chapter 20 - seaside

track no. 20
𝙁𝙤𝙡𝙡𝙤𝙬 𝙔𝙤𝙪 𝘣𝘺 𝘽𝙧𝙞𝙣𝙜 𝙈𝙚 𝙏𝙝𝙚 𝙃𝙤𝙧𝙞𝙯𝙤𝙣



YOONGI WUSSTE, wohin die Reise ging, ohne Jimin einmal danach gefragt zu haben. Schon als er mit dem etwas in die Jahre gekommenen Kia Picanto von Seoul hinaus auf den Gyeongbu Gosokdoro aufgefahren war – einen Expressway, der den Norden mit dem Süden der südkoreanischen Halbinsel verband.

Sie hatten während der langen Fahrt nicht viel geredet. Die Städte, die sich in die Täler der zahlreichen Bergketten schmiegten, waren nicht minder grau, doch besaßen sie blauere Himmel – zumindest so lange, wie die Sonne noch auf sie schien. Yoongi hatte sie an den Fenstern des silbernen Kias vorbeiziehen sehen, genauso wie die vielen Flüsse und Seen, umgeben von bunt-gefärbten Bäumen und vom Spätsommer verbrannten Wiesen. Auch Daegu hatte er in der Ferne ausmachen können, als die Dunkelheit schon längst über sie hereingebrochen war. Aber es war nicht ihr Ziel gewesen... ein Glück nicht.

Jimin hatte den Wagen weiter gen Süden gesteuert, seine Brille, die er zum Fahren brauchte, auf der Nase und summend zur Musik, die er über die integrierte Anlage per Kabel abspielte. Bei manchen seiner geliebten Oldies hatte er sogar leise mitgesungen. Nie zu laut, um seinem Beifahrer die Möglichkeit zu lassen, zu schlafen. Doch der hatte kein einziges Mal ein Auge zugetan.

Yoongi wusste nicht so recht, ob er sich nun besser fühlte, wo er Seoul vorerst hinter sich gelassen hatte. Es hatte auch bedeutet, die Suche endgültig aufzugeben. Zu akzeptieren, dass Bomi weg war. Es hatte sich definitiv nicht gut angefühlt, Namjoon mit dem Vogel, den Han und Minsu eigentlich ihm geschenkt hatten, einfach zurückzulassen – auch wenn dieser mehr als dafür gewesen war, dass Jimin Yoongi erst einmal mit sich nehmen hatte wollen. Aber ein bisschen war da schon etwas von ihm abgefallen, als er auf dem Highway in den Sonnenuntergang geschaut und realisiert hatte, was gerade passierte. Dass es Jimin war, der ihren Fluchtwagen aus der Stadt fuhr, weg von allem, was Yoongi gerade wie Dämonen verfolgte. Er hatte sich sogar noch bei einer kurzen Pause auf dem Rasthof Manghyang bei Cheonan darum gekümmert, dass Yoongi auf der Arbeit erst einmal aufgrund eines angeblichen »Familien-Notfalls« entschuldigt war. Er war auf alles vorbereitet, während Yoongi ihm nur dabei zusah und sich ständig fragte, wo er seinen unerschütterlichen Glauben an ihn hernahm. Wenn er nur wüsste, wie viel er ihm eigentlich verschwieg und wie oft er ihn angelogen hatte...

»Nicht mehr lange, dann sind wir da«, gab Jimin ihm zu verstehen, den Blick nicht von der Straße abwendend. Er war ein vorbildlicher Fahrer, vorbildlicher als Yoongi es wahrscheinlich je sein könnte.

»Ich glaube, ich hab kein Geld für ein Hotel.«

Es war der erste richtige Satz, den Yoongi seit Ewigkeiten bildete. Seine Stimme war heiser und brüchig. Der Schal, den Jimin ihm gegeben hatte, hatte nur bedingt geholfen, ihn vor einer Verschlimmerung seiner anhaltenden Erkältung zu bewahren.

»Mach dir darüber keine Sorgen«, winkte Jimin ab. »Meine Mutter hat mal bei Toyoko Inn in der Buchhaltung gearbeitet. Hat sie nur einen Anruf bei einer alten Kollegin gekostet, da ein Doppelzimmer für zwei Nächte zu organisieren.«

»Du hast ihr erzählt, dass du mit mir...?«

Jimins Mundwinkel zuckten. »Ich habe ihr gesagt, dass du jemanden verloren hast... und dass ich mit dir deswegen übers Wochenende wegfahren möchte. Mehr hat sie nicht hören müssen.«

»Ich dachte... keine Ahnung... dass sie mich nicht mag.«

»Wieso sollte sie dich nicht mögen?! Sie fragt mich ständig, wann du mal wieder vorbeikommst.«

Yoongi verzog das Gesicht. Der kleine Funke, den jene Worte in seiner Brust geschlagen hatten, hatte ihn erschreckt und geblendet. So wie einen die Lichtstrahlen blenden, wenn man zu lange im Dunkeln gesessen hat. Aber er war noch nicht bereit, sich ihnen zu stellen. Nicht, solange seine Augen sich nicht an die Helligkeit gewöhnt hatten. Nicht solange sein Körper ihm minütlich vorsagte, dass die Hälfte seines »Krankheitsgefühls« davon kam, dass er sich viel zu lange nichts reingepfiffen hatte. Er wusste, dass es die Benzos waren. Danach schrie sein Kopf jedenfalls am lautesten. Die Opiate allerdings könnten auch nicht ganz unschuldig sein. Fuck, er hatte in der letzten Woche wirklich viel zu viel von beidem genommen.

»Geht es dir soweit gut? Sollen wir nochmal anhalten?«

Jimin schien aus den Augenwinkeln gesehen zu haben, wie Yoongi seine Strickjacke enger um sich gezogen hatte. Es war nicht das erste Mal, dass er auf dieser auf die vier Stunden zugehenden Fahrt diese Frage stellte.

»Alles gut... Ich will nur schnell ankommen.«

Yoongi schluckte die aufkommende Übelkeit herunter und versuchte nicht zu oft darüber nachzudenken, dass er beim Packen auf die Schnelle nicht mehr viel zusammenkratzen hatte können. Ein Viertel Blister Xanax und zwei Oxys. Nicht genug. Wenn man betrachtete, was er die letzten Tage durch seine auf langfristige Sicht bereits aufgebauten Toleranzen gebraucht hatte, war das ein Hauch von Nichts.

Wenn er wirklich schon dabei war, körperlich von der Scheiße abhängig zu sein, versprach es, ein lustiges Wochenende zu werden. Ausgerechnet in seiner Lieblingsentzugsstadt Busan.


~⋆☽ ❊ ☾⋆~


Das Hotelzimmer war klein und besaß doch einen direkten Blick aufs Meer. Yoongi hätte sich gerne länger an dem Bild erfreut, das Jimin abgab, als er wie ein kleines Kind ans Fenster stürmte und mit zusammengekniffenen Augen den Haeundae-Strand in der Dunkelheit auszumachen versuchte, doch sein Weg führte ihn fast direkt auf die Toilette. Er schaffte es gerade noch, die Tür hinter sich abzuschließen und lautstark über sein Handy einen Song anzumachen, bevor er vor der Toilette auf den Boden fiel und sich aus vollstem Herzen in die Schüssel erbrach.

Das Trauerspiel hielt kaum mehr als zehn Sekunden an. Als es vorbei war, wischte sich Yoongi die Tränen aus den Augen und hielt die Luft an angesichts des Geruchs, der ihm entgegenschlug. Da war nicht mehr aus ihm herausgekommen als das klägliche Sandwich, welches Jimin ihm aufgezwungen hatte und Magensäure. Oh, und die überdeutlichen Spuren von Blut, die ihm nun metallisch auf der Zunge lagen und den Inhalt der Toilette in einem sanften rot färbten.

Es war kein Anblick, der Yoongi vollkommen aus der Bahn warf. Er hatte zu oft von Taehyung zu hören bekommen, dass Benzos – besonders in Kombination mit anderen Mitteln oder überdosiert – kleine Läsionen im Magen verursachen konnten und er deswegen vorsichtig damit umgehen sollte. Fast wäre ihm ein resigniertes Schnauben entwischt. Da hast du sie, die erste Rechnung. Solltest du jetzt nicht eher froh darüber sein, nur ein Armutszeugnis an Nachschub mitgenommen zu haben? Gerade genug, um mit dem Runterdosieren zu beginnen?

Nachdem Yoongi gespült und sich den Mund ausgewaschen hatte, kontrollierte er nochmal alles nach möglichen Spuren, die er hinterlassen haben könnte. Jimin durfte hiervon nichts erfahren. Er würde ihm nur die Hölle heiß machen und ihn sofort in ein nahegelegenes Krankenhaus schleppen. Oh, und er würde die ganze Wahrheit aus ihm rausquetschen und ihn dann für immer verlassen, weil er ein scheiß Junkie wie sein Vater war. Genau das würde er tun, also kein Grund, irgendwas zu überstürzen.

Yoongi stützte sich mit den nach wie vor zitternden Händen am Waschbecken ab und nahm einen tiefen Atemzug. Sein Magen ziepte etwas, doch es tat nicht mehr so weh wie zuvor. Das Kotzen hatte geholfen... und doch hatte es auch alles irgendwie schlimmer gemacht. Da war sie nämlich wieder, die Angst. Angst wovor eigentlich? Er war hier weg von allem, was ihn belastete, er war bei Jimin. Oh, Jimin...

»Hyung, ist alles in Ordnung? Bist du direkt duschen gegangen?«

»Nein, alles gut... Ich hab mir nur etwas den Magen verdorben...«

Yoongi klatschte sich eine letzte Ladung Wasser ins Gesicht, ehe er sich ein Herz fasste und wieder aus dem Badezimmer kam. Jimin wartete im kleinen Flur auf ihn, das Gesicht sorgenvoll verzogen. Yoongi wollte nicht, dass er ihn weiterhin so ansah... Er wollte es einfach nicht mehr.

»Alles okay, wirklich«, murmelte er erneut. »Ich glaube, ich muss einfach mal wieder richtig ausschlafen...«

Jimins Blütenblätterlippen deuteten ein zaghaftes Lächeln an. »Wir schlafen solange du willst.«

Yoongi ließ es über sich ergehen, dass Jimin ihn noch dazu brachte, sich mit ihm die Zähne zu putzen. Als sie die Schlafsachen aus ihren Taschen holten, wurde ihm allerdings zum ersten Mal bewusst, wie alleine sie gerade wirklich waren. Das letzte Mal, dass sie in einem Bett geschlafen hatten, war letztes Wochenende gewesen... das war auch das letzte Mal gewesen, dass sie sich geküsst hatten.

Yoongi wusste nicht, wie er nun mit der Situation umgehen sollte. An welchem Punkt standen sie nun? Waren sie noch immer da, wo sie aufgehört hatten oder waren sie ein paar Schritte rückwärts gegangen? War es okay, sich nun hier umzuziehen oder sollte er dafür lieber ins Bad?

Jimin nahm ihm diese Entscheidung ab, indem er sich keinen Meter von ihm entfernt das Longsleeve, das er den ganzen Tag getragen hatte, über den Kopf zog und ihm direkten Blick auf seine vernarbte Brust gewährte. Der Anblick traf Yoongi wie ein Schlag ins Gesicht, unerwartet und heftig. Dabei hätte er es doch ahnen müssen. Er hätte ihm klar sein sollen von dem Moment an, als er gewusst hatte, dass sie nach Busan fahren. Diese Wunden... Jimin hatte sie hier bekommen. Das hier war der Ort, an dem er selbst fast gestorben wäre. Der Ort, von dem er selbst vor nicht allzu langer Zeit geflohen war.

Yoongi traute sich nicht, ihn zu fragen, wieso er ihn ausgerechnet hierher gebracht hatte. Jimin hatte schon den üblen Geruch im Badezimmer nicht kommentiert und er wollte sein Glück für heute nicht überstrapazieren. Und außerdem... sollte er nicht vielleicht den Moment nutzen, um einfach mal durchzuatmen? Wie lange hatte er Jimin nicht mehr richtig angesehen? Zugelassen, dass er im Vordergrund stand, nicht Bomi oder die Drogen?

»Du starrst«, kommentierte Jimin mit einem gespielt vorwurfsvollen Schmollen und zog sich schnell ein weites graues Shirt über. »Hast du etwa vergessen, wie hässlich die Narben sind?«

Yoongi blinzelte und schüttelte schnell den Kopf. Der Schwindel, der ihm das bescherte, verhinderte jedoch, dass er zu einem Protest ansetzen konnte. Stattdessen sah er sich gezwungen, sich auf dem weiß überzogenen Bett niederzulassen. Jimin setzte sich neben ihn, die Verunsicherung sprach dabei aus seiner ganzen Haltung.

Es war ein plötzlicher Impuls, der Yoongi dazu brachte, sich ihm entgegen zu lehnen. Es war Jimins natürliches Magnetfeld. Wie von selbst transportierte es den Älteren in seine Arme, wo er das Gesicht an Jimins weicher Halsbeuge vergrub. Er roch nach Zuhause.

»Nicht, dass das irgendwas mit dieser Entführung zu tun hätte«, murmelte Jimin, der sofort seine Arme um ihn geschlossen hatte, ihm ins Ohr, »aber ich hab dich vermisst... sehr sogar.«

Yoongi löste sich langsam wieder von ihm, gerade genug, um sein Gesicht vor dem des Jüngeren schweben zu lassen. Es war so seltsam, als ständen sie wirklich plötzlich wieder am Anfang. Obwohl... taten sie das nicht immer noch? Hatte das hier zwischen ihnen überhaupt jemals die Chance bekommen, richtig zu beginnen?

»Tut mir leid«, hauchte er.

Jimin zog die Augenbrauen hoch. »Was meinst du?«

»Alles.«

»Nein... hör auf damit.«

Jimins Stimme war nicht mehr als eine milde Frühlingsbrise. Und in seinen Augen lag mehr Zuneigung, als Yoongi überhaupt verkraften konnte. Er wollte keine Lügen mehr die Toilette hinunterspülen. Er wollte es wirklich nicht... Wieso war dieser Weg nur so schwer? Konnte es denn wirklich so kompliziert sein, einfach alles... zu ertragen? Das Leben so hinzunehmen, wie es eben manchmal spielte?

Es war Jimin, der vorsichtig den Kontakt zu seinen Lippen suchte. Seine eigenen federleicht über Yoongis Amorbogen wandern ließ, ehe er die Berührung in einen sanften Kuss verwandelte. Keinen, der in irgendeiner Weise eine Reaktion oder Gegenleistung erforderte.

»Versuch jetzt zu schlafen, okay? Morgen wird ein schöner Tag, das verspreche ich dir.«


~⋆☽ ❊ ☾⋆~


Die folgende Nacht reihte sich nicht unter die Schönsten in Yoongis Leben. Mehrfach wachte er schweißgebadet auf, wobei Jimin ihm beim zweiten Mal, irgendwann um drei Uhr, aus dem nassen Shirt half und ihn in ein Handtuch einwickelte. Von da an ging es besser, auch wenn Yoongi weiterhin von substanzlosen Träumen geplagt wurde, die ihn nie wirklich zur Ruhe kommen ließen. Träumen, in denen Jimin ihn fragte, ob er wirklich nur krank war. Träume, in denen er das Blut in der Toilette gesehen hatte.

Als Yoongi um neun Uhr mit einem brummenden Schädel gegen das Licht anblinzelte, das durch die nicht geschlossenen Vorhänge des Hotelzimmers schien, saß Jimin schon wach an seinem Handy. Er hatte den Älteren im Schlaf mit dem Kissen als Polsterung auf seinem Brustbein platziert und strich ihm in einem kontinuierlichen Rhythmus durch die Haare. Er störte sich offensichtlich nicht daran, dass diese immer noch ein wenig klamm waren und kläglich nach einer Dusche verlangten.

»Oh, hey...«, murmelte Jimin, als er Yoongis unabsichtliche Regung bemerkte. »Wie geht es dir? Hast du noch etwas schlafen können...?«

Yoongi zuckte mit den Schultern. Er wusste es wirklich nicht. Das Einzige, worüber er eine klare Aussage hätte tätigen können, wäre gewesen, dass er sich schrecklich verkatert fühlte. Fast so, als wäre selbst jede Art von Liegen zu anstrengend. Aber wen wollte er damit schon überraschen? Sein Konsum in der letzten Woche ließ die Frage offen, wie er überhaupt so glimpflich davongekommen war.

»Möchtest du lieber liegen bleiben?«, hakte Jimin vorsichtig nach. »Wir müssen nicht raus, wenn es dir nicht gut geht...«

»Oh... nein, ich... es geht schon.«

Yoongi wollte zwar nicht wirklich dieses Bett verlassen, doch noch weniger wollte er, dass Jimin sie umsonst über vier Stunden ans andere Ende der Halbinsel gefahren hatte. Dieser Trip sollte nicht sinnlos gewesen sein. Und wenn er noch keinen Sinn hatte, dann musste er einen bekommen.

»Bist du dir sicher?«, hakte Jimin nach. »Du bist ziemlich blass.«

»Das ist nichts Neues.«

Yoongi zögerte einen Moment, lehnte sich dann jedoch weiter zu Jimin. Seinen Arm und seine Hand legte er dabei auf seiner Brust ab. Genau zwischen den beiden Narben, die sich unter dem Shirt versteckten. Es war ihm immer noch ein Rätsel, wieso Jimin ihn ausgerechnet an den Schauplatz all seiner eigenen Albträume gebracht hatte... Sie hätten an so viele andere Orte fahren können, die weit genug weg von Seoul waren.

Jimin reagierte nicht minder verhalten auf Yoongis plötzliche Nähe. Die Wand, die sich über die letzte Woche zwischen ihnen aufgebaut hatte, war noch längst nicht gefallen. Auch nicht nach dieser Nacht. Auch nicht nach ein bisschen Kuscheln und ein paar zögerlichen Streicheleinheiten.

»Okay... Was hältst du davon, wenn wir uns dann langsam fertig machen und runter zum Strand gehen? Davor können wir noch etwas frühstücken, es gibt unten ein Buffet.«

»Klingt gut.«

Jimin nickte ihm mit einem sanften Lächeln zu und machte Anstalten, sich aufzurichten. Yoongi erhob sich ebenfalls, nur um in seiner neuen sitzenden Position sogleich von einem Schwindelanfall heimgesucht zu werden. Und dann spürte er es. Das unangenehme Ziehen in seinem Kopf, das bis in seine Gliedmaßen und seine Brust ausstrahlte. Es ging friedlich einher mit einem schleichenden Gefühl von Leere, durchsetzt mit einer Prise Panik und einem Hauch von Selbsthass.

Yoongi rutschte von der Matratze, doch kaum standen seine Füße auf dem Teppichboden, musste er sein Gleichgewicht auch schon mithilfe der Kommode aufrechterhalten. Alles um ihn herum drehte sich.

»Hey, ist alles in Ordnung?«

Es war Yoongi ein Rätsel, wie Jimin so schnell neben ihm auftauchen hatte können. Plötzlich stand der Jüngere direkt neben ihm, die Hände bereit, um ihn zu stützen.

»Alles gut, ich bin nur zu schnell aufgestanden.«

»Kannst du mich bitte anschauen?«

Yoongi hob den Kopf und tat wie ihm geheißen, auch wenn sich eigentlich alles in ihm dagegen sträubte. Jimins Augen waren voller Sorge und das »Wir können auch hier bleiben« lag ihm bereits auf der Zunge. Zu seiner eigenen Überraschung brachte Yoongi das nur dazu, seine Hand wieder von der Kommode zu nehmen und sich etwas aufzurichten.

»Mir geht's gut, wirklich«, sagte er und glaubte dabei fast selbst daran. »Können wir bitte daran festhalten und so tun, als wären wir nicht hier, warum wir wirklich hier sind?«


~⋆☽ ❊ ☾⋆~


Majestätisch erhoben sich die drei futuristischen Türme des Haeundae LCT The Sharp gegen die graue, tiefhängende Wolkendecke, entgegen der Tatsache, dass ihre Spitzen im Dunst des vorherrschenden Nieselregens verschwanden. Yoongi hatte sie noch nie von so nahe gesehen. Seine Tante hatte ihn nicht mit zu den Sehenswürdigkeiten von Busan genommen, geschweige denn überhaupt einmal ins Zentrum der Stadt. Nun hier, auf dem berühmtesten Strand der Metropole zu stehen, fühlte sich seltsam befreiend an. Auch wenn Yoongis Nebenhöhlen noch immer ziemlich zugeschwollen waren und der Mangel an genügend Drogen ihm nicht gerade gut bekam.

»Wenn du es noch einmal wagst, unter diesem Schirm hervorzutreten, ertränk ich dich mit meiner freien Hand im Meer.«

Yoongi kam nicht umhin, dass ihm bei Jimins in den Wind gesäuselten Drohung die Mundwinkel nach oben zuckten. Auch wenn er nicht aufgehört hatte, jeden seiner Schritte mit Argusaugen zu beobachten und auch, wenn er nicht zugelassen hatte, dass Yoongi nicht gut genug eingepackt vor die Tür des Hotels trat, so hatte er immerhin doch seine belastende Einfühlsamkeit abgelegt – zumindest nach außen hin.

»Ich bin nicht aus Zucker«, grunzte Yoongi abwehrend und zog sich dabei demonstrativ seine hochgezogene Kapuze zurecht.

»Doch, vielleicht bist du das ja«, grinste Jimin süffisant und zog ihn rigoros an der Jacke zurück in den trockenen Schutz des transparenten Regenschirms. »Das würde jedenfalls erklären, weswegen ich seit ich dich kenne dauernd einen Ohrwurm von diesem Sugar how you get so fly habe.«

Jimin begann das besagte Lied, das einst jeder Radio-Sender totgespielt hatte, zu summen. Er bewegte sich dabei auf eine so anzügliche Art und Weise, dass er sich tatsächlich einen empörten Blick einer Mutter sicherte, die ein paar Meter weiter mit ihren Kindern durch den Sand spazierte. Yoongi schnaubte ein Lachen.

»Kann ich nicht im Geringsten nachvollziehen.«

»Ach ja?«, hakte Jimin nach, ein teuflisches Flimmern in seinen Augen. »Willst du also nicht mein Sugar sein?«

»Ganz und gar nicht.«

»Du wärst auch kein Sugar... eher so ein Suga... ohne das R am Ende.«

»Bin ich das R nicht wert oder was?«

»Das R ist dich nicht wert. So ist der Name viel einzigartiger.«

»Es ändert nichts daran, dass ich dir jedes Mal einen Kick verpassen werde, wenn du es wagst, mich so zu nennen.«

Sie lieferten sich ein eisernes Blickduell. Yoongi wusste nicht, ob er sich lange zusammenreißen können würde. Eigentlich wollte er sich nur Jimin in den Weg stellen und ihn küssen. Wie hatte er solange nicht darüber nachdenken können, das zu tun? Aber selbst, wenn sie hier nicht an einem öffentlichen Ort wären... wäre es überhaupt angebracht, das zu tun?

Er kaute eine ganze Weile auf diesem Gedanken herum, auch noch während Jimin ihn vorbei an der Sirenen-Statue bis hinüber auf Dongbaekseom führte – eine Halbinsel mit einem Park, die einen hervorragenden Blick auf den Haeundae-Strand sowie die nordwestlichen Teile der Stadt, darunter auch die durchs Meer führende Gwangan-Brücke bot.

Als sie an der äußersten Spitze der Insel ankamen, um die Aussicht für einen Moment zu genießen, konnte Yoongi nicht anders, als sich von der Melancholie erschlagen zu sehen. Die immer wiederkehrenden Gedanken an Bomi, seine Abneigung gegen sich selbst und seinem derzeitigen Verhalten drückten schwerer auf ihn als die feuchte Luft. Das Rauschen der Wellen und das Kreischen der Möwen gab dem Ganzen fast noch eine theatralische Note. Busan wollte ihn wohl mit aller Macht daran erinnern, dass es für ihn seit letztem Sommer nur rückwärts gegangen war. Und wer konnte es der Stadt verübeln? Sie hatte ein gutes Recht dazu.

»Wieso ausgerechnet hier?«, entwischte es Yoongis Lippen. »Warum Busan?«

Jimin drehte sich zu ihm um. Ein paar der Strähnen, die unter seiner übergroßen schwarzen Wollmütze hervorlugten, wurden dabei von einer kleinen Windböe erfasst. Unwillkürlich schob er seine freie Hand in die Tasche seiner Windjacke und sein Blick wanderte zur Silhouette der Stadt. Er musste nicht nachhaken, um zu wissen, worauf Yoongi hinauswollte.

»Gute Frage... Ich denke, ich wollte dich an einen Ort bringen, der mir selbst vertraut ist und der genug Möglichkeiten bietet für alles, was dir guttun könnte.«

Yoongi schielte zu ihm hinüber, die offene Frage stand ihm dabei wohl ins Gesicht geschrieben. Jimin bemerkte es und zu Yoongis Überraschung erschien ein kleines Lächeln auf seinen Lippen.

»Ich habe das, was mir passiert ist, nie an diese Stadt gekoppelt, weißt du? Oder zumindest lasse ich nicht zu, dass diese Sache alles andere, was ich hier erlebt habe, alles Schöne überschattet. Siehst du die Stufen dort vorne auf dem Haeundae? Dort hat meine Mutter Jihyun und mich immer Sandburgen bauen lassen, wenn sie mit uns hierhergekommen ist, um den Markt zu besuchen. Und die Brücke dort... über die bin ich damals immer mit dem Bus gefahren, wenn ich mich mit meinen Freunden hier in der Gegend getroffen hab. Und dieser Fleck, an dem wir hier stehen... hier hatte ich meinen ersten Kuss mit fünfzehn, mit dem Nachbarsmädchen, in das ich über ein Jahr unsterblich verknallt gewesen war.«

Yoongi drehte bei diesem Kommentar unwillkürlich den Kopf zu ihm herum, die Augenbrauen nach oben gezogen. Jimin hatte für diese Reaktion nur ein mildes Grinsen übrig.

»Was? Eifersüchtig?«

»Auf eine Fünfzehnjährige?!«

»Darauf, dass sie definitiv den schöneren ersten Kuss mit mir hatte.«

Yoongi fühlte sich ein wenig überwältigt davon, wie smooth und mit welchem Selbstbewusstsein Jimin das Thema plötzlich auf das Verhältnis zwischen ihnen gelenkt hatte. Er selbst hätte sich hier und jetzt nie fähig dazu gefühlt – wenn er das überhaupt je getan hatte.

»Fandest du unseren... so schrecklich?«, wagte er es zu fragen und erschrak sich ein wenig davor, wie viele Sorgen ihm die Antwort bereitete.

Jimin verzog das Gesicht und ließ die Belustigung in all seine Lachfalten einkehren. Es bestand kein Zweifel daran, dass er am Schönsten war, wenn er lachte. Vielleicht tat er es deshalb auch so oft.

»Während eines Streits auf einer versifften Treppe in einem Club in Hongdae? Ich weiß ja nicht, ob ich das nochmal so wiederholen würde...«

Yoongi nickte und sagte nichts mehr. Obwohl er wusste, dass Jimin das nicht so meinte, versetzte ihm diese Antwort kleine Stiche in die Brust.

»... das muss aber nicht heißen, dass ich dich nicht auch nachträglich zu all den Orten bringen kann und dort... naja...«

Yoongi stockte der Atem, als er aus den Augenwinkeln registrierte, wie Jimin einen Blick um sie herum warf. Dann, ganz plötzlich, glitten weiche Finger an seinen Wangen entlang und drehten seinen Kopf. Jimin ließ sich eine Sekunde Zeit, um ihm tief in die Augen zu schauen, ehe er den letzten Abstand überbrückte und ihre Lippen miteinander kollidieren ließ. Der Kuss schmeckte nach Meersalz und Nieselregen, aber ganz besonders schmeckte er nach Sehnsucht. Nach Zukunft sogar.

»Wenn du möchtest, kann das einfach unser erster Kuss sein«, hauchte Jimin ihm zu, die Nasenspitze immer noch an Yoongis. »Insofern du damit leben kannst, dass du nicht die erste Person bist, die hier die Ehre mit mir hatte.«

»Naja...«, murmelte Yoongi zurück. »In gewisser Weise bin ich ja der Erste...«

Jimin Grinsen war wie Balsam für die Seele, der Kuss, der darauffolgte, wie ein Siegel für ein stilles Versprechen. Yoongi hätte ihm am liebsten gesagt, wie gut ihm das alles gerade tat. Das Meer, die Aussicht, die Gewissheit, dass Jimin immer noch hier bei ihm war.

Es waren wieder leise Stimmen und Schritte, die Jimin letztendlich dazu veranlassten, den Kuss mit geröteten Wangen zu beenden und einen formellen Sicherheitsabstand zu Yoongi einzunehmen. Die Gruppe spazierender Frauen, die die Stelle am Geländer passierte, an dem sie standen, warf ihnen beim Vorbeigehen neugierige Blicke zu.

»Tut mir leid«, seufzte er, kaum waren sie wieder allein und umklammerte dabei den Schirm fester. »Ich wollte nicht...«

»Alles gut.«

»Du wärst nicht zurückgewichen, oder?«

»Ich weiß nicht... Ich vergesse meist alles um mich herum, wenn...«

Yoongi stockte, als ihm bewusstwurde, was er da eigentlich um Begriff war, zu sagen. Sofort stieg ihm die Hitze ins Gesicht.

»Aw.«

Jimin zog eine hinreißende Schnute und ließ es sich nicht nehmen, ihn spielerisch in die Seite zu knuffen. Yoongi wandte schnell den Blick ab, um nicht zu offenbaren, wie peinlich ihm das war.

»Ich nehme das mal als Nein«, fuhr Jimin fort, die Stimme so weich wie silbrige Seide. »Vielleicht sollte ich lernen... mich nicht mehr zu sehr von anderen beeinflussen zu lassen.«

»Sag das nicht«, brummte Yoongi. »Sag es nicht so, als ob... als ob du das Problem wärst...«

»Hey, was soll das heißen?«

Mit einem Mal war das Lächeln von Jimins Gesicht gewischt und die Sorge, die Yoongi so sehr verabscheute, zurück in seinen Augen.

»Du weißt schon, was ich meine«, erwiderte er vage. »Ich bin ein hoffnungsloser Fall... und ich will dich nicht ständig mit mir in den Abgrund ziehen.«

»Das tust du nicht. Sieh es anders herum. Ich bin nur die Hand, die dir hilft, wieder aus dem Loch zu klettern, wenn du mal drin bist. Geht es dir denn jetzt nicht etwas besser? Oder habe ich das falsch gedeutet?«

»Doch, das tut es«, gab Yoongi ehrlich, ja, fast schon etwas widerwillig zu, »aber du kannst mich nicht jedes Wochenende durchs halbe Land karren, um mich wieder in die Spur zu bringen.«

Jimin rümpfte selbstbewusst die Nase und rückte so nah an ihn heran, dass Yoongi Probleme bekam, seinem Blick weiterhin auszuweichen.

»Nein, kann ich nicht. Aber das wird auch nicht nötig sein. Weißt du auch, warum?«

Zwei Finger schlichen sich unter Yoongis Kinn und dirigierten es so, dass der Ältere Jimin wieder direkt ins Gesicht sah.

»Weil du schon sehr bald merken wirst, was es bedeutet, zu leben. Du hast es schon einmal geschafft, hinzufallen und wieder aufzustehen und auch jetzt wirst du das wieder tun. Du wirst lernen, dass nicht alles im Leben darauf zurückzuführen ist, dass du einmal einen unabsichtlichen Fehler gemacht hast. Und du wirst verstehen, dass es Menschen gibt, die dich bedingungslos lieben und es immer tun werden.«

Yoongis Augen fielen zu und sein Kopf sackte nach unten. Die Worte hatten ihn an einer Stelle getroffen, die er nun schon für eine ganze Weile betäubt geglaubt hatte. Der Schmerz jagte ihm ein Brennen über die Netzhaut, aber er wollte nicht schon wieder weinen. Er erlaubte es sich nicht.

»Hey...«, fuhr Jimin fort, auch wenn sein Versuch, Yoongis Blick wieder für sich zu gewinnen, diesmal scheiterte. »Glaub bitte nie wieder, dass du mir nicht guttust, okay? Das ist nämlich nicht wahr. Du hast mir genau so wie du bist mehr über mich selbst beigebracht als jeder um mich herum in den letzten Jahren zusammen. Und dafür bin ich dir unheimlich dankbar.«

»Ist ja nicht so, als ob ich das aktiv versucht hätte...«

»Darum geht es aber auch nicht. Du hast mich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, wenn ich es gebraucht habe und du hast mir immer das Gefühl gegeben, dass ich, so wie ich bin, absolut genug bin. Dass du mich magst, trotz... nein... vielleicht sogar gerade für das, was ich sonst... nicht so gerne von mir zeige.«

Yoongi wagte es, ein wenig den Kopf zu heben. »Meinst du die Narben?«

»Auch«, lächelte Jimin. »Wobei ich dir nicht abkaufen würde, dass du mich gerade für die magst... Ich habe da eher an... naja... alles andere gedacht. Manchmal hab ich das Gefühl, dass ich außerhalb von meiner Familie bei niemand mehr wirklich ich war... außer bei dir.«

Das Rauschen der Wellen trug den tiefen Atemzug, den Jimin nun nahm. Genauso wie das verhaltene Lachen, das ihm darauf über die Lippen purzelte.

»Puh... Fühlt sich fast so an, als wäre der Moment melodramatisch genug, um noch ein letztes Geständnis zu machen, was?«

Yoongis immer noch ein wenig wässrige Augen weiteten sich und sein Herz versagte für ein paar Schläge den Dienst. Jimin dagegen stieg einfach nur die Röte in die Wangen.

»Ich hab mich echt in dich verliebt, Hyung... Ich will, dass du das weißt.«

Jimin beachtete das entsetzt dreinschauende Rentner-Pärchen nicht, das drauf und dran war, an ihnen vorbeizugehen. Er hauchte Yoongi trotzdem mit nach wie vor glühenden Wangen einen Kuss auf die Stirn.


~⋆☽ ❊ ☾⋆~


Irgendwie war es nicht überraschend, dass sich zu all den Talenten, die Jimin bereits für sich beanspruchte, nun auch noch die Fähigkeit reihte, einen Tag so perfekt und abwechslungsreich zu gestalten, dass kein bisschen mehr auffiel, wie spontan und planlos er an die Sache herangegangen war.

Nach ihrem Rundgang auf Dongbaekseom brachte er Yoongi zu einem unscheinbaren Restaurant mit billig einlaminierten Speisekarten und überredete ihn dazu, Kimchi Bogeumbap zu bestellen. Es sollte sich herausstellen, dass es das Beste war, das Yoongi in seinem Leben je probiert hatte. Noch mehr Hochgefühle bescherte ihm nur die Tatsache, wie gut sein Magen es danach auch vertrug, als Jimin ihn keine halbe Stunde später mithilfe eines Taxis zum Gamcheon Culture Village mitschleppte. Yoongi hatte das in ganz Südkorea bekannte Tal voller knallbunt bedachter Häuser und unzähliger Wandmalereien noch nie in der Realität gesehen. Die Sonne, die mit einem Mal aus der Wolkendecke hervorgebrochen war, kaum waren sie aus dem Wagen gestiegen, ließ die Farbenpracht des Stadtteils nur noch einmal mehr zur Geltung kommen.

Yoongi hatte sich schon lange nicht mehr so losgelöst gefühlt wie jetzt – zusammen mit Jimin innerhalb dieser Gassen. Nicht einmal die Sonne störte ihn. Sollte er heute einen Ausschlag infolge zu langer Bestrahlung riskieren, dann war das eben so.

Als sich der Himmel langsam pastellig verfärbte, führte Jimin sie zu einer der Bushaltestellen, sagte jedoch nicht, wohin sie gingen. An der siebten Station stiegen sie in die U-Bahn um und fuhren gut dreißig Minuten. Jimin ließ Yoongi diese Zeit für etwas Ruhe. Natürlich war ihm aufgefallen, dass er nach wie vor nicht in der besten körperlichen Verfassung war. Er tat letztendlich nicht mehr, als ihm einen seiner Kopfhörer anzubieten. Den kompletten Weg bis zur Haltestelle Dadaepo Haesuyogjang und darüber hinaus hörten sie eine von Jimins ruhigeren Playlists. Diese begleitete sie auch auf die Straße, einen kleinen Weg an einem Bach entlang, über eine Brücke und hinein in weitläufige Dünen. Inzwischen hatte sich das abendliche Zwielicht über Busan gelegt. Rechts am Horizont war die Sonne bereits im Dunst verschwunden und hatte nichts zurückgelassen außer rosa-orange gefärbte Schleierwolken.

»Siehst du die Hochhäuser da drüben?«, frage Jimin und zeigte hinter sie beide. »Das ganz dort hinten, da haben wir früher gewohnt. Und das hier, das ist der Strand, an dem ich fast jeden Tag gespielt habe. Hier hab ich meine ersten Schritte gemacht... und hier hat mich auch meine Mutter immer aufgelesen, wenn ich in der Hochphase meiner Pubertät aus Wut von Zuhause weggerannt bin. Hier hab ich mich immer mit meinen Freunden getroffen, manchmal haben wir sogar hier übernachtet... und hier hat mir auch das Mädchen, das ich drüben auf Dongbaekseom das erste Mal geküsst habe, keine zwei Wochen später das Herz gebrochen. Und für einen Jungen aus dem Fußballteam unserer Schule verlassen.«

Jimin grinste mit einem nostalgischen Blick in sich hinein. Er hatte wohl keine Ahnung, welchen Schauer seine Worte durch Yoongis Körper gejagt hatten. So nah war er Jimins Vergangenheit heute noch nie gewesen. Sie war hier so viel präsenter als drüben in Haeundae, wo die Erinnerungen von den vielen anderen Menschen nur verwischt wurden. Hier war sie reiner, nahbarer.

»Möchtest du jetzt auch, dass wir das nachstellen?«, murmelte Yoongi mit leicht erhobenen Mundwinkeln. »Soll ich dir hier auch das Herz brechen?«

Genug Optionen dafür hättest du ja, lachte ihn die hämische Stimme in seinem Kopf aus, doch es gelang ihm, sie in eine schalldichte Truhe zu verbannen.

Jimin drehte sich zu ihm um, in seinen Augen spiegelte sich der Sonnenuntergang. »Vielleicht lassen wir das besser und nutzen die Zeit, um deins wieder zusammenzuflicken.«

»Mir hat aber niemand das Herz gebrochen.«

»Liebe existiert nicht nur innerhalb von Liebschaften. Und Herzen brechen nicht nur, wenn man verliebt ist.«

Langsam aber sicher kehrte das Brennen in Yoongis Gliedmaßen zurück und kroch bis hoch in sein Gesicht. Ein paar singende Möwen, die als schwarze Silhouetten über dem Meer gen Osten flogen, gaben Jimins Worten noch mehr Symbolhaftigkeit. In diesem Licht hätte auch Bomi unter ihnen sein können.

Yoongi spürte wie sich ein Arm um ihn legte und wie auf Kommando bettete sich sein Kopf auf Jimins Schulter. So standen sie nun inmitten der von Strandhafer bewachsenen Dünen, kaum eine Menschenseele weit und breit – nur die Möwen, das Meer und die untergehende Sonne.

»Dir wurde viel zu oft das Herz gebrochen, Hyung«, sagte Jimin leise. »Wahrscheinlich öfter, als dass ich mir überhaupt anmaßen sollte, zu behaupten, es wirklich nachvollziehen zu können. Aber ich hab dir ein Versprechen gegeben und das meine ich auch immer noch so. Wenn ich es geschafft habe, nach all dem Scheiß, der hier passiert ist, wieder aufzustehen... wenn ich es schaffe, an diesen Ort zurückzukehren und nur auf die guten Dinge zurückzublicken... dann schaffst du das auch, wenn wir zurück nach Seoul gehen.«

Yoongi blinzelte heftig, doch ein paar vereinzelte Tränen entwischen ihm trotzdem. Er wischte sie schnell mit seinen Ärmelpfötchen ab. Jimin drehte darauf seinen Kopf und küsste ihn auf seine Wollmütze. Immer wieder tat er es, bis seine Lippen langsam in die Richtung von Yoongis Stirn wanderten. Es bedurfte keiner Überlegung, dass dieser ihm nach und nach das Gesicht zuwandte, mit geschlossenen Augen und klopfendem Herzen.

Es dauerte nicht lange, bis Yoongi in Jimins Kuss fiel wie ein Mann von einer Klippe. Der Aufprall war weicher als gedacht, kein bisschen schmerzhaft. Trotzdem musste er darauf vertrauen, dass Jimins Arme ihn wie die Wellen trugen, ihn am Ertrinken hinderten. Er gab die Kontrolle ab... und Jimin hielt ihn sicher wie eine Rettungsinsel.

So kam es, dass Yoongi sich nicht im Schmerz verlor, sondern im Licht. All jenem Licht, das Jimin ihm über jenen Kuss entgegenbrachte. Er vergaß, dass sie sich immer noch an einem öffentlichen Ort befanden. Ließ zu, dass seine Hände über Jimins Körper wanderten, an Orte, die sie zuvor nie besucht hatten. Mit ein wenig Druck hatte er sie so dicht aneinandergedrängt, dass er Jimins Schenkel in seinem Schritt spüren konnte. Jimin unterbrach den Kuss mit einem leisen Keuchen. Bei dem darauffolgenden schob er Yoongi seine Zunge auf eine Weise in den Mund, wie er es noch nie zuvor getan hatte.

Es hatte etwas Berauschendes, ja, geradezu Narkotisierendes. Yoongi konnte nicht genug davon bekommen. Weder von der hemmungslosen Art, wie Jimin ihn küsste, noch von dem dämlichen Grinsen, das sich dabei mehr und mehr auf den Lippen des Jüngeren ausbreitete. Hände wanderten an seinen Seiten hinauf, bis über seine Schultern und zu seiner Kapuze. Jimin zog sie ihm über seine Mütze und nutzte sie dazu, ihn noch näher an sich ziehen. Sie vergaßen, dass die Welt um sie herum existierte. Die Welt um sie herum allerdings tat ihnen nicht denselben Gefallen.

»Was für eine Unverschämtheit, und das in der Öffentlichkeit!«, schallte eine patzige und ziemlich betagte Stimme zu ihnen herüber.

Unverzüglich ließ Jimin von Yoongi ab und wich mit hochrotem Gesicht zurück. Seine Augen hatten das Pärchen, das sicherlich schon am Rentenalter kratzte und bald ihren Weg kreuzen würde, schnell gefunden. Es musste der Mann gewesen sein, der gesprochen hatte und nun mit Blicken Blitze in ihre Richtung schoss.

»Dass ihr euch nicht schämt!«, schimpfte nun seine Frau und schüttelte dabei fassungslos den Kopf. »Sucht euch ein paar anständige Mädchen und bringt nicht solch eine Schande über eure Familien. Was müssen nur eure armen Eltern über euch denken?«

»Hmm«, brummte Yoongi, noch immer berauscht von dem Kuss und keinesfalls gewillt, die ihn gerade beherrschende Energie nicht auszunutzen. »Also würde meine Mutter noch leben, dann weiß ich mit Sicherheit, dass sie ziemlich stolz auf mich wäre, dass ich mir nichts von homophoben Dinosauriern sagen lasse.«

»Eine Frechheit!«, entfuhr es dem Mann entrüstet und auch seine Frau schnappte nach Luft. »Kinder wie ihr gehören eingesperrt! Gott, die Jugend heutzutage ist wirklich verloren...«

Yoongi rollte die Augen so sehr, dass sie fast ein bisschen schmerzten. »Finden Sie es nicht viel trauriger, dass Sie sich von uns so dermaßen stören lassen? Hat das, was wir tun, in irgendeiner Weise Einfluss auf Sie oder verhindern wir nur Ihre schöne Aussicht?«

»Pass bloß auf, was du sagst, junger Mann! Die Polizei ist schnell gerufen!«

»Gehen Ihnen die Argumente aus oder wieso fangen Sie jetzt schon an mit den Drohungen?«

Yoongi konnte erspähen, dass Jimin neben ihm zur reinsten Salzsäule erstarrt war. Unwillkürlich trat er einen Schritt vor ihn, um ihn etwas vor den wütenden Blicken des alten Pärchens abzuschirmen. Der Mann schien unterdessen wirklich in einem halbherzigen Tempo seine Taschen nach seinem Handy abzutasten.

»Ihr werdet schon sehen, was ihr von diesem Benehmen habt«, zeterte er vor sich hin, wahrscheinlich ohne den Mumm, am Ende wirklich den Polizei-Notruf zu wählen. »So eine bodenlose Frechheit... eine Schande für dieses Land.«

»Komm, wir gehen«, schnaubte Yoongi und lenkte Jimin dabei sanft an der Schulter. »Das wird mir zu dumm.«

Mit jedem Schritt, den sie sich von dem immer noch vor sich hinschimpfenden Pärchen entfernten, gelang es Yoongi mehr, die in ihm hochgekochte Wut wieder zu dämpfen. Sie konzentrierte sich nicht einmal wirklich auf die Tatsache, dass sie sich hier ganz offensichtlich mit der nach wie vor vorherrschenden Homophobie der älteren Generation konfrontiert gesehen hatten. Vielmehr dem Umstand, dass man Jimins und seinen Moment zerstört hatte. Yoongi hatte die Absicht gehabt, ihm eine schöne Erinnerung an diesem Strand zu schenken. Nicht ein weiteres Trauma.

»Es... es tut mir leid«, murmelte er, als sie genug Abstand zwischen sich und jede erdenkliche andere Person gebracht hatten, die sonst noch auf dem Strand unterwegs war. »Das hätte sich vermeiden lassen...«

Jimin schluckte, den Blick stier auf den Boden gerichtet. »Nein... es ist meine Schuld. Ich hab nicht nachgedacht... und dann hatte ich noch nicht mal den Mut, was zu sagen.«

»Das hättest du auch nicht tun müssen.«

»Doch. Stattdessen hab ich nur dagestanden und... und...«

Jimin blieb stehen und schlang die Arme um seinen Oberkörper. Nach wie vor weigerte er sich, Yoongi anzusehen. Er sah aus, als wäre er kurz vorm Explodieren.

»Nein, vergiss es«, presste er mit zitternder Stimme hervor. »Ich mach mich selbst nur lächerlich.«

Yoongi trat vor ihn, gab jedoch darauf Acht, ihn nicht zu bedrängen. »Was ist los?«

»Ich kann nicht...«

»Wovor hast du Angst?«

»Dass du mich nicht mehr für voll nimmst... wenn du das nicht eh schon längst nicht mehr tust.«

»Wieso sollte ich das denn nicht tun?«

Jimin kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Wie kann es sein, dass ich wieder an mir selbst zu zweifeln beginne? Wie kann es sein, dass ich Momente habe, wie den drüben auf Dongbaekseom, wo ich dir... meine Gefühle gestehe und dann... dann bringt mich sowas wie gerade wieder so aus dem Konzept, dass ich alles hinterfrage?«

Sein Körper reagierte, als würde er sich in ein Schneckenhaus zurückziehen wollen, das nicht existierte. Die Jacke, die ihn vor dem kalten Seewind schützte, war dafür nicht genug.

»Das ist okay«, sagte Yoongi und trat direkt vor ihn. »Das ändert nichts an der Art, wie ich dich sehe.«

Er machte eine kleine einladende Geste mit den Armen und wartete auf Jimins Reaktion. Es dauerte nicht lange, bis dieser den letzten Schritt zu ihm überbrückte und sich von ihm in eine Umarmung einpacken ließ. Es war der Moment, in dem Yoongi etwas klar wurde. Etwas, was ihm ein überwältigendes Kribbeln durch seine Gliedmaßen jagte.

»Du hältst mich, ich halte dich«, sprach es Jimin schließlich kaum hörbar in sein Ohr, als hätte er zur selben Zeit den gleichen Gedanken gehabt.


~⋆☽ ❊ ☾⋆~


Jimin ließ seine Finger an beiden Seiten durch die Haare an Yoongis Schläfen wandern. Er tat es so langsam und bedacht, dass Yoongi unweigerlich die Augen zufielen. Sie saßen auf dem Bett, er mit ausgestreckten Beinen und Jimin auf seinen Schenkeln. Yoongis Kehle entwich ein zittriges Atmen, als Jimin seine Lippen auf seinen bereits leicht geöffneten Mund treffen ließ. Der Kuss, der folgte, war langsam und vorsichtig, aber dennoch der intimste, den sie je geteilt hatten. Yoongi war ganz entspannt, obwohl sein Herz schneller schlug mit jeder Bewegung, die der Jüngere ihn spüren ließ.

Es kam ganz natürlich, dass seine Finger von Jimins Hüfte unter sein Shirt wanderten. Es in Zeitlupe nach oben zogen, so dass er mit dem Stoff noch über seine Haut streicheln konnte. Jimin löste ihren Kuss nur so lange, wie er das Kleidungsstück über sein Gesicht wandern lassen musste.

Yoongi ließ fortan seine Hände über seinen entblößten Oberkörper wandern. Über die Narben malte er, als wären es Sternenbilder auf einer Karte des Firmaments. Jimin schreckte nicht zurück, als er sie berührte... nicht mehr.

»Wie fühlst du dich?«, wisperte er in Yoongis Ohr und begann damit, seinen Hals zu liebkosen.

»Gut«, antwortete er wahrheitsgemäß. Das Wort kam wie ein Seufzen über seine Lippen.

»Und was möchtest du jetzt machen?«

Yoongi öffnete den Mund, doch der Satz blieb ihm in der Kehle stecken, als Jimin seine Zähne leicht in seiner Haut versenkte. Kein Schmerz entstand dabei, nur ein leichtes Ziehen. Es war schön. So schön, dass Yoongi viel zu spät bemerkte, dass ihm ein seltsames Geräusch entwichen war. Er spürte, wie die Hitze ihm ins Gesicht stieg.

Jimin hob den Kopf wieder und küsste ihn auf die Nasenspitze, fast so, als hätte er den Anflug von Unsicherheit gerochen.

»Lass es raus... wenn ich weiß, dass es dir gefällt, gefällt es mir auch.«

Yoongi spürte, wie die Anspannung langsam wieder von ihm abfiel. Auch dann noch, als Jimin auch ihm in aller Seelenruhe und mit direktem Blick in seine Augen das Oberteil über den Kopf zog. Er warf es achtlos auf den Boden neben dem Bett, ehe er ihren Kuss da fortsetzte, wo er ihn aufgehört hatte.

Es war ein bisschen so, als könnte er plötzlich Yoongis Gedanken lesen. Als würde er wissen, dass es nichts nützen würde, ihm die Führung zu überlassen. Dass er ihn an die Hand nehmen und Schritt für Schritt mit ihm zusammen machen musste. Der Weg entsteht, wenn du ihn gehst. Dieser Weg war einer, den sie nur zusammen gehen konnten.

»Lässt du mich etwas ausprobieren?«

Yoongi nickte wie in Trance. Ließ geschehen, dass Jimin ihn mit glühenden Wangen in eine bequeme, liegende Position brachte. Ihm die Socken auszog... und die Jeans.

»Du siehst so schön aus, weißt du das?«

Nein, du, dachte Yoongi, während sein Herzschlag in Wellen durch seinen ganzen Körper jagte. Er wollte Jimin nicht glauben, doch dieser ließ ihm keine Wahl. Es war die Art, wie er mit den Fingern über seinen Körper strich, wie er jede ihm erreichbare Stelle küsste, als gäbe es für ihn gerade nichts Erfüllenderes. Er musste die Wahrheit gesagt haben... seine Wahrheit.

Yoongi füllte seine Lungen bis zum Anschlag mit Luft, als Jimin ihm auch die Boxershorts von den Beinen streifte. Die Überforderung klopfte an, doch er fokussierte tapfer Jimins Augen. Konzentrierte sich auf das, was in ihnen schimmerte. Es gibt nichts, wovor du dich fürchten müsstest. Bei mir bist du sicher. Ich pass auf dich auf.

»Ich hab das noch nie gemacht«, grinste Jimin peinlich berührt, während er sich an Yoongis Oberschenkel entlangküsste. »Verzeih mir, wenn ich es vermassel.«

Yoongi drückte seinen Kopf in das Kissen und ließ ein Keuchen hören, als Jimin seine Erektion in seinen Mund gleiten ließ. Zaghaft begann er damit, sich heranzutasten. Nahm seine Zunge zu Hilfe und testete, wie weit er seine Länge einführen konnte. Er übertrieb ein wenig und begann zu würgen. Yoongi war drauf und dran, sich aufzusetzen und ihn zu stoppen, doch Jimin hob mahnend einen Finger.

»Mhm-hm-hm!«

Yoongi schluckte alle Scham hinunter und ließ ein leises Schnauben hören. »Man spricht nicht mit vollem Mund.«

Jimin kicherte in sich hinein und wischte sich eine der Tränen weg, die das Würgen in seine Augenwinkel getrieben hatte. Was er dann jedoch tat, warf Yoongis Souveränität in hohem Bogen aus dem Fenster. Da lag er plötzlich wieder, die Beine und Zehen verkrampft, während die Erregung sich wie ein Lauffeuer von seinen Lenden in seinen ganzen Körper ausbreitete.

Wenn das hier gerade Jimins Rache für diesen Kommentar war, dann war sie verdammt gut. Nichts erweckte mehr den Anschein, er würde das hier zum ersten Mal tun. Er übte den richtigen Druck auf die richtigen Stellen aus, merkte sich jene, die Yoongi zum Zucken brachten und setzte seine Zunge dabei so intuitiv ein, als würde er an einem Eis am Stiel lecken.

Es dauerte nur wenige Minuten bis er Yoongi zu einem dreckigen Häufchen Elend verwandelt hatte. Das »Stopp« entkam ihm als halbes Wimmern und seine Finger zitterten, als er nach Jimin griff, um ihn wieder zu sich hoch zu ziehen. Seine Lippen schmeckten nach ihm selbst. Yoongi hatte plötzlich keine Ahnung mehr, wie man küsste. Aber Jimin erinnerte sich. Er erinnerte sich ein Glück auch daran, wie man sich seiner letzten Kleidungsstücke entledigte. Yoongi hätte ihm in diesem Moment nicht wirklich dabei helfen können.

Jimin nun vollkommen unbekleidet zu sehen, half ihm nicht wirklich, seine Fassung wiederzuerlangen. Es wäre nicht gelogen, zu behaupten, dass Gott – falls er denn existierte – ihn mit jedem Millimeter seines Körpers bevorzugt hatte. Seine Haut schimmerte wie seine Stimme klang. Wie Licht, das durch Honig fiel. Yoongi hatte in seinem ganzen Leben nie etwas Schöneres gesehen. Alleine der Anblick fühlte sich so sündig an, als hätte er nur dadurch schon in den verbotenen Apfel gebissen.

»Entspann dich«, hauchte Jimin ihm an die rechte Wange und streichelte ihm zärtlich über die linke. Auch seine Finger zitterten leicht, doch sie hörten damit auf, als sie auf Yoongis Haut zum Erliegen kamen. »Und... bleib einfach kurz liegen, okay?

Jimin schluckte und sprang mit einem Mal aus dem Bett. Yoongi spürte, wie ihn ein unangenehmes Gefühl überrollte, als er ihm dabei zusah, wie er seine Tasche durchwühlte. Es verflüchtigte sich nur bedingt, als Jimin mit vollen Händen wieder zu ihm auf die Matratze krabbelte. Er hatte eine Packung Kondome und eine Tube Gleitgel bei sich.

»Du... du musst mir sagen, was ich tun soll... Ich...«, stotterte er, nun sichtlich nervös. »A-also im Internet stand, dass–«

Yoongi erstickte Jimins Anflug von Unsicherheit mit seinen Fingern auf seinen Lippen. Er wollte nicht, dass er weiterredete. Auch wenn das bedeutete, dass er nun etwas unternehmen musste.

»Entspann dich«, wiederholte er Jimins Worte, auch wenn er nicht wusste, ob er wirklich souverän dabei klang. Er hoffte es zumindest.

Jimin atmete tief durch. »Ich... ich vertraue dir.«

Für einige Sekunden, die sich wie eine kleine Ewigkeit anfühlten, sahen sie sich einfach nur an. Dann, ganz sanft, dirigierte Yoongi Jimin zurück über sich. Er wusste, was er tun musste, auch wenn er es noch nie getan hatte. Das Gleitgel verteilte er auf den Fingern seiner rechten Hand, mit der linken wanderte er darauf über Jimins Rücken, über seinen Beckenknochen bis hinunter in seinen Schritt. Dort übte er ein wenig Druck auf Jimins Erektion aus. Er war ebenfalls steinhart.

»D-du musst sagen, wenn... wenn ich dir wehtue... okay?«

Yoongi hatte keinen blassen Schimmer, wo er den Mut hergenommen hatte, diese Worte zu sagen. Vielleicht lag es daran, dass seine Angst sich momentan hinter einer Plexiglaswand befand. Er konnte sie hören und sehen, aber nicht fühlen, als er seine mit Gel benetzten Finger an Jimins Eingang führte. Da war Aufregung... aber keine Furcht.

Jimin presste die Lippen zusammen, als Yoongi damit begann, ihn zu dehnen. Er hatte keine Ahnung, ob er es richtig machte. Er wollte Jimin nicht verletzen. Die bittere Ernüchterung kam dennoch, als er realisierte, dass es ohne Schmerzen offensichtlich nicht möglich war.

»Wir müssen das nicht tun«, ruderte er panisch zurück, als bereits sein zweiter Finger Jimin ein kleines Ächzen entlockte. »Wenn es nicht geht, dann–«

»Nein. Mach weiter.«

»Aber–«

»Es ist okay... Benutz vielleicht einfach mehr von dem Zeug.«

Yoongi nickte und tat wie ihm geheißen. Ein Viertel der Tube ging dafür drauf. Als er da ansetzte, wo er aufgehört hatte, verzog Jimin wieder das Gesicht – dieses Mal mit einem Grinsen.

»Das ist so schleimig und kalt.«

»Genau wie du es wolltest.«

Auch Yoongis Mundwinkel zuckten nach oben, als Jimin ein gequältes Kichern entwischte. Dieses Mal bewegte er seine Finger noch langsamer. Und als Jimin damit begann, ihn während seiner Vorarbeit zaghaft zu küssen, konnte er sich das erste Mal darauf einlassen, was er gerade eigentlich tat. Was hier gerade passierte... Es passierte wirklich.

Sie nahmen sich mehr Zeit, als wahrscheinlich nötig gewesen wäre. Jimin brauchte drei Anläufe, um Yoongi davon zu überzeugen, dass es reichte. Erst dann ließ er zu, dass der Jüngere wieder das Ruder übernahm. Dass er seine Finger um Yoongis Schwanz schloss und damit begann, ihn wieder hart zu machen. Damit ließ er sich dieses Mal keine Zeit. Die Ungeduld sprach aus jeder seiner Bewegungen.

Yoongi versuchte, sich wieder zu entspannen, doch sein Herz schlug so heftig gegen seine Rippenbögen, dass es wehtat. Die Angst hatte eine schwache Stelle gefunden und damit begonnen, schwerwiegende Worte darauf abzufeuern. Yoongi hörte sie dumpf gegen das Glas donnern.

So schnell, wie er dich vorhin fast zum Höhepunkt gebracht hat, wirst du gleich jämmerlich versagen... Schau dich doch an, was für eine bemitleidenswerte Jungfrau du doch bist... Na, bekommst du jetzt überhaupt wieder einen hoch? Sieht gerade ziemlich schlecht aus...

Yoongis Atmung wurde schneller und seine Augen blieben in seinem eigenen Schritt hängen. Es passierte nichts mehr. Wieso passierte nichts mehr?!

»Hey, hey, hey!«

Unweigerlich zuckte sein Blick nach oben. Jimin sah ihm direkt ins Gesicht, eine Hand bereits auf Yoongis Brust.

»Alles gut, das ist normal... das kommt von der Aufregung. Ist mir auch schon oft passiert.«

»Ich...«

»Denk nicht zu viel nach. Konzentrier dich nur hier drauf.«

Jimin verließ seine Position auf seinen Schenkeln und krabbelte wieder zu ihm hoch. Den Kuss, in den er Yoongi verwickelte, startete er mit direkt mit seiner Zunge. Fast so, als wollte er all jene neu erblühte Unsicherheit aus ihm saugen und seinen Gedanken Ausdruck verleihen. Egal, was passiert – du könntest mich niemals enttäuschen.

Als Jimin seine Finger wieder in Yoongis Schritt wandern ließ, fühlte es sich anders an. Besser. Es dauerte keine Minute, bis Jimin mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck wieder von ihm ablassen konnte und beherzt nach der Packung Kondome griff.

»Soll ich das für dich machen oder willst du das lieber selbst erledigen?«

Yoongis erster Impuls war es, auf letzters zu plädieren. Als er den Mund öffnete, rollte jenes eine Wort jedoch so natürlich und selbstverständlich über seine Lippen, als hätte er nie über etwas anderes nachgedacht.

»Du.«

Jimin schenkte ihm sein liebevollstes Lächeln. Das Tütchen, das er aus dem Karton fischte, riss er mit den Zähnen auf. Der Anblick jagte ein Kribbeln durch Yoongis Körper, der sich in seinem Schritt anstaute. Es war Jimin demnach ein Leichtes, ihm das Gummi ohne Störfaktoren überzuziehen und Gleitgel darüber zu verteilen.

»Bereit?«

Yoongi nickte. »Und du?«

»Ja... aber ich brauch deine Hilfe.«

Yoongis Puls hätte als guter Beat fürs VIBE herhalten können, als er Jimin dabei half, die richtige Position zu finden. Dann, ganz vorsichtig, glitt er in ihn hinein, Zentimeter für Zentimeter. Die plötzliche Enge und Wärme überwältigte ihn mindestens genauso sehr wie Jimin das Gefühl, das er gerade empfinden musste. Sie klammerten sich dabei aneinander fest wie zwei Ertrinkende.

»Geht's?«, fragte Yoongi durch zusammengebissene Zähne. Er hätte in diesem Moment ohne Probleme dem Orgasmus nachgeben können. Vielleicht würde er dann als schnellster Schuss in die Geschichte der Menschheit eingehen.

»Alles gut... nur ungewohnt«, erwiderte Jimin mit einer undefinierbaren Grimasse. »Darf ich...?«

Yoongi biss sich auf die Zunge, als er damit begann, sich selbst zu bewegen. Er wusste, dass es besser war, wenn Jimin die Kontrolle übernahm, doch das machte es schwerer für ihn, sich zusammenzureißen. Er durfte sich nicht davon überwältigen lassen, dass der Junge, den er liebte, gerade splitterfasernackt über ihm saß. Dass er gerade Sex mit ihm hatte. Er hatte Sex... mit Park Jimin. Was zur Hölle.

»So ist's gut, glaub ich... ja...«

Yoongi entwischte ein ersticktes Keuchen, als Jimins Mund aufklappte und er den Kopf nach hinten fallen ließ. Seine Bewegungen waren rhythmischer geworden. Er griff nach Yoongis Händen, um sie an seine Hüfte zu pressen. Um ihm zu bedeuten, dass er ihn stützen, führen, ihn sogar fester an sich drücken sollte.

Yoongi musste sich ablenken, an etwas anderes denken. Andernfalls würde das hier nur dazu führen, dass er keine Minute mehr durchhielt. Er versuchte sich an Matherechnungen, doch ein Blitzgedanke zertrümmerte den guten Ansatz seines Plans. Eine Tür erschien vor seinem inneren Auge... und ein grauer Blitz flog hindurch.

Yoongis Sicht verschwamm vor seinen Augen. Was tat er hier eigentlich? Jimin hatte ihn nach Busan gebracht, um sich besser damit abfinden zu können, was er getan hatte. Was er vermasselt hatte. Bomi war weg, wahrscheinlich tot. Und er lag in einem Bett in Busan und hatte Sex.

Sein Mund klappte auf. Er wollte etwas sagen, vielleicht »Stopp« oder sowas, aber kein Wort kam über seine Lippen. Nein, es durfte nicht passieren. Nicht jetzt. Nicht schon wieder.

Jimins Blick verhakte sich mit seinem. Yoongi wusste nicht, ob er verstand, was gerade in ihm vorging oder ob er einfach nur dachte, der Ausdruck in seinem Gesicht wäre eigentlich positiver Natur. Doch er verlangsamte seine Bewegungen sofort. Hob sein Becken, um Yoongi wieder aus sich gleiten zu lassen und beugte sich zu ihm. Ehe der Ältere sich versah, hatte er ihn in einer festen Umarmung vergraben.

»Ist okay...«, murmelte Jimin ihm immer wieder ins Ohr. »Lass davon ab. Das, was hier passiert, ist vollkommen okay. Konzentrier dich auf mich, ja?«

Yoongi nickte und atmete tief durch. Komischerweise hätte er Jimin in diesem Moment alles geglaubt. Er gab ihm die Kraft, die Umarmung wieder aufzulösen und Jimin in eine neue Position zu bringen. Alles, was er sah, waren haselnussbraune Augen, Lippen wie Kirschblüten und Haare orange wie der Sonnenaufgang, umgeben in schneeweiße Wolkenkissen. Er schwebte über ihm wie der Mond, dem es erlaubt war, noch in den Tag hinein zu wandeln. Der für einige Zeit das Privileg besaß, gemeinsam mit der Sonne am Himmel zu stehen.

Jimin ließ seine Hand kontinuierlich an Yoongis Wange liegen, als dieser da weitermachte, wo sie aufgehört hatten. Mit jedem Stoß klappte sein Mund ein wenig weiter auf, doch er ließ niemals los. Weder mit seiner Hand noch mit seinen Augen. Erst, als ihn Minuten später der Orgasmus überrollte, fielen seine Lider zu und seine Finger krallten haltsuchend in Yoongis Nacken. Er hatte noch nie realer ausgesehen. Und nie schöner.

Yoongi wollte den Anblick in seine Netzhaut brennen, dass er ihn nie vergessen würde. Es gelang ihm für geschlagene drei Sekunden, bis er es nicht mehr aushielt. Er kam so heftig und langatmig in Jimin, dass sein ganzer Körper zuckte und Sterne vor seinen geschlossenen Augen tanzten. Es überwältigte Yoongi so sehr, dass er einfach auf seiner Brust zusammenbrach.

»Hey, pass auf«, kicherte Jimin, immer noch ein wenig atemlos. »Du liegst mitten in der Sauerei.«

»Mir doch egal.«

»Du bist unmöglich.«

Yoongis Finger tasten sich grobmotorisch zu Jimins Hals vor, ehe er sich vorbeugte und weitere Worte mit einem Kuss erstickte. Er wollte lachen und weinen gleichzeitig. Fühlen tat er jedoch nichts als Glück. Vielleicht war Jimin wirklich sein ganz persönliches Zeichen des Universums, dass es einen Weg gab, mit dem Schmerz des Lebens zu leben. Vielleicht war er nicht nur die Inkarnation der Sonne, sondern vielmehr die von Yoongis ganz persönlichem Frieden.


~⋆☽ ❊ ☾⋆~

☽ 𝐚𝐮𝐭𝐡𝐨𝐫'𝐬 𝐧𝐨𝐭𝐞 ☾

Endlich habe ich es geschafft, das hier hochzuladen. Es ist eins meiner Lieblingskapitel, weil ich ein bisschen stolz auf die Metaphorik bin. Außerdem enthält es einen Hauch von Selbsttherapie. Jimins Kritik an Yoongi ist auch ein bisschen Kritik an mir selbst. Ich lass mein Leben zu oft von den Fehlern bestimmen, vor denen ich mich fürchte sie gemacht zu haben oder sie zu machen. Ich fürchte mich so sehr davor, dass bestimmte Fehler mein ganzes Leben bestimmen werden, dass ich dadurch eine »self fulfilling prophecy« erschaffe. 

Aber genug Mental-Health-Talk in dem Sinne... Wer meinen Post gelesen hat, weiß, dass ich es momentan nicht schaffe, mich an einen festen Upload-Rhythmus zu halten. Demnach kann ich euch nur sagen, dass das nächste Kapitel bald kommen wird. Versprochen.

Danke für euer Verständnis. Und danke auch wie sehr ihr diese Geschichte unterstützt. Ich hatte in den letzten Monaten so oft Zweifel, ob das hier wirklich etwas ist, was man lesen will, aber ihr habt mich wieder zu etwas mehr Selbstvertrauen verholfen. Die Story ist mir sehr wichtig und es bedeutet mir sehr viel, dass ihr sie lest ♡ 

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