«
»Jongins Feiern beginnen immer sehr spät und dauern sehr lange«, erwidert Yoongi achselzuckend. Die Trägheit hatte ihn nun wieder vollkommen im Griff und verhinderte, dass seine Gedanken geordnet abliefen. Trotzdem bekam er noch mit, wie sich eine Spur von Unsicherheit auf Jimins Gesicht verirrte.
»Gehst du da jetzt etwa auch noch hin oder was?«
»Wenn ich vorgehabt hätte, dort hinzugehen, hätte ich das wohl schon längst getan.«
Yoongi war sich halbwegs darüber bewusst, dass er gerade wie ein kompletter Volltrottel rüberkommen musste. Er war hier auf dieser Bank eingepennt, statt einfach nach Hause zu gehen, nur um sich dann auch noch von genau der Person erwischen zu lassen, vor der er sich mitunter versteckt hatte. Jimin musste ihn nun sicher für vollkommen bescheuert halten. Vielleicht war die Angst vorm Eintreten dieses Falls auch der Grund dafür, weshalb ihm die nächsten Worte relativ unüberlegt über die Lippen purzelten.
»...solltest du aber den Weg nicht finden, kann ich dich auch dort hinbringen.«
Jimins Mundwinkel wanderten nach unten. »Soll das jetzt ein schlechter Versuch sein, irgendwas wieder gutzumachen?«
Yoongi warf die Zigarette zu den anderen, die sich bereits neben ihm häuften und stand von der Bank auf. Dass diese schwungvolle Bewegung nicht die beste Idee gewesen war, zeigte sich in der Schwindelattacke, die ihn daraufhin übermannte. Er schaffte es gerade noch so, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Jimin sah er für einige Sekunden trotzdem nur komplett verschwommen.
»Weißt du was?«, stieß er mühsam hervor und griff ungelenk nach seinen Habseligkeiten. »Schau einfach selbst, wie du hinkommst. Deine tollen Freunde werden dich ja bestimmt dirigieren können, wenn sie ihre Handys nicht bereits in irgendeiner Bowle versenkt haben.«
Yoongi drängte sich an Jimin und dem Müllsack vorbei und musste sich dabei so heftig darauf konzentrieren, wie Gehen eigentlich funktionierte, dass er es wahrscheinlich alles andere als natürlich aussehen ließ. Allerdings kam er ohnehin nicht besonders weit. Jimins glockenhelle Stimme durchschnitt die Nacht bereits nach seinem fünften erfolgreichen Schritt.
»Warte! Aber... aber was ist dann mit dir?«
Yoongi drehte halbherzig den Kopf zu ihm herum. »Was soll mit mir sein?«
Jimin scharrte ein wenig mit den Füßen. »Ich meine, gehst du dann nur mit mir da hin, um mich abzusetzen? Oder kommst du noch mit auf die Party?«
»Was interessiert dich das? Da ist doch eh dein ganzer Squad.«
»Ja, aber...«
Jimin schien selbst nicht so ganz so wissen, was er eigentlich dachte. Yoongi konnte es ihm noch nicht einmal verübeln. Er wäre auch nur irritiert, wenn er sich selbst einmal persönlich begegnen würde. Besonders dann, nachdem ihm die Worte aus dem Mund purzeln würden, die genau in diesem Moment auch in der Realität seine Lippen verließen.
»Scheiß drauf, ich bring dich einfach hin. Und wenn du mir auf dem Weg 'nen guten Grund nennen kannst, bleib ich vielleicht auch auf einen Drink.«
~⋆☽ ❊ ☾⋆~
☽ 𝐚𝐮𝐭𝐡𝐨𝐫'𝐬 𝐧𝐨𝐭𝐞 ☾
Ich wusste schon immer, dass ich schlecht darin bin, Streitszenen zu schreiben, aber diese Szene hat mir das nochmal in vollem Ausmaße aufgezeigt XD Was ihr hier gelesen habt, hat mich bestimmt drei Nervenzusammenbrüche und zwei Wochen gekostet, zusammen mit dem, was noch im nächsten Kapitel folgt.
Wie auch immer! Ich komme gerade ganz gut voran, was mitunter an der Schreib-Challenge liegt, die ich auf Instagram ins Leben gerufen habe – in Gedenken an -ouiunautrenom-s letztjährige Februar-Challenge. Wer selbst Interesse daran hat, mitzumachen, kann mir gerne auf Instagram schreiben :) Mein Profilname dort ist dreizehn_fiction.
As always würde ich mich über eure Gedanken zum Kapitel freuen. Wie schätzt ihr inzwischen Jimin ein? Welche Gefühle ruft der Yoongi von heute und damals inzwischen in euch hervor? Und wie würdet ihr die Freundschaft zwischen Namjoon und ihm nun bewerten?
Have a very beautiful weekend ♡
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top